FORVM, No. 167-168
November
1967

Kunst als zweite Welt

Die Erklärungen über Stellung und Funktion der Kunst in der Gesellschaft, wie sie von den Soziologen angeboten werden, sind so vielfältig und widerspruchsvoll, daß ein einfacher Kunstphilosoph wie ich dazu neigt, in den Formalismus als die einzig logische Basis für eine Diskussion dieses Gegenstandes zurückzufallen. Zwar erfordert dies eine neue Definition der Form, aber das erweist sich auf jeden Fall als notwendig, angesichts unseres sich ausdehnenden Wissens über die vielen Arten der Kunst in der Vergangenheit wie in unserer Zeit.

Solche Revolution der Ästhetik ist keine Konzession an äußere Einflüsse wie z.B. Sozialwissenschaft oder Technologie, sondern eine Anerkennung der Tatsache, daß eine Philosophie der Kunst, die auf den Zeugnissen der griechisch-römischen Tradition fußt, nicht ausreicht, um den ästhetischen Werten ganz anderer Traditionen — wie der orientalischen, afrikanischen, präkolumbianischen — Rechnung zu tragen; sie reicht aber auch nicht aus für jene neuen Traditionen, die teilweise durch die Entdeckung der exotischen Kunst inspiriert wurden und denen wir den allgemeinen Namen „Modernismus“ geben.

All diese verschiedenen Traditionen können natürlich mit Hinweisen auf klimatische Bedingungen, wirtschaftliche und soziale Strukturen beschrieben werden. Aber Beschreibung ist keine Erklärung. Kunst bleibt eine abgegrenzte, selbständige Größe, die oft — wie schon Marx bemerkte — in flagranter Opposition zu den Normen der wirtschaftlichen Produktion steht.

Diese Opposition kann mit hegelianischen Kategorien als „Entfremdung“ interpretiert werden. Dies ist, auf die Kunst der Vergangenheit angewandt, die Interpretation, die Herbert Marcuse bevorzugt: Literatur und Kunst sind (bewußt oder unbewußt) entstanden als Mantel für die Widersprüche einer geteilten Welt — ein Modus der Sublimierung, der die verratenen Versprechungen verhüllt. Wir wollen zunächst diese Definition der Kunst der Vergangenheit akzeptieren und nur im Vorübergehen den auf die Form gelegten Akzent betonen.

Marcuse kommt dann weiter zu einer originellen und provokanten Feststellung über die Kunst in unserer gegenwärtigen technologischen Ära: Die sich entwickelnde technologische Realität untergräbt nicht nur die traditionellen Formen, sondern die gesamte Grundlage der künstlerischen Entfremdung; sie tendiert dazu, nicht nur bestimmte Stile zu entwerten, sondern die Substanz der Kunst selbst.

Im Einklang mit der allgemeinen Tendenz unserer — wie Marcuse sie nennt — „eindimensionalen Gesellschaft“ manifestiert sich der neue Totalitarismus im Bereich der Kultur, gerade in einem harmonisierenden Pluralismus, worin die einander widersprechendsten Werke und Wahrheiten friedlich nebeneinander koexistieren.

Sogar die klassischen Werke künstlerischer Entfremdung sind sozusagen „ent-entfremdet“; sie werden dieser Gesellschaft einverleibt und zirkulieren als wesentlicher Bestandteil der Ausstattung, die den herrschenden Zustand ausschmückt und psychoanalytisch stabilisiert. Sie werden zu Reklameartikeln — sie lassen sich verkaufen, sie trösten und erregen. Indem sie als etwas anderes lebendig werden, als das, was sie waren, werden sie ihrer antagonistischen Kraft beraubt, der Entfremdung, worin gerade die Substanz ihrer Wahrheit bestand.

Ich möchte diese Analyse nicht in Frage stellen. In dem Maße, in dem Kultur für die Massen popularisiert wird muß sie notwendigerweise verwässert, kastriert, deformiert werden. Dies geschieht in dem präzisen Sinn, daß die Form, die der Künstler seinem Werk gab, zerstört wird, um den technologischen Forderungen des Mediums — Film, Radio, Fernsehen — und dem angenommenen Niveau des Publikums dieser Medien zu entsprechen. Als Folge dieses Prozesses der technologischen Rationalität wird die ganze Basis des ästhetischen Urteils subtil pervertiert und die prätechnologischen Vorstellungen verlieren ihre Kraft.

Herbert Marcuse scheint die Möglichkeit zu akzeptieren, daß die physische Transformation der Welt die Transformation menschlicher Symbole, Vorstellungen und Ideen zur Folge hat, aber er folgert daraus, daß eine technologische Kultur ihr eigenes Kommunikationsmedium haben muß. Der Kampf um dieses Medium, vielmehr der Kampf gegen seine Absorption durch die vorherrschende Eindimensionalität tritt hervor in den avantgardistischen Versuchen, eine Verfremdung zu schaffen, die die künstlerische Wahrheit wieder kommunizierbar machen soll. Da die Kunst für ihre Lebensfähigkeit einen Zustand geistigen Konflikts, d.h. der Entfremdung, verlangt, und da unsere eindimensionale Gesellschaft einen solchen Zustand nicht vorsieht, muß er künstlich geschaffen oder imaginiert werden.

Kunst in der technologischen Gesellschaft

Was den tatsächlichen Zustand der Kunst in unserer technologischen Gesellschaft betrifft, wäre es ein Fehler, ihre Charakteristika zu verallgemeinern. Abgesehen von einer künstlichen Unterscheidung zwischen bürgerlicher, „freier“ Kunst und einem reglementierten Sozialistischen Realismus (eine Einteilung, die verschwindet, sobald die Beschränkungen beseitigt werden, wie in Polen oder Jugoslawien), gibt es keine wirkliche Einheit zwischen den verschiedenen Schulen der modernen Kunst.

Der Surrealismus als Kategorie kann so sehr erweitert werden, daß er nicht nur die systematische Entfremdung einschließt, wie sie von den eigentlichen Surrealisten geübt wird: das systematische „dérèglement“ der Sinne oder, nach Bretons Definition, „die Diktatur des Gedankens ohne jede Kontrolle, ausgeübt von der Vernunft und fern aller ästhetischen und moralischen Vorurteile“ — sondern auch alle jene Verzerrungen des Bildes einer „tatsächlichen Welt“, die die expressionistische Kunst von Picasso bis Beckmann (oder um ein Beispiel zeitgenössischer Literatur anzuführen: Brecht) charakterisiert. Aber außerhalb einer solchen umfassenden Kategorie finden wir nicht nur verschiedene Beispiele von Konstruktivismus oder Neo-Plastizismus, sondern auch — ebenso deutlich — jene so weit verbreiteten Formen von „action-painting“, die insofern realistisch sind, als sie unmittelbare Empfindungen projizieren, Gesten nachvollziehen, die viel eher dynamisch als symbolisch sind — ein Überfluß nicht von Emotionen, sondern von Energien, von Muskelanstrengungen, die nur in dem Sinn Stil haben, wie ein Boxer oder Stierkämpfer Stil hat.

Was Pop Art und Op Art betrifft, so sind sie nur als sekundäre Phänomene bedeutend, als Versuche, die Kunst zu „desublimieren“ und sie dadurch auf die Ebene der eindimensionalen Gesellschaft zu bringen: Pop Art durch Zerstören der Grenzen zwischen Kunst und Massenkommunikation (Reklame und Comics); Op Art durch Zerstören der Grenzen zwischen Kunst und dem wissenschaftlichen Zeichen, das „komputerisiert“ werden kann.

Kunst als „Science Fiction“?

Wenn es das technologische Ideal ist, trotz allen vorübergehenden Differenzen in Wirtschaftspolitik und Sozialstruktur zu einer „befriedeten Existenz“, einer Gesellschaft ohne Konflikte, ohne unbefriedigte Bedürfnisse zu gelangen, dann könnte die Kunst, wie Marcuse anzudeuten scheint, sehr wohl eine neue Funktion erhalten, auch wenn sie in diesem Prozeß zerstört werden müßte. Man kann vielleicht den Prototyp einer solchen Kunst in der Science Fiction sehen.

Der Wissenschaftler, obwohl Sklave der Vernunft, ist sich der Macht der produktiven Einbildungskraft wohl bewußt. Je mehr die künstlerische Einbildungskraft zugunsten des technologischen Realismus abdankt, desto sinnreicher, genialer werden die erfinderischen Fähigkeiten. Marcuse spricht von der „obszönen Verschmelzung von Ästhetik und Realität“; was durch technologischen Fortschritt erreicht wird, ist aber nicht so sehr eine fortschrittliche Rationalisierung und sogar Realisierung des Imaginären, als vielmehr Perversion der spielerischen Phantasie, die Coleridge, indem er gewissen romantischen Philosophen in Deutschland folgt oder sie vorwegnimmt, sorgfältig von der produktiven Einbildungskraft unterscheidet.

Die spielerische Phantasie handelt, wie die Wissenschaft selbst, mit „Feststehendem und Definitivem“. Ihrer Fähigkeit, Illusion in Realität umzusetzen, sind keine Grenzen gesetzt — kaum ist der Raumflug ein phantastischer Einfall, wird er auch schon Wirklichkeit. Kunst steht dann tatsächlich im Dienste der Revolution, aber nicht so wie dies die Surrealisten wollten; die Revolution bleibt in der Sphäre der technologischen Rationalität. Die Imagination, umgeleitet durch die Wissenschaft, wird zu einer „therapeutischen Kraft“, aber die produktive Einbildungskraft schwindet gänzlich.

Kunst als Geheimnis

Marcuses Alternative ist die geplante Nutzbarmachung von Hilfsquellen zur Befriedigung der vitalen Lebensbedürfnisse durch ein Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung von Muße in freie Zeit, die Befriedigung des Existenzkampfes. Ich bekenne, daß mich dieses Ideal immer noch unbefriedigt läßt, weil der Phantasie keine vitale Rolle zugeteilt wird, es sei denn, daß sie in therapeutischer Absicht zur Befriedigung des Existenzkampfes eingesetzt wird. Aber Kunst hat mit Existenzkampf im ökonomischen Sinn des Wortes nichts zu tun, sondern eher mit dem Geheimnis der Existenz im menschlichen und metaphysischen Sinn.

Das ist der eigentliche Grund, warum keine erdenkliche Gesellschaft der Zukunft, so frei von materiellen Bedürfnissen sie auch sein mag, je ohne Kunst auskommen wird.

Obwohl man „Befriedigung“ leicht mit der traditionellen Rolle der Katharsis in der Kunst gleichsetzen kann, wurde diese niemals (weder von Aristoteles noch von sonst jemandem) als bloßes Hilfsmittel im Existenzkampf aufgefaßt, sondern, ganz im Gegenteil, immer als ein stoisches Hinnehmen des tragischen menschlichen Schicksals. Der „Kampf ums Dasein“ vollzieht sich im Geistigen: in ihrer höchsten Intensität ist Kunst nicht mit der Existenz, sondern mit dem Wesen befaßt.

Der Technologie ist es bislang nicht gelungen, den tragischen Sinn des Lebens aufzulösen; vermutlich liegt die Erreichung dieses Ziels jenseits ihrer Macht. Kunst und nicht Wissenschaft gibt dem Leben Sinn, nicht nur als Überwindung der Entfremdung (von der Natur, von der Gesellschaft, von sich selbst), sondern als Versöhnung des Menschen mit seinem Schicksal, mit dem Tod — mit dem physischen Tod, wie mit ebenso tödlicher geistiger Trägheit.

In diesem Sinne ist Kunst an eine Illusion gebunden, und die größte Illusion ist das Verlangen nach Vernunft und Klarheit, nach einer Lösung des ontologischen Mythos von der Paradoxie der Existenz. Diese Wahrheit über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft wurde von Lucien Goldmann in „The Hidden God“ vollendet ausgedrückt:

Der Mensch ist ein widerspruchsvolles Wesen, eine Mischung von Kraft und Schwäche, Größe und Armut. Er lebt in einer Welt, die, wie er selbst, aus Gegensätzen besteht, aus antagonistischen Kräften, die sich gegenseitig bekämpfen, ohne Hoffnung auf Waffenstillstand oder Sieg, aus Elementen, die komplementär sind, aber für immer unfähig, ein Ganzes zu formen. Die Größe des tragischen Menschen liegt darin, daß er diese Gegensätze und feindlichen Elemente sieht und erkennt im klaren Licht der absoluten Wahrheit und doch niemals zugibt, daß das so sein soll. Akzeptierte er sie, würde er das Paradox zerstören, seine Größe aufgeben, und er müßte auskommen mit seiner Armut und seinem Elend. Glücklicherweise bleibt der Mensch bis zu seinem Ende paradox und widersprüchlich, ‚der Mensch übersteigt unendlich den Menschen‘, und er konfrontiert die radikale und unversöhnliche Zweideutigkeit der Welt mit seinem eigenen gegensätzlichen Verlangen nach Klarheit.

Kunst als „totale Revolution“?

In seinem Buch „Soviet Marxism“ (Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, 1958) anerkennt Marcuse, daß die sowjetische Ästhetik, wenn sie die Vorstellung des „unüberwindlichen Antagonismus zwischen Essenz und Existenz“ als theoretisches Prinzip des „Formalismus“ angreift, dabei auch das Prinzip der Kunst selbst attackiert. Er gibt zu, daß die sowjetische Ästhetik, indem sie die transzendente Funktion der Kunst ausschließt, „eine Kunst möchte, die keine Kunst ist; und sie bekommt, was sie verlangt“.

Marcuses nächste Annäherung an eine positive Definition der Funktion der Kunst findet sich in einem früheren Buch, „Eros and Civilization“ (Eros und Kultur, 1956), wo er zugibt, daß Schillers Ideen über die Ästhetik eine „der weitest vorgeschrittenen Positionen des Denkens überhaupt darstellen“. Aber man muß verstehen, sagt Marcuse, daß die Befreiung von der Realität, wie sie bei Schiller ins Auge gefaßt wird, keine „innerliche“ oder bloß intellektuelle Freiheit ist, sondern Freiheit in der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, die in der Kunst „ihren Ernst verliert“ — d.h. im Bereich des Spiels — ist die unmenschliche Wirklichkeit von Wunsch und Bedürfnis und sie verliert ihren Ernst nur dann, wenn Wünsche und Bedürfnisse ohne entfremdete Arbeit befriedigt werden können. Schillers Formulierungen wären „unverantwortlicher Ästhetizismus, wäre der Bereich des Spiels nur der des Ornaments, des Luxus, der ‚Ferien‘ in einer sonst unterdrückten Welt“.

Hier ist die ästhetische Funktion als ein Grundsatz aufgestellt, der die gesamte menschliche Existenz regiert und dies nur tun kann, wenn sie „universal“ wird. Ästhetische Kultur setzt eine „totale Revolution in der Art der Wahrnehmung und des Gefühls voraus“, und solch eine Revolution wird nur möglich, wenn die Zivilisation ihre höchste physische und intellektuelle Reife erreicht hat. Unter solchen Bedingungen der „historischen Alternative“ wird der Mensch wieder zurückgeführt in die „Freiheit, zu sein, was er sein sollte“. Was er „sein sollte“, ist die Freiheit selbst: die Freiheit, zu spielen.

Ist rationale Kunst möglich?

Somit kommen wir wieder zurück auf diese einzigartige Fähigkeit: die produktive Einbildungskraft. Die letzte Entscheidung ist die zwischen Form (die weder rational noch irrational, sondern „ein Ding an sich“ ist) und dem, was die sowjetischen Theoretiker „Realismus“ nennen, der wiederum weder rational noch irrational, sondern den „Tatsachen entsprechend“ ist (aber was sind „Tatsachen“?)

Die „Befriedung“, die Marcuse als Errungenschaft der technologischen Gesellschaft ansieht, setzt „Beherrschung der Natur voraus“. — „Geschichte ist die Negation der Natur. Was nur natürlich ist, wird überwunden und wiedergeschaffen durch die Kraft der Vernunft.“ Die Natur wird nicht nur unterworfen; sie wird transzendiert und das Resultat ist (oder wird sein) eine Epoche der Freude und des Glücks. All dies ist das Resultat von bewußter Vermittlung (Wissenschaft und Technologie). Technik wird zum „Instrument für die ‚Kunst des Lebens‘. Die Funktion der Vernunft konvergiert dann mit der Funktion der Kunst. Diese wesentliche Relation weist auf die spezifische Rationalität der Kunst hin“.

Aber ist rationale Kunst möglich, jetzt oder in Zukunft? In diesem Punkt finde ich Marcuses Antwort zweideutig. Er behauptet ganz richtig, daß das „künstlerische Universum ein Universum voll Illusion, voll Schein ist“. Diese Welt der Kunst hat in der Vergangenheit die dunklen Mächte des Unbewußten, die Lösung der psychischen Konflikte repräsentiert. Kunst und Vernunft waren bisher immer alternative und sogar antagonistische Methoden, sich mit der Natur zu konfrontieren. Aber heute „verschmelzen die früher antagonistischen Bereiche auf technischen und politischen Ebenen — Zauber und Wissenschaft, Leben und Tod, Freude und Leid“.

„Die obszöne Verschmelzung von Ästhetik und Realität widerlegt jene Philosophien, welche poetische Imagination und wissenschaftliche und empirische Vernunft einander gegenüberstellen. Technologischer Fortschritt wird begleitet von einer fortschreitenden Rationalisierung und sogar Realisierung des Imaginären.“ Eine Wissenschaft der Kunst, vereinigt mit einer Wissenschaft der Psyche begreift die Prozesse der künstlerischen Schöpfung, und „die begriffene Imagination wird dann, umgelenkt, zu einer therapeutischen Kraft“.

Wenn dies das unvermeidliche Schicksal der Kunst in der eindimensionalen Gesellschaft ist, in welchem Sinn wird die Kunst überleben? Marcuse sagt eine Gesellschaft voraus, in der die produktive Einbildungskraft von jeder ästhetischen Kontrolle befreit wird. Dies ist eine Vision des Schreckens. An ihrer Stelle verlangt Marcuse eine geplante Gesellschaft, die „rational und frei sein würde in dem Ausmaß, als sie organisiert, aufrechterhalten und reproduziert würde durch ein wesentlich neues historisches Subjekt“.

Aber dieses Subjekt bleibt ein vages Konzept. Die eindimensionale Gesellschaft hat keine sichere bessere Zukunft. „Unter der konservativen Volksbasis befindet sich das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen.“ Die ökonomischen und technischen Fähigkeiten der etablierten Gesellschaft könnten stark genug sein, diesem Substrat zu widerstehen, aber nur auf Kosten der Zerstörung des Individuums: „Die zweite Periode der Barbarei kann durchaus das fortbestehende Imperium der Zivilisation selbst sein.“

Die Kunst ist in einer derartigen Situation wahrhaft unvermögend, es sei denn, sie ist das Instrument, das „die Heraufkunft eines neuen Subjektes“ gewährleistet. Dieses chiliastische Konzept „zielt auf eine Befreiung der Sinne ab, die der Zivilisation — weit davon entfernt, sie zu zerstören — eine festere Basis geben und ihre Möglichkeiten bei weitem erhöhen würde“. Aber gibt es nicht einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen irrationaler Kunst und rationaler Gesellschaft, zwischen dem paradoxen Menschen, der darauf besteht „den Menschen unbegrenzt zu überschreiten“, und dem technologischen Menschen, der die „Nutzbarmachung von Hilfsquellen zur Befriedigung der vitalen Bedürfnisse durch ein Minimum an harter Arbeit“ plant? Wenn Befriedigung und Sublimierung widersprechende Prozesse sind, was ist dann der Unterschied zwischen dem neuen Subjekt und dem alten Mythos?

Kunst als Wahrheit

Der Niedergang der Religion ist zweifellos die unvermeidliche Folge des Anwachsens von wissenschaftlichem Rationalismus, und daß dieser wissenschaftliche Fortschritt keinen äquivalenten Fortschritt des ethischen Standards mit sich zieht, wird allgemein bedauert. Aber man sieht darüber hinweg, daß dieselben Kräfte, die das Geheimnis der Heiligkeit zerstört haben, auch das Geheimnis der Schönheit vernichten — daß sie die mythenschaffende Kunst entnervt haben, die dazu dient, das Mysterium denkwürdig und bedeutsam zu machen. Burckhardt beobachtete, daß

... wir von Anfang der Zeit an Künstler und Dichter in einer feierlichen und großen Beziehung zur Religion und zur Kultur finden ... sie allein können das Mysterium der Schönheit interpretieren und ihm unvergängliche Form geben. Alles, was im Leben an uns vorüberzieht, so rasch, so seltsam und ungleich, ist hier zusammengefaßt in einer Welt von Gedichten, in Bildern und großen Bilderzyklen, in Farbe, Stein und Ton, um eine zweite Welt auf Erden zu formen. Tatsächlich können wir ... Schönheit nur durch Kunst erfahren; ohne Kunst würden wir nicht wissen, daß Schönheit existiert.

Mehr als das: wir können sagen, daß wir ohne Kunst nicht wüßten, daß Wahrheit existiert, denn Wahrheit wird nur durch das Kunstwerk sichtbar, spürbar und annehmbar gemacht.

Kunst bleibt aristokratisch

Ich will nicht behaupten, daß der Prozeß der Rationalisierung der Gesellschaft umkehrbar ist; der Geist gibt seine materiellen Eroberungen niemals auf, auch nicht um den Preis einer Weltkatastrophe. Aber es ist offensichtlich, daß der Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis noch immer begrenzt ist. Das Wesen der Welt, Ursprung und Sinn des Lebens bleiben immer noch Geheimnisse. Das bedeutet, daß die Wissenschaft in keiner Weise die symbolischen Funktionen der Kunst ersetzt.

Ferner scheinen auch unsere Ideale der Demokratie auf die Kunst nicht übertragbar. Welcher Art die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft auch sein mag, das Kunstwerk selbst ist immer die Schöpfung eines Individuums. Zwar sind Künste wie das Drama und der Tanz von Natur aus komplex, Kraft, Einzigartigkeit und Effekt entspringen auch hier der schöpferischen Intuition eines einzelnen Dramatikers oder Choreographen. Es gibt natürlich viele Beispiele wirkungsvoller Zusammenarbeit in den Künsten, aber sie bestehen immer aus getrennten, individuellen Beiträgen, die zusammengefügt sind wie die Spalten einer Orange. Desgleichen muß ich erst davon überzeugt werden, daß das Projekt eines Architekten-Teams denselben ästhetischen Wert haben kann, wie das Werk eines einzigen Architekten. Sentimentale Mediävalisten pflegten zu behaupten, daß die gotische Kathedrale eine gemeinschaftliche Schöpfung war, aber das heißt Ausführung und Entwurf verwechseln; alles Bedeutende und Originelle war einziger Ausdruck einer einzigen Erfahrung.

Daraus folgt, daß die Werte der Kunst im wesentlichen aristokratisch sind. Sie werden nicht durch ein allgemeines Niveau der ästhetischen Sensibilität bestimmt, sondern durch die beste ästhetische Sensibilität, die zu einer bestimmten Zeit verfügbar ist. Kunstgeschichte ist die Kurve zwischen den Punkten, die das Erscheinen großer Künstler markiert.

Es ist ein Nachteil für die Kunst, daß eine demokratische Gesellschaft Vorstellungen von Größe hat, die nicht unbedingt mit dieser Definition der Kunst übereinstimmen. Ich denke hier nicht so sehr an Kriegshelden, Sportidole oder Spitzenpolitiker; diese nicht-ästhetischen Kategorien bleiben zu allen Zeiten gleich. Aber im Bereich der Kunst war die moderne Demokratie total unfähig, zwischen Genie und Talent zu unterscheiden. Technischer Fortschritt und angeborener Neid haben zusammengewirkt, um den typischen „berühmten Mann“ unserer Zeit zu produzieren. Ob als Journalist oder Fernseh-„Persönlichkeit“ erscheint dieser Usurpator vor einem millionenköpfigen Publikum, dessen Meinungen und Vorurteile er vorwegnimmt. Indem die Leute ihre eigenen abgedroschenen Gedanken und triebhaften Urteile durch einen redegewandten Faxenmacher ausgedrückt sehen — wirklich sehen —, erhalten sie die Illusion, daß Größe demokratisch ist, und die noch größere Illusion, daß Wahrheit nicht unbequem zu sein braucht. Selbstzufriedenheit ist das höchste Ideal einer demokratischen Lebensweise, das Ideal der „Befriedung des Existenzkampfes“.

Kunst ist Kontrast, ist ewig störend, ewig revolutionär. Der Künstler ist in dem Maß seiner Größe immer mit dem Unbekannten konfrontiert, und was er aus dieser Konfrontation mitbringt, ist ein neues Symbol, eine Vision des Lebens, ein neues äußeres Bildnis der inneren Welt. Es ist für die Gesellschaft nicht wichtig, daß der Künstler bereitliegende Meinungen wiedergibt oder den verwirrten Gefühlen der Massen klaren Ausdruck verleiht: das ist die Funktion des Politikers, des Journalisten, des Demagogen. Der Künstler ist ein Anführer gegen die festgesetzte Ordnung.

Der größte Feind der Kunst ist der kollektive Geist in jeder seiner vielen Manifestationen. Der Künstler kämpft sich aus diesem Morast heraus und nach vorwärts; die Signale, die er zurücksendet, sind der Masse oft unverständlich, aber dann kommen die Philosophen und Kritiker, um seine Botschaft zu interpretieren. Auf den grundlegenden Werken eines Genies errichten wir nicht nur Gebäude der Interpretation, sondern Erweiterungen und Nachahmungen, bis die Kunst eines Individuums eine Epoche durchdringt und ihr den Namen gibt.

Diese konkreten Errungenschaften werden dann zur Basis für das, was Hegel „reflektive Kultur“ nannte. Indem er zugab, daß die eigentliche Funktion der Kunst ein „Bewußtmachen der höchsten geistigen Interessen“ ist, widersprach er seiner früheren Behauptung, daß die Kunst der Vergangenheit angehöre. Denn das „Bewußtmachen“ ist ein Prozeß der Verdinglichung, der Konkretisierung, der in der Geschichte fortlaufend da ist oder sein sollte. „Die Phantasie schafft“, wie Hegel zugibt; Kunst operiert nicht mit Gedanken, sondern „mit den eigentlichen äußeren Formen dessen, was existiert“, mit dem Rohstoff der Natur.

Hegel blieb es erspart, ein Zeitalter kennen zu lernen, das die grundlegendsten Funktionen von Phantasie, Genie und Inspiration verleugnen kann. Von welchem Blickwinkel wir das Problem der Funktion der Kunst in der technologischen Gesellschaft auch angehen: es ist offensichtlich, daß ihre eigentliche Funktion gehemmt ist durch die bloße Struktur dieser Gesellschaft.

Der Hegel’sche Widerspruch zwischen Kunst und Idee verliert seine Kraft und Bedeutung in einer Gesellschaft, die keines von beiden brauchen kann — weder die „Seele und ihre Emotionen“, noch „ein konkretes sinnliches Phänomen“, die zwei dialektischen Größen, die in einer fortschrittlichen Zivilisation zu einer Einheit verschmelzen durch die vitale Energie, die das Leben selbst in seiner schöpferischen Evolution ist. Eine Zivilisation, der diese vitale Energie fehlt, ist dazu verurteilt, niederzugehen und zu verfallen.

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