FORVM, No. 347/348
Dezember
1982

Leben von unten statt Frieden von oben

„Ach”, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.” — „Du mußt nur die Laufrichtung ändern”, sagte die Katze und fraß sie.

Franz Kafka

Der Tod hat, gemessen an früheren Zeiten, Farbe und Konturen verloren. Man hat den einst allgegenwärtigen Knochenmann, der fortwährend über die Schulter schaute und ständig spürbar auf den Fersen war, samt Stundenglas und Sense in die Wüste geschickt. Heute vertrauen die Leute, wenigstens in unseren Breiten, auf ihre statistische Unsterblichkeit. Das relativ offene Zeitbudget bis um die siebzig verspricht eine schier unendliche Fülle von Möglichkeiten, wo der Tod nicht vorkommt.

Ein schönes Leben: Der Tod, zurechtgestutzt und kleingemacht, zusammengeschrumpft auf seine bloße empirische Faktizität im Auslauf des biologischen Prozesses, von Jedermann fast schon als Anachronismus empfunden, falls er mal aus der Reihe tanzen und zu früh klopfen sollte.

Ein schönes Leben? Zweifellos, wenn tatsächlich der Tod nichts anderes mehr wäre, als die weit hinausgeschobene technische Grenze eines Lebens in Freiheit.

Gegen den Tod wurde sicher jede Menge Siege errungen — ohne jedoch das Leben in gleicher Weise zu befreien. Davon haben wir auszugehen: wir dürfen ein langes Leben erwarten, nicht aber, daß es uns damit auch schon gehört.

Wenn aber das Leben nicht unseres ist, dann ist es nur ein zugestandenes, welches jederzeit auch wieder genommen werden kann. Keine Herrschaft ohne Todesdrohung.

Jener Begriff der Todesdrohung, mit dem wir heute umgehen müssen, ergibt sich aus einer historisch neuen Konstellation von Leben und Tod: der Tod ist nicht mehr nur die negative Kehrseite des Lebens, das kontrapunktische Gegenüber, sondern wird tendenziell mit ihm identisch.

Michel Foucault hat darauf hingewiesen, daß in dem Maße, wie sich — etwa seit dem 18. Jahrhundert — der konkrete (empirische) Tod als ständiger Begleiter des Menschen aus dessen Alltag zurückzieht, sich auch der Ansatzpunkt der herrschenden Disziplinarmächte ändert; daß die Macht des Schwertes, die sich dereinst mit der Kopf-ab-Drohung Respekt zu schaffen suchte, längst durch die „Macht der Norm“ ersetzt ist, daß es also nicht mehr darum geht,

auf dem Feld der Souveränität den Tod auszuspielen, sondern das Lebensende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren. [1]

Frage ist allerdings, was Foucault unter „Norm“ versteht. So wie es heute aussieht, gibt es weniger denn je einen sinnstiftenden Mittelpunkt, auf den sich die Gesellschaftsmitglieder in ihrem Handeln beziehen. Die Macht der Norm findet nicht im imponierenden Gebäude substantieller Wertbestimmungen ihren Ausdruck, sondern vielmehr in den Strukturen des Überlebens.

Die Norm wäre das Leben in einem vorgegebenen Ordnungsmuster mit auswechselbarem Inhalt. Das normierte Leben bestimmt seine Grenzen über den Tod; Grenzüberschreitungen waren immer Kennzeichnungen des Lebendigen. Früher hat man die Überschreitungen geahndet, heute das Lebendige selbst. Alles Leben beinhaltet, gemessen am herrschenden Ordnungsbegriff, potentielle Unordnung und ist dadurch prinzipiell verdächtig; dem kann es nur aus dem Weg gehen, indem es sich möglichst wenig bewegt, sich selbst tot macht. Das führt dazu, daß sich Tod und Leben in den Erscheinungsformen und sogar in ihrem Wesen einander annähern.

Die Ebene des Überlebens wäre dann nichts anderes als der Balanceakt zwischen Leben und Tod; tatsächlich: nicht genug zum Leben und zuviel zum Sterben. Es liegt im Interesse der modernen Ordnungsmächte, die Menschen genau in dieser Mittellage zu halten.

Wer in der Situation ist, die Erlaubnis zum bloßen Dasein immer wieder von außerhalb seiner selbst holen zu müssen, erliegt über kurz oder lang der Reduktion des Lebens aufs Überleben.

Offensichtlich ist eine Voraussetzung für das Leben in der Norm die Bereitschaft, noch mehr die Fähigkeit, sich tot zu machen, d.h. sich nicht länger durch Vertrauen in ungeregelte Prozesse, sondern von der Fixierung auf ordentliche Resultate und Rezepte leiten zu lassen.

Pest & Lepra

Die Ordnungsmächte der neueren Geschichte setzen Disziplin durch, weniger, daß sie mit dem Tod offen drohen, eher insoweit sie Leben treibhausmäßig sichern. Das nimmt seinen Anfang mit dem Ausgang des Mittelalters.

So hat der spätmittelalterliche Kampf ums Überleben angesichts von Bedrohungen wie Pest und Lepra Spuren bis in unsere Tage hinterlassen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von zwei Grundmodellen der Disziplin und der Ausschließung, die in ihrem Ursprung und in interner Logik auf die alten Abwehrkämpfe gegen Pest und Lepra zurückzuführen seien und diese zum Vorbild gehabt hätten.

Er rekonstruiert, wie etwa aus den städtischen Maßnahmen gegen die Pest allmählich ein verallgemeinerungsfähiges „kompaktes Modell einer Disziplinierungsanlage“ entwickelt wurde. Mit Hilfe ausgeklügelter Parzellierungen des gesamten innerstädtischen Raums, seiner Viertel, Straßen, Plätze, Häuser und Wohnungen, suchte man der Gefahr von Ansteckungen zu begegnen. Ein lückenloses, hierarchisch organisiertes Überwachungs- und Registrierungssystem sollte gewährleisten, daß in einem „Netz von undurchlässigen Zellen“ auch wirklich alle auf ihren Plätzen bleiben, um „gefährliche Vermischungen“ von vornherein zu verhindern.

Die Lepra hingegen verlangte nach einer anderen Antwort: radikale Ausgliederung der Betroffenen, ihre Aussetzung und Verbannung an einen Ort, von dem nicht weniger gefordert wurde, als daß er außerhalb der Welt der Nichtbetroffenen liege. Es lohnte nicht, ihn einer internen Differenzierung zu würdigen.

Im Fall der Pest durften sich die potentiell Gefährdeten nicht zu nahe kommen, sich nicht vermischen, deshalb die Prophylaxe der „individualisierenden Aufteilungen“. Bei der Lepra interessierte niemanden, wie die Erkrankten miteinander umgingen, wichtig war nur, daß sie sicher verwahrt waren und nicht zurückkommen konnten; deshalb ihre Abwehr durch „massive und zweiteilige Grenzziehung“: ihr dort draußen, wir hier drinnen.

Die große Einsperrung auf der einen Seite und die gute Abrichtung auf der anderen; die Aussetzung der Lepra und die Aufgliederung der Pest; die Stigmatisierung des Aussatzes und die Analyse der Pest; die Verbannung der Lepra und die Bannung der Pest — das sind nicht dieselben politischen Träume. Einmal ist es der Traum von der reinen Gemeinschaft, das andere Mal der Traum von einer disziplinierten Gesellschaft. Es handelt sich um zwei Methoden, Macht über die Menschen auszuüben, ihre Beziehungen zu kontrollieren, ihre gefährlichen Vermischungen zu entflechten. [2]

Das Eigentümliche der historischen Reaktion auf die Bedrohungen durch Pest und Lepra anerkennt Foucault im Weiterleben der ihr innewohnenden strukturellen Intelligenz. Dieselben Techniken, die ehedem der Bekämpfung des Todes dienten, finden heute in der Ruhigstellung des Lebens ihre Verwendung: zur schleichenden Enteignung menschlicher Fähigkeiten.

Hier spielen von jeher die Erziehungsinstitutionen eine hervorragende Rolle. Zum Beispiel die Schule. Die lebendige Aneignung der einen Welt wird ersetzt durch ein in Unterrichtsfächer aufgespaltenes Weltverständnis. Das ritualisierte Lernen ist dabei selbst von tödlicher Wirkung, denn das Ritual bedeutet — psychodynamisch gesehen — die Isolierung von Zusammengehörigem: das ist z.B. die scheibchenweise Untergliederung von Kindheit in Altersklassen, die hermetische Abtrennung des einen Raums vom anderen, die Parallelisierung von biographischer Lernzeit. Die Schule ist ein Trainingscamp fürs Überleben. Das Leben selbst bleibt draußen vor der Tür oder unter der Bank. Konkurrenz- und Selektionsmechanismen produzieren Zombies: die Gesellschaft der lebenden Toten.

Daß dieses Konzept nicht völlig aufgeht, beweisen u.a. die Disziplinschwierigkeiten in der Schule. Das noch nicht kolonisierte Lebendige rebelliert und muß in Schach gehalten werden. Denen, die noch am Leben festhalten, tritt dann die Institution in der Maske des drohenden Todes gegenüber.

Das Modell Lepra der Disziplin besteht in der Ausgrenzung von Teilpopulationen (Schüler/Kranke/Soldaten usw.); das Modell Pest bedeutet die Untergliederung der ausgegrenzten Bezirke in überschaubare Teileinheiten (Räume/Zeiten/Ränge usw).

Krebs & Atom

Ein gesellschaftliches Kontroll- und Überwachungssystem, das nur über entsprechende Institutionen funktionierte, wäre allerdings zu lückenhaft. Es mußten neue disziplinäre Technologien hinzukommen, um den Zugriff der Macht auf den Einzelnen auch über die Institutionen hinaus zu sichern. Wir möchten an dieser Stelle nur zwei benennen: das Modell Krebs und das Modell Atomtod.

Die offizielle Abwehr der beiden Gefahren ist zugleich Praxis der Einschüchterung: Memento mori! Der Anspruch auf absolute Kontrolle hat dazu geführt, daß es absolute Bedrohungen gibt, die in ihrer Unvorstellbarkeit wieder den Rang von unzähmbaren Naturgewalten einnehmen. Ansatzpunkt ist wie eh und je der Körper, der die absolute Krankheit potentiell vom ersten Tag an in sich trägt bzw. jeden Augenblick der totalen Vernichtung anheim fallen kann. Man kann nicht einmal mehr beweisen, daß man gesund ist, sondern man muß mit der Krankheit und der möglichen Katastrophe leben. Alle Kräfte gelten dem Überleben. Nicht der Tod direkt bedroht, es ist das unkontrolliert wuchernde Leben selbst — Krebszellen und Kernreaktionen — aus dem der Tod hervorgeht und das sich besetzt hält.

Primär ist auch nicht mehr die Bewältigung der in diesem Zusammenhang möglichen Probleme, sondern die Vorsorge für den Fall ihres Eintreffens. Krebs und Atomtod werden nicht mehr als außerhalb der menschlichen Existenz verortbare Größen gesehen, sondern im Gegenteil: als quasi Naturkonstanten, denen die Menschen ausgeliefert sind, einem gewalttätigen Tod von der Wiege an. Um diesem drohenden Schicksal zu entkommen, wird der Einzelne auf Dauerbetreuung verwiesen. Er soll seine ganze Hoffnung auf die Kunst der Experten setzen, der Versicherungsspezialisten, die Erfahrung mit den letzten Dingen vorgeben; wer ihnen nicht vorab vertraut, so lautet die Devise, riskiert Tod und Vernichtung aus eigener Dummheit.

Lebensexperten

Die Welt wird geteilt in solche, die was vom Leben verstehen, und solche, die nichts davon verstehen, daher immer von irgendwem angeleitet werden müssen. Die Experten haben die Macht, „Leben zu machen oder in den (sozialen) Tod zu stoßen.“

Leben ist für die meisten nicht mehr denkbar ohne Experten, die sich auch genau aus diesem Grund von Fachleuten mit beratender Funktion längst zu Stellvertretern des Lebens entwickelt haben. Bevor ich über die eigenen Fähigkeiten alltäglicher Konfliktregelung überhaupt nur 5 Minuten nachdenke, bin ich schon beim Rechtsanwalt. Bevor ich überhaupt selbst zu Wort komme, ist mir schon irgendein drittklassiger Hintertreppenpsychologe auf der Zunge.

Das Prinzip einer vom Tod bedrohten Gesellschaft ist das der Stellvertretung. Dieses Prinzip besagt nichts anderes, als daß der Entwurf und der praktische Vollzug von Leben der Vormundschaft von „Lebensexperten“ vorbehalten ist, die, durch Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, sich einen schier uneinholbaren Vorsprung und ihrer Expertenschaft Legitimation verschaffen. Das Funktionieren der Stellvertreterdoktrin setzt voraus, daß es immer jemanden gibt, von dem ich annehme, daß er mehr vom Leben versteht als ich: der Lehrer im Hinblick aufs Lernen; der Arzt bezüglich der Gesundheit; Pfarrer und Psychiater hinsichtlich der Psychohygiene; der Politiker, was die Interessensvertretung betrifft; Militär, Polizei und Gerichte in Sachen Konfliktregelung; der Kapitalist, die Organisation der Arbeit betreffend; und last not least die Kulturindustrie, die in Cinemascope und Stereo besser hoffen, wünschen und träumen kann, als ich in meinen kühnsten Träumen.

Dracula gründet seine Existenz nicht zuletzt an der Lust seiner Opfer an der Unterwerfung; die, die er anzapft, werden für immer von ihm abhängig. Opferdasein sowie potentielle Täterschaft bedingen sich wechselseitig. In ähnlicher Weise funktioniert die Expertenherrschaft: die ihrer Fähigkeiten enteigneten Menschen können sich schließlich ein Leben ohne professionelle Besserwisser nicht mehr vorstellen. Die Kraft und die Macht der Experten setzt unmittelbar am Eigeninteresse der Bevormundeten an: wo immer Probleme auftauchen, wird der Ruf nach dem Erlöser laut.

Die Stellvertreterdoktrin geht von der Vorstellung aus, daß die Menschen nicht fähig sind zu Autonomie, zu Selbstbestimmung. Der autoritäre Kern dieser Doktrin besteht darin, daß individuelle Freiheit wohl möglich ist, aber nie anders als unter Anleitung und Führung. Die Kulturhelden, unter allen Namen und Masken, verkünden jenen, die in ein durchschnittliches (Über-)Leben gezwungen sind, immer dasselbe: Die Verwirklichung der Träume ist möglich, jedoch nicht für alle. Der Held zeigt als Experte des Kampfes, daß niemand ihm folgen kann; er lebt und konstituiert sich durch die Distanz zur Masse: hier setzt seine Funktion für die Macht ein.

Held & Idole

Der Held als bourgeoise Erfindung pervertiert die Idee der Freiheit, denn er sagt: Es lohnt sich für euch nicht, weil ihr’s nicht könnt, weil ihr keine Chance habt, es zu schaffen. Die Ausnahmeerscheinung des Helden bestärkt die reale Ohnmacht der Masse und zugleich die Macht der Illusion von Emanzipation durch den Vereinzelten. Seine Botschaft enthält das Interesse, den Durchschnitt zu beruhigen, den Durchschnitt im Durchschnitt zu belassen. Durch die Personalisierung der Idee im Helden wird die Masse der Möglichkeit beraubt, die Idee für alle an der Wirklichkeit zu überprüfen. Dennoch: Die Autonomie des Helden ist begrenzt. Der Heros des affirmativen Kulturbetriebs wird immer da ausgeblendet, wo er das Erreichte um die Klippen des Alltags schiffen bzw. das Erreichte wieder in Frage stellen müßte, weil sich die Zeiten geändert haben oder weil sich seine Handlungen als Irrtum erwiesen. Er bleibt nur Held durch die dauernde Konfrontation mit dem fiktiven Äußersten. Er muß immer wieder dasselbe „Große“ tun und unterliegt so dem Wiederholungszwang, transportiert insgeheim die Idee vom Todestrieb, weil er der realen Bearbeitung von Fragen des Lebens für das Leben zu entsagen hat; dadurch steht er außerhalb jeder wirklichen eigenen Entwicklung. Geschichte als Verbindung zwischen dem außerordentlichen Einzelnen einerseits und den Massen andererseits wird gekappt. Die Geschichtslosigkeit des Helden nimmt den unterworfenen Massen das Bewußtsein ihrer eigenen geschichtlichen Potenz. Insoweit ist der Held ein Propagandist der Ideologie des Todes. Egal, was er erreicht, seine Erlösung besteht am Ende im Tod, im Schnitt. Der Schnitt erlöst das Publikum von der Gegenwart derer, die „besser“ sind als es selbst. Gleichzeitig setzt sich die Drohung in den Köpfen fest, daß jeder, der sich erhebt, gleichgültig, ob er dabei zu Tode kommt oder weiterexistiert, Gefahr läuft, vom wirklichen Leben abgeschnitten zu werden.

Der Tod des Gottessohnes, der Tod des Unbekannten Soldaten, der Tod des Philosophenkönigs, der Tod des Kinohelden: sie sterben alle für die Idee des freien Lebens und sind trotzdem Todesboten der Macht.

Sokrates, indem er die Zumutung des Schierlingsbechers akzeptiert, „begrüßt den Tod als den Anfang des wahren Lebens“. [3]

Eine politische Forderung, die sich mit dem Tod des antiken Vordenkers verbinden ließe, bestünde darin, den Anspruch der Wahrheit der Philosophie im Kampf gegen politische Unwahrheit ins Leben zu holen und zu demokratisieren: wer nämlich in der Wahrheit lebt, d.h., wahrhaftig lebt, braucht nicht die Befreiung durch den Tod. Das gilt im Grunde auch für die Botschaft vom Erlösertod Jesu Christi. Die Hoffnungen, die wir mit dieser Botschaft verbinden, sind Ausdruck unserer Unfähigkeit, mit unseren „Sünden“ selbst fertigzuwerden. Sobald wir damit anfangen, ihre Bearbeitung in Eigenregie zu übernehmen, wird der durch das Sterben Jesu Christi gewiesene Weg eines erfüllten Lebens im Jenseits belanglos. [4]

Im „aristokratischen“ Typus des Helden, der auf historische Ausnahmeerscheinungen zurückgeht, wird das Scheitern im Kampf gegen die unzureichenden Bedingungen des Lebens zum Erfolg verklärt und der Anspruch aller auf ein besseres Leben ins Jenseits verwiesen. Ideologisch gesehen, erfüllt er eine zweifache Funktion: als personifizierte Zielscheibe kollektiven Veränderungswillens absorbiert er Rebellion und verrät zugleich den revolutionären Zuschnitt der Botschaft von der Wiedergeburt des Menschen, indem er den aufgezwungenen Tod als Tor zu der einen Wahrheit anerkennt.

Da die Macht heute eher am Leben als am Tod ansetzt, ist zu erwarten, daß der Tod des Helden, respektive der Heldentod ideologisch verschoben wird. Es scheint nicht länger von Interesse, wer für eine große Sache stirbt und damit eventuell Zeichen für eine andere, bessere Zukunft setzt, sondern wer sich mit der Gegenwart irgendwie so arrangiert, daß er überlebt.

Kinotod

Solche Zeiten brauchen keine Helden, sondern Überlebenskünstler. Die Helden des Todes haben sich in die fiktive Welt des Kinos zurückgezogen. Die alten Heldenbilder dienen nur noch als serielle Versatzstücke, um das Idol zu kreieren. Helden gibt es noch, wo Idole dahinterstehen: „Steve McQueen ist Bullitt“. Das Idol ist unverzichtbarer Bestandteil der Propaganda vom unvergänglichen Leben.

Der Star der Traumfabrik schafft die Verbindung des scheinbar Unvereinbaren: er stirbt tausend Tode (als Held) und lebt dennoch ewig (als Idol, ewiges Verwertungsmuster der Kulturindustrie). Das Idol ist die Inkarnation des ewigen Lebens ohne den Ballast der Geschichte. Das Idol ist immer zweierlei: Held ohne Risiko und Privatmensch wie du und ich. Indem das Idol auf der Privatebene Identifikationen zuläßt, ja, dazu einlädt, entsteht die Illusion des Indernäheseins. Die Unterscheidung von Held und Idol entspricht jener zwischen Hereinnahme und Ausgrenzung des Todes: In der nächsten Szene wird Bogart vielleicht erschossen, und ich weiß doch, daß er immer derselbe bleibt. Das Idol als heldische Figur kann weder leben noch sterben; denn das Leben erscheint reduziert aufs Image, der Tod schrumpft auf ein paar Meter Zelluloid.

Der Aufstieg des Idols geht einher mit dem Abstieg des Helden. Spätestens seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat der Typ des Helden, der mit seinem Tod (an der Front) dem Leben (zu Hause) einen Sinn gab, an Attraktion verloren. Die Autonomie des Helden vom Schlage eines Prinz Eisenherz wurde zwangsläufig, was sie immer war, Fiktion. Was bedeutet die Macht des männlichen Körpers als Transportmittel des Herrschaftswillens angesichts der Gewalt der technischen Apparate? Der moderne Massenvernichtungskrieg hat den Tod des Helden zum Heldentod für alle demokratisiert und damit den Helden überflüssig gemacht. Die fundamentale Kränkung der Heldenideologie fand im mörderischen Stellungskrieg vor Verdun statt. Die Grabreihen der Gefallenen bis zum Horizont demonstrieren nachträglich, daß der Tod auf dem Schlachtfeld ein Meister der Entindividualisierung ist. Die Gräber, Nummer an Nummer, konfrontieren die Idee vom heroischen Tod mit der Wirklichkeit der Strichmännchen.

Mit dem Grabmal des Unbekannten Soldaten soll diese Wahrheit durch die Hintertür rückgängig gemacht werden. Einer wird aus der Masse der Getöteten herausgenommen und, indem man ihn allein bettet, stellvertretend für alle reindividualisiert. Im Zeitalter des Individualgrabes soll den Menschen damit die Angst genommen werden, en masse verscharrt zu werden. Die nationale Gedenkstätte fungiert als kollektive Angstabwehr und zugleich als Rechtfertigung des Massentodes.

F.d.G.O.

Die triumphale Einschüchterungsarchitektur verkündet dann posthum das Motto einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung: Befreit vom Leben, gleicher Tod für alle und im Grunde geordnet.

Der Held ist tot; was ihn in der Erinnerung liebenswert erscheinen läßt, ist sein heroisches Aufbegehren gegen die Zumutung der Macht, der Macht des Bösen, der Macht des Schicksals, der Macht des Kapitals. Der mit ihm verbundenen Hoffnungen haben sich mittlerweile die Experten für geregelten Lebensvollzug bemächtigt. Sie stehen nicht mehr gegen die Macht, sondern auf deren Seite, solange ihre Arbeit bevormundet, statt sich tendenziell überflüssig zu machen.

An dieser Stelle setzten denn auch die modernen Abwehrkämpfe der politischen Gegenmächte ein. Sie sind der Versuch, jene Doktrin der Stellvertretung, die den gesamten Gesellschaftskörper strukturiert, auf allen Ebenen zu durchbrechen: im Rahmen der Frauenbewegung gegen patriarchalische Herrschaft; in den Bürgerinitiativen gegen die Monopolisierung der Interessensvertretung durch die Parteiapparate; als Öko-Bewegung gegen die Überplanung der Natur durch den kapitalistischen Wachstumsbegriff; aber auch im Aufstand der Provinz gegen Paris oder im Befreiungsversuch der polnischen Arbeiter aus dem Haltegriff der Partei.

Seit geraumer Zeit scheint es allerdings, daß die verschiedenen Ansätze alternativen Lebens unter eine ganz neue Art von Legitimationsdruck geraten; etwa nach dem Motto: „Wieso macht ihr hier noch den Hokuspokus mit eurer Landkommune, wenn doch der atomare Untergang des Abendlandes vor der Tür steht?“ (nicht etwa von Rechtsaußen, sondern von gutmeinenden Linken).

Wir befürchten, daß durch die Fixierung auf eine äußere Bedrohung — ob sie nun real oder vermeintlich existiert — die eigentliche Stärke der Linken, die Vielfalt ihrer auf Selbstbestimmung gerichteten Praxisfelder, in einen Sog der Vereinheitlichung gerät.

Die neubelebte Botschaft vom Tod als dem großen Gleichmacher appelliert an die uneingeschränkte Bereitwilligkeit zur „konzertierten Aktion“. Alle sind aufgefordert, im gleichen Boot zu rudern.

Sobald nämlich das Motiv der Katastrophenabwehr beherrschend wird, setzen sich traditionsgemäß die Spielregeln der Herrschenden durch. Angesichts der propagierten Todesgefahr werden alle Unterschiede und Nuancen des gesellschaftlichen Lebens eingeebnet— bis womöglich der Eine ruft: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“

Die selbsternannten Bearbeiter „welthistorischer Sachzwänge“ lassen im Augenblick nichts unversucht, all das als unentschuldbaren Luxus zu diffamieren, was über das pure Überleben hinausgeht, an dem wir ja schließlich alle unterschiedslos Interesse haben sollten.

Die Logik der Macht operiert mit der Zwangsalternative des Entweder/Oder: Reaktoren und Raketen werden als Elemente der Überlebenssicherung verkauft und sollen uns deshalb auch lieb und teuer sein; demgegenüber sei es nur recht und billig, wenn im Innern Friede herrscht und der soziale Kostenfaktor gering bleibt. Wer sich dieser Logik, die scheinbar beim Eigeninteresse der Betroffenen anknüpft, nicht fügt, muß sich den Vorwurf des Gemeinwohlschänders gefallen lassen.

Durch die Verabsolutierung der vermeintlichen Drohung von außen nimmt der Druck nach innen zu. Der angeblich von allen Seiten drohende Tod wird zum Vorwand, die Gesellschaft zwecks Gefahrenabwehr aufs Neue autoritär zu formieren. Indem die Angst vorm Krieg wieder als Mittelpunkt allen Lebens fungiert, werden sämtliche Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit zu gleichgeschalteten Instanzen des bloßen Überlebens degradiert.

Nun ist aber nicht einzusehen, daß Überleben schon ein Wert „an sich“ sei, zumal nicht für jene, die bereits eine kollektive Ahnung von dem, was Leben eigentlich sein könnte, entwickelt haben, und die sich mit Fug und Recht wehren, wenn eine notwendige Bedingung des Lebens nolens volens zu einer hinreichenden erklärt wird. Wir wollen mehr zeigen, als daß der Mensch nur fähig sei, von einer Katastrophe zur nächsten fortzuwursteln.

Atomtod?

Dagegen sind wir sowieso. Das heißt aber noch lange nicht, daß wir für jede Art von Frieden sind. Es gibt ein Verständnis von Frieden, welches sich aus der Vorstellung von Friedhofsruhe ableitet. Heute spricht einiges dafür, daß dieser Friede von oben, der eine Identität von Leben und Kontrolle herstellen soll, nicht mehr so einfach durchzusetzen ist, wie noch zu Kaiser Wilhelms und zu Adenauers Zeiten. Die verordnete Ruhe ist konfrontiert mit dem unruhigen Leben von unten.

Beide Seiten wollen Frieden, da sie aber in der Auffassung vom Leben total auseinanderliegen, muß zwangsläufig auch der Friedensbegriff ein anderer sein.

Welche Art von Frieden die Staatsmacht meint, läßt sich daran überprüfen, wie sie mit ihren Kritikern und Alternativen im Innern verfährt. Mit der Begründung, daß uns der eine Tod drohe, vor dem wir alle gleich seien, sollen wir gezwungen werden, zu vergessen, was uns im Leben unterscheidet. Die offizielle Politik der „Friedenssicherung“ stellt in Rechnung, daß alle das eine eingeschränkte Leben führen sollen. Nach außen soll also verteidigt werden, was im Inneren nicht zugelassen wird.

Wenn man diesen Sachverhalt weiterdenkt, dann ist die herrschende Friedenspolitik kriegsschöpfend.

Wo der Friede selbst als tot erlebt wird, bringt am Ende das Abenteuer des Krieges die Erlösung.

[1Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Ffm 1977, S. 171

[2Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Ffm 1976, S. 255

[3Herbert Marcuse (Die Ideologie des Todes, in: Ebeling, Hans [Hg.]; Der Tod in der Moderne, Königstein 1979, S. 108) kritisiert den platonischen Sokrates als Vertreter einer idealistischen Todesauffassung. Einerseits blamiere Sokrates zwar die Staatsraison, die mehr als seinen Tod sein renitentes Leben fürchtet. Indem er seinen Tod als Befreiung vom Leben annehme, könnten ihn die Herrschenden im Grunde gar nicht umbringen; andererseits habe er diese durch seine Haltung aber auch schon entschuldigt, denn mit dem erzwungenen Tod hätten sie ihm ja erst zum wahren Leben verholfen. Sokrates provoziert die Macht, die ihn in den Tod stößt und legitimiert sie gleichzeitig. Die Rebellion verpufft, weil er im selben Moment zum Verkünder der Abwertung des wirklichen Lebens wird. Lust, Begierde und Körperlichkeit werden im Zuge der Beschwörung einer postletalen Schattenwelt verworfen. Das Fatale am Beispiel, das uns der Philosophenkönig durch sein Sterben gibt, ist, daß der Tod nicht als Determinante des Lebens überwunden wird, sondern das Leben selbst durch den Tod. Der Tod wird zur Krönung des Lebens stilisiert, weil er von einer als negativ begriffenen Existenz befreit; er wirkt als „Negation des Negativen“. Eine derartige Todesauffassung paralysiert den Willen zur Verteidigung des Lebens. Sie macht am Ende widerstandslos gegenüber der Aufforderung, zur Schlachtbank zu gehen.

[4Vielleicht erhielte damit auch die Metapher von der Wiedergeburt des Lebens eine emanzipatorische Wende in diesseitige Richtung: Sterben als Innovationsprozeß, was immer auch heißen könnte, daß gewissermaßen der eigene soziale Tod, das Abstreifen alter Rollen und Verhaltensmuster notwendige Voraussetzung für jeglichen Neuanfang ist; quod libet Aussteigen, Umsteigen, Einsteigen.

Die Hoffnung auf Wiederauferstehung bleibt — auch und gerade abseits kirchlicher Interpretation — unverzichtbar, denn sie hält jene Glücksprojektionen lebendig, mit denen wir der noch gefesselten Existenz ein Draußen, eine Alternative geben. Ein Alltag ohne Transzendenz stimmt das Bewußtsein opportunistisch.

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