FORVM, No. 132
Dezember
1964

Lenin und Schopenhauer

Zur Problematik linker Axiome

Das biographisch bezeugte Interesse Lenins an der Philosophie Schopenhauers führt auf die Spur eines Zusammenhanges zwischen den beiden so verschiedenen Denkern. Was Lenin an Schopenhauer faszinierte, war wohl die seinen eigenen Auffassungen entgegengesetzte Einstellung Schopenhauers zum Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts. Lenin erwartete sich vom gesellschaftlichen Fortschritt schlechthin alles; für Schopenhauer war die Vorstellung der Heilung aller Übel dieser Welt durch gesellschaftliche Systemänderung eine Illusion. Von dem, was für Lenin Inhalt des Lebens und Ziel des Geschichtsprozesses war: von der politischen und sozialen Revolution, erwartete sich Schopenhauer nichts Positives. Er hielt jede Revolution für schädlich, weil sie die Gefahr der Despotie heraufbeschwöre und den Hauptvorteil aller bestehenden Ordnungsgewalt, die Gewährung von Sicherheit und Autorität, zunichte mache, ohne an den wirklichen Übeln dieser Welt etwas zu ändern.

Man würde sich die Sache zu einfach machen, wenn man — wie es Karl Kautsky und Georg Lukács in durchaus marxistischer Manier versuchten — die feindselige Haltung Schopenhauers gegenüber allen Revolutionen im allgemeinen und der Revolution seiner Zeit im besonderen als bloße Reaktion eines hartgesottenen Besitzbürgers und „Rentnerphilosophen“ abtut und in ihm den raffinierten Vertreter der „indirekten Apologetik des Kapitalismus“ sieht, welcher die Nachteile der kapitalistischen Ordnung nicht leugnet, sie aber zu Bestandteilen der menschlichen Natur schlechthin erklärt und sie damit der Korrektur entziehen will.

Symbol Operngucker

Freilich spielte bei Schopenhauer das handfeste Interesse des von der Not des Daseins geschützten, die Masse verachtenden Geldmannes und Geistesaristokraten mit. Als Schopenhauer während der Revolution des Jahres 1848 einem preußischen Offizier, der in seine Frankfurter Wohnung eindrang, bereitwillig seinen Gucker lieh, damit dieser die Aufständischen besser in Sicht und ins Treffen bekäme, leistete er zweifellos Handlangerdienste, die seither dem Lesebuch des Vulgärmaterialismus als willkommene Bereicherung dienen.

Doch die Verklammerung im bürgerlichen Interesse beseitigt nicht das Interesse an der Denunzierung des Fortschritts, für die Schopenhauer mit seiner gesamten Philosophie verantwortlich zeichnet. Was Schopenhauer jenseits der Besonderheiten seines Falles repräsentativ für alles macht, was sich dem in der Französischen Revolution kulminierenden Fortschrittsglauben widersetzt, ist seine nicht bloß gelegentliche und persönliche, sondern beharrliche und systematische Frontstellung gegen Grundannahmen, die dem linken Denken seit dem genannten historischen Ereignis bare Selbstverständlichkeiten sind. Schopenhauer leugnet mit Vehemenz das gemeinsame Credo aller Philanthropen individualistischer oder kollektivistischer Spielart: die ursprüngliche Güte des Menschen, der nur durch schlechte Umwelt denaturiert sei.

Der Mensch ist nach Schopenhauer böse, weil von einem unbändigen, blinden Willen zum Leben erfüllt, von einem Willen, der sich im Egoismus manifestiert und sich im Wohlgefallen an fremdem Leid zur Grausamkeit steigert. Der Mensch ist nach Schopenhauer keineswegs vernünftig, wie die zweite Grundannahme linker Weltverbesserung lautet, vielmehr den Leidenschaften seines maßlosen Wollens ausgeliefert. Der Mensch ist weder gut noch auch vernünftig, also nicht einmal ein kluger Teufel im Sinne Kants, dessen Philosophie das „Radikal-Böse“ in der menschlichen Natur zugibt, zugleich jedoch an der aufklärerischen Maxime des „Ausganges aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ festhält. Für Schopenhauer fällt alle Hoffnung dahin, die Menschen im Wege der Erziehung mittels Rationalität zu bändigen und auf diesem Umweg sie ihrer an sich bösen Grundnatur zu entfremden.

Aus diesen beiden Grundvoraussetzungen erfließen höchst politische Konsequenzen: eine starke staatliche Gewalt, womöglich eine absolute Monarchie, ist notwendig, um das Böse im Zaum zu halten und zu verhindern, daß sich falsch verstandener Idealismus zum Schaden der Bürger und ihres garantierten Friedens auswirkt. Bei Schopenhauer finden sich viele Abweichungen vom Idealtypus des europäischen Konservativen nachrevolutionärer Prägung; man denke an seinen Atheismus, durch den er von der landläufigen religiös-kirchlichen Motivierung der konservativen Haltung absticht. Aber er ist in bestimmter Hinsicht ein besserer Vertreter rechter Grundhaltung als viele andere Denker und Politiker, die sich für solche paradigmatische Stellung anbieten; Schopenhauer bringt den in der Regel durch Konzessionen und fremde Einflüsse gemilderten Fall des Konservativen in der Überspitzung zum Vorschein. Er demonstriert am Pathologischen mit seinen Besonderheiten und Abstrichen die Problematik des Normalen.

Zutiefst davon überzeugt, daß der Mensch unvernünftig und böse, die Gesellschaft daher nur reglementierbar, nicht jedoch im wesentlichen perfektibel ist, verwirft Schopenhauer auch den Gedanken der Geschichte als einer wertrationalen Aufeinanderfolge immer höherer und gereifterer Zustände. Für ihn fällt damit ein weiterer Grundpfeiler zukunftsfroher Weltgläubigkeit. Sein metaphysischer Pessimismus schlägt unmittelbar in gesellschaftlichen Quietismus um: weil die Welt und der Wille zum Leben in ihr unrettbar im argen liegen, ist es Torheit, sich um die Erlösung der lastenden äußeren Realität zu bemühen. Die einzige Lösung und der einzige echte Schritt nach vorwärts ist bereits ein Schritt aus dem Getriebe der Welt, ist Verneinung und Aufhebung des Willens zum Leben. Der Heilige, der das Übel an der Wurzel packt und in sich überwindet, befreit sich aus dem Kerker der Realität und wird jener süßen Ruhe des Nichts teilhaftig, die der Wille zum Leben nicht zu bieten vermag.

Im übrigen gibt es auch vor Erreichung dieses seligen Zustandes endgültigen Geschiedenseins von der Welt schon Atempausen und Rastplätze für Erlösung Suchende: in der reinen Anschauung der platonischen Idee, die das Objekt aller wahren Kunst ist, löst sich der Mensch vorübergehend vom Schein der ihn bedrängenden, ja ihn in seiner unglücklichen Existenz konstituierenden Individuation. Das Anhören einer mächtigen Symphonie oder die Versenkung in ein Werk der bildenden Kunst vermögen eine Ahnung von der zeitlosen Schönheit des Ideenreiches zu vermitteln, aus dem der Mensch in die bittere Realität des allseitigen Kampfes ums Dasein geworfen wurde. Auch das Gefühl des Mitleids als das tätige Sich-Hinwegsetzen über die durch unsere Individualität gezogene Schranke vermag nach Schopenhauer in Richtung auf Erlösung zu wirken.

Erlösen kann nur, was von der Welt weg- und über sie hinausführt, nicht aber was sich in ihren tristen Grundbestand vergräbt und ihre dunklen Elemente aufwühlt. Der Pessimist Schopenhauer, der den Optimismus eines Leibniz, ja jeden Optimismus als „ruchlose Denkungsart“ und Hohn auf die Leiden dieser Welt brandmarkt, wird unversehens zum Heilsoptimisten, wenn er seinen Blick von der massa damnata der Menschheit ab- und dem strebenden Einzelnen zuwendet. Während die Menschheit und der sich in ihr verkörpernde Wille zum Leben alle Hoffnung fahren lassen müssen, darf, ja muß der Einzelne hoffen können, denn nur so hat er die Chance, sich auf Zeit und für alle Ewigkeit aus der Umgarnung durch die Schleier der Maja zu lösen.

An diesem Punkt wird der vollendete Gegensatz zu Lenin und der in Lenin ausgebildeten hybriden Form linken Denkens deutlich: Lenin hat unbegrenztes Zutrauen zur Vervollkommnungsfähigkeit und zu den Möglichkeiten der Massen, die unter Anleitung einer richtigen Theorie die Geschichte bewußt ihrem notwendigen Ziel zuführen. Gleichzeitig freilich mißtraut Lenin dem einzelnen Menschen und seiner Fähigkeit, in diesem Befreiungskampf etwas auszurichten. Die an sich erwählte Masse des Proletariats muß sich darauf beschränken, die Befehle einer Minderheit verschworener Berufsrevolutionäre auszuführen. Diese Berufsrevolutionäre wiederum sind nichts anderes als die durch höheren Bewußtheitsgrad zur Führung prädestinierten Exekutoren eines strengen historischen Mechanismus, der keinen Aufschub und Widerstand duldet.

Das Mißtrauen gegenüber dem Einzelnen verbindet sich bei Lenin und im Bolschewismus mit einer grenzenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Einzelnen. Lenin übte diese unheimliche, unmenschliche, schaurig-bewundernswerte Verständnis- und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Individuum auch gegenüber sich selbst. Er gab damit der Grausamkeit des von im kreierten Systems die Würde des Heroischen und bei aller Befremdlichkeit Großen. Seine Nachfahren kombinierten die Bedenkenlosigkeit gegenüber den anderen mit feiger Ängstlichkeit in bezug auf ihre eigene Person. Sie etablierten damit ein Herrschaftssystem permanenter und systematischer Säuberung und Unbarmherzigkeit, ein System, dem das ursprüngliche Lenin’sche Pathos abhanden gekommen ist.

Das Mitleid ist für Schopenhauer die Tugend schlechthin; Versenkung in das individuelle Leid des anderen für Lenin und den Bolschewismus höchstens ein Anlaß, den Klassenkampf um so schärfer und härter zu führen, kein Grund aber, in der Betrachtung des Einzelschicksals zu verharren und mit seiner Linderung Zeit zu verschwenden.

Auch die Erlösung durch Hingabe an die Kunst ist dem Bolschewisten verschlossen. Die offiziellen sowjetrussischen Biographien berichten, daß Lenin beim Anhören einer Beethoven’schen Symphonie Tränen der Rührung in den Augen hatte und darauf erklärte, ein Revolutionär müsse sich dieser Kunst versagen, um hart bleiben zu können. Trotzki berichtet in seinen biographischen Materialien über Lenin, daß dieser in London Westminster voll Haß als „ihr“ Westminster, als Symbol der Klassenfeinde und „ihrer“ Kultur gewertet habe; auch an diesem Beispiel wird die schroffe Ablehnung dessen deutlich, was nach Schopenhauer das Wesen der Kunst ausmacht: den Willen zum Leben aus seiner Verkrampfung zu lösen und in eine geläuterte, jenseits des Kampfes dieser Welt liegende Wirklichkeit hinüberzuführen.

Zukunft statt Menschlichkeit

Lenin und überhaupt der gesellschaftliche Perfektionismus vergessen über der Durchsetzung eines abstrakten Ideals den Menschen, aber auch alle anderen ablenkenden Einzelheiten — zugunsten der imaginierten Zukunftsgesellschaft. Der von Schopenhauer angebotene Ausweg wird zum Fluchtweg, zum revolutionsfeindlichen Luxus selbstsüchtiger Gottsucher und Weltschwärmer. Die Kunst hat bestenfalls die Aufgabe, die Willensanstrengung der Massen zu mobilisieren und ihre unablässige Aktivierung für die Fortsetzung des gesellschaftlichen Kampfes zu erleichtern. Soweit sie sich, ihrer Natur nach, für diese Aufgabe nicht eignet, wird sie ebenso bekämpft und verworfen wie alle Religion, die als große Trösterin und Vertrösterin der Menschen aus der Gesellschaft verbannt werden muß.

Der absolute Gegensatz zwischen Lenin und Schopenhauer enthüllt sich schließlich in der Einschätzung des Todes. Dieser ist für Schopenhauer die große „Zurechtweisung des Willens zum Leben“ und dementsprechend der Gegenstand intensivster Erörterung und Kontemplation. Von Lenin und den Bolschewisten wird er mit grimmigem Achselzucken registriert und nach Möglichkeit ignoriert.

Der Bolschewismus als System der menschlichen Formung bleibt auch nach Abzug des Stalinismus und nach dem möglichen Verschwinden der Geheimpolizei eine existentiell bedrohliche Zerrform menschlichen Selbstverständnisses. Er entthront die beiden entscheidenden Daseinsmächte Eros und Thanatos, so gut er dies vermag. Jedenfalls will er sie einem gesellschaftlich geprägten Ideal unterordnen. Mit Ausschaltung der Liebe und des Todes wird aber das gesellschaftliche System nicht gestärkt, sondern im Effekt geschwächt. Es bekommt die verleugneten und gewaltsam umgedeuteten existentiellen Phänomene an allen Ecken und Enden als Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten zu spüren. Das System kämpft daher, da es sich nie zur Anerkennung dieser Realitäten entschließen kann, gerade im Kernbereich der ideologischen Prägung und Überzeugung der Menschen einen aussichtslosen Kampf.

Wie immer man die weltpolitischen Auswirkungen des Bolschewismus und seine wirtschaftliche Erfolgsbilanz einschätzen mag — ein Versagen drängt sich auch dem wohlwollendsten Betrachter auf: die Unfähigkeit, das Welt- und Lebensgefühl des Bolschewismus, das dialektisch-materialistische Verständnis der Welt samt dem dazugehörigen Lebensstil innerhalb und besonders außerhalb der Sowjetunion zum Überzeugungsgut breiterer Massen zu machen.

Der Tod erweist sich als Zurechtweisung jedes politischen Systems, das ihn ignorieren zu können glaubt. Er präsentiert sich als die Schranke, die — wenn schon keine andere — dem Streben ins Grenzenlose Einhalt gebietet. Er ist nicht bloß die biologisch konstatierbare Schranke, deren Leugnung Aberwitz wäre; er wirft seine Schatten voraus, die von ihm gezogenen Schranken sind nicht mit seinem faktischen Eintritt identisch und erschöpft, sie schieben sich vielmehr ins Feld der menschlichen Existenz schlechthin vor.

Der selbstverständliche Optimismus, der im Bolschewismus übersteigerte und damit ad absurdum geführte linke Ansatz der Weltbetrachtung, geht von der Annahme aus, daß die Grenzen der Menschheit nur die Grenzen der momentan existierenden unvollkommenen gesellschaftlichen Organisation sind. Er negiert den Begriff der Tragik des menschlichen Daseins. Aber die Wirklichkeit beweist allerorten, daß auch nach Verschiebung der Grenzen von gestern menschlicher Zusammenprall und menschliche Tragik fortbestehen, wenn sie auch ihre Formen verändern. Schon ein Blick auf die von Freud im „Unbehagen in der Kultur“ genannten drei Leidensquellen der Menschen muß davon überzeugen, daß der Versuch einer Eliminierung der Tragik nur sehr teilweise erfolgreich sein kann. Selbst die organisierteste Anstrengung vermag nichts gegen die Hinfälligkeit des menschlichen Körpers, gegen Krankheit und Tod. Im Hinblick auf diese Mächte kann man sich nur durch weitgehende Ausklammerung und übertriebene Einschätzung des medizinischen Fortschritts retten.

Der unheilbar betroffene Einzelfall wird samt der zweiten von Freud genannten Leidensquelle, den Schicksalsschlägen, aus dem Gesichtskreis entfernt und alle Aufmerksamkeit auf die Verstopfung der dritten Leidensquelle, die aus den menschlichen Beziehungen fließt, konzentriert. Denn die Gestaltung der menschlichen Beziehungen unterliegt wohl in höherem Maße als die beiden anderen Bereiche einer ändernden Gestaltung, allerdings gleichfalls nicht in dem Maße, in dem es sich die Konstrukteure des gesellschaftlichen Perfektionismus erwarteten.

Die Einseitigkeiten und Überspanntheiten sowohl der naiv-optimistischen, unmetaphysisch-kritiklosen Position Lenins wie auch der Haltung Schopenhauers, die metaphysisch berechtigte Einwände gegen die naive Form des Fortschrittsglaubens zu einer Denunzierung und Abwertung jeden Fortschritts schlechthin steigert und damit gesellschaftlich ins Lager der Reaktion führt, machen die Schwierigkeit einer richtigen Verhältnisbestimmung zwischen linkem Elan und rechter Skepsis deutlich. Nach dem bisher Gesagten könnte es scheinen, als ob der linke Welt- und Gesellschaftsentwurf mit seinem Optimismus, Rationalismus, Atragismus und Fortschrittsglauben der blamierte Partner des historischen Weltprozesses wäre, da sich einige seiner fundamentalen Voraussetzungen als Kurzsichtigkeiten, Überschätzungen und Wunschdenken entpuppt haben. In Wahrheit jedoch hat Schopenhauer sowenig über Lenin triumphiert wie Lenin über Schopenhauer — einfach deshalb, weil sich beide in ihren Systemen zu viel vornahmen.

Der bei Schopenhauer vorhandene Zusammenhang zwischem metaphysischem und gesellschaftlichem Pessimismus ist sachlich ebensowenig gefordert wie der bei Lenin vorliegende Zusammenhang zwischen Bejahung des gesellschaftlichen Fortschritts und affektiver Leugnung aller metaphysischen Einschränkungen und Mentalreservationen gegenüber diesem Fortschritt. Was an beiden Systemen berechtigt ist, wird durch das starre Festhalten des einen Grundgedankens auf verschiedenen Ebenen diskreditiert und zur gesellschaftlichen Unglaubwürdigkeit verurteilt. Ein Konservativismus, der sich auf das Lamento über die unabwendbaren Leiden dieser Welt beschränkt und nur individuelle Palliative gegen sie in Anwendung bringen will, muß den berechtigten Willen zur Änderung der Verhältnisse zur Kraftprobe und damit auch zur Überbelastung herausfordern. Die gleiche Herausforderung widerfährt dem im Vollbesitz seiner metaphysischen Überzeugungen befindlichen Konservativen durch die utopischen Ansprüche des Revolutionärs.

Sowohl im System des metaphysisch engagierten Konservativismus Schopenhauer’scher oder auch katholisch-kirchlicher Prägung wie auch im System eines der Transzendenz sich verschließenden linken Perfektionismus wird der Fehler begangen, den legitimen Wunsch zur Erfüllung in einer anderen Sphäre beseitigen und das menschliche Streben auf einen Generalnenner bringen zu wollen. Der Konservativismus Schopenhauers macht den Willen zur Erlösung und zum Heil so übermächtig und allbeherrschend, daß für eine Änderung der gesellschaftlichen Ordnung gar kein Platz mehr bleibt. Umgekehrt beansprucht der linke Perfektionismus rationalistischer Prägung, dessen historischer Extremfall der Bolschewismus ist, alles Streben nach Heil und Erlösung und will es der Erbauung einer neuen Gesellschaft dienstbar machen.

Tod und Fortschritt

Es scheint bei dieser Sachlage ebenso schwierig, die richtige Mitte zwischen diesen Extremen zu halten und eine beide Wünsche zugleich befriedigende und sie in ihre Schranken weisende Lösung zu finden, wie es schwierig erscheint, Leben und Tod in richtiger Ausgewogenheit miteinander zu konfrontieren. Weder die Versenkung in den Tod unter Absehen von den Möglichkeiten des Lebens, noch das Leben, das sich gänzlich außerhalb des Todes fühlt, vermögen den Begriff sinnvoller Existenz zu konstituieren.

In Analogie hiezu muß sowohl der Todeserklärung allen gesellschaftlichen Fortschritts wie auch dem prometheischen Trotz des gesellschaftlichen Perfektionismus gegenüber den Mächten des Todes die Fähigkeit zur optimalen Steuerung der Welt abgesprochen werden.

Der Zusammenhang zwischen der Einstellung zum Fortschritt und der Einstellung zu Tod und Leben ist nicht so weit hergeholt, wie es zunächst scheinen könnte. Der Zusammenhang wird vielmehr deutlich, wenn man sich die kosmischen Weiterungen der Systeme vergegenwärtigt, die dem Streben nach Heil und besserem Leben als Wegweiser dienen wollen. Das System Schopenhauers ist eindeutige Parteinahme für die Rechte des Todes gegenüber dem Leben; das System Lenins ist eine Kampfansage an die existentiellen Folgen des biologischen Faktums Tod. Doch schon im System des marxistischen Philosophen Ernst Bloch kommt der verschwiegene Tod wieder zum Vorschein: nicht bloß in dem berühmten Kapitel des „Prinzip Hoffnung“ über den roten Helden, in welchem der Tod als heroische Perspektive des kommunistischen Märtyrers ins Auge gefaßt wird, sondern auch als kosmischer Zustand nach dem Zu-Ende-Gelangen des Weltprozesses, nach der Hegel’schen Wiedervereinigung von Subjekt und Objekt. Die klassenlose Gesellschaft als Optimum des Weltprozesses ist gewissermaßen nur der — allerdings vorläufig in den Vordergrund gestellte — vorletzte Zustand, über den hinaus es ein Reich gibt, in dem der letzte, durch alle Wünsche gehende Wunsch, der nach Ruhe, zur Befriedigung gelangt.

Die ostdeutschen Kritiker Blochs bezeichnen dessen System daher berechtigtermaßen als „Optimismus mit Trauerflor“. Die aktiv-kämpferische Hoffnungsphilosophie Blochs verliert sich im Hintergründigen eines Zustandes, den wir mangels aller Analogien in unserem Erfahrungsbereich nur als Tod qualifizieren können. Allerdings wird dieser Ausblick nicht direkt eröffnet, er wird nur angedeutet, er läßt sich erschließen, dann aber auch nicht mehr ausschließen.

Damit nähert sich Ernst Bloch zum Teil einem heute ziemlich vergessenen Philosophen, Eduard von Hartmann, welcher in seiner „Philosophie des Unbewußten“ viel ausdrücklicher auf eine ähnliche Endlösung zugeht: das Ziel des Weltprozesses ist die Welterlösung, deren Erreichung die vorhergehende Durchlebung und Zurücklassung aller Illusionen, einschließlich des Glaubens an das Glück in einer zukünftigen besseren Gesellschaft, notwendig macht. Mit anderem Gefühlsakzent und anderer Blickrichtung kommt Hartmann zum selben Ergebnis wie Bloch: der metaphysische Pessimist muß sich aktiv in den Weltprozeß einschalten und auf seiten des gesellschaftlichen Fortschritts stehen, um so den Prozeß der kollektiven Desillusionierung zu beschleunigen und die Ausweichmöglichkeiten des Erlösung suchenden Willens zum Leben auszuschalten. Um dem Tode seinen Sieg zu lassen, muß dem Leben das volle Recht gegeben werden.

Ernst Bloch wiederum, der als Anwalt des Lebens und des Optimismus auftritt, führt sein Plädoyer in großartiger Eindringlichkeit zu Ende, läßt aber dem Tod ein Schlußwort offen, das — wenn es gesprochen wird — das Plädoyer im Rückblick als Vorrede erscheinen läßt.

Auch das grundsätzlich heilsoptimistische, weil das Schicksal der Welt im gütigen und gerechten Willen Gottes bergende, christliche Weltverständnis läßt verschiedene Deutungen des Verhältnisses von Leben und Tod, von gesellschaftlichem Fortschritt und gesellschaftlicher Statik zu. Der unter dem Eindruck des Todes stehende Konservatismus neigt dazu, den Schwerpunkt der Gesellschaftstätigkeit auf jene Elemente zu verlegen, welche dem Einzelnen die individuelle Vervollkommnung und Vollendung erleichtern; ihm sind die Unauflöslichkeit der Ehe und die Respektierung kirchlicher Formen im öffentlichen Leben unter Umständen wichtiger als die Probleme der sozialen Organisation, die er gerne in den Bereich privater Unverbindlichkeit und Fürsorge abdrängt. Die Aufgabe des Menschen wird nicht so sehr darin gesehen, den Geschichtsprozeß als immanenten Heilsprozeß weiterzutreiben, als vielmehr darin, durch Erfüllung der Lebens- und Berufspflichten das individuell Gesollte zu produzieren und Gott im Laufe der irdischen Wanderschaft das zurückzugeben, was er an Gaben vorgeschossen hat.

Damit ist die Aufgabe der Weltgestaltung im wesentlichen eine bewahrende. Jede Epoche und jeder Mensch stehen im Sinne Rankes „unmittelbar zu Gott“. Sie bedürfen keiner Vermittlung durch den gesellschaftlichen Fortschritt, um sich in ihrer vollen Menschlichkeit zu präsentieren. Die Heilsgeschichte wird von Gott durch das menschliche Handeln hindurchgewirkt; sie ergibt sich, soferne der Mensch zu ihrer Vollendung beitragen kann, aus einer Summierung der in Unterordnung unter das Gesetz Gottes vollzogenen Lebensläufe.

In dieser konservativen Grundhaltung meldet sich ein berechtigter Protest gegen die der linken Weltschau eigene Neigung, menschliche Werte durch den Fortschrittsbegriff zu relativieren und sie so ihrer Eigenständigkeit, ihrer Bezogenheit auf ein metaphysisches Koordinatensystem zu berauben. Anderseits verleitet dieses vom Heilswillen überschattete Verständnis der Gesellschaftswirklichkeit zur Beharrung um jeden Preis, zum vorzeitigen Haltmachen, zur unbesehenen Anerkennung und Hinnahme von Lösungen, die weit davon entfernt sind, die bestmöglichen zu sein.

Indem sich dieser Konservativismus ängstlich gegen alle Neuerungen verschließt und sich nur von der möglichst unveränderten Erhaltung des Bestehenden auch eine Erhaltung des metaphysischen Resonanzbodens verspricht, verrät er mangelnden Mut zur Bewährung seiner Prinzipien in einer veränderten Umwelt. Dieser Mangel an Mut paßt schlecht zu seinem gläubigen Grundverständnis. Noch fragwürdiger wird dieser Konservativismus, wenn er sich unter dem Zwang der Verhältnisse als Paravent wirtschaftlicher Interessen gebrauchen läßt und im Effekt der Stabilisierung einer bestimmten Interessenlage zugute kommt.

Religiöser Sozialismus

Neigt der christliche Konservativismus zu innerweltlichem Pessimismus in bezug auf die Fortschrittsmöglichkeiten, so gießt der religiöse Sozialismus das Füllhorn des christlichen Heilsoptimismus über die Welt und löst die Weltgeschichte unter religiösem Vorzeichen in Heilsgeschichte auf. Auch er hat sich zu keiner klaren Abgrenzung und Trennung der Sphären des Gesellschaftlichen und des Heilsmäßigen, zu keiner vollen Bejahung der Gleichgewichtigkeit von Leben und Tod durchgerungen. Indem er den Heilsprozeß in Parallele zum Geschichtsprozeß setzt und das Reich Gottes entgegen den Worten Christi in der Erfüllung irdischer Hoffnungen kulminieren läßt, will auch er die Undurchdringlichkeit des Zusammenhanges zwischen den unaufhebbar verschiedenen, gleichberechtigten Abläufen der Weltzeit und der Heilszeit aufheben und auf eine durchsichtige Formel bringen. Aber der Sinn der Geschichte, der in einer solchen Verhältnisbestimmung festgehalten werden soll, ist immer nur bruchstückhaft aufhellbar. Auch die einzig legitime Formel der gleichzeitigen Bejahung von Leben und Tod, von gesellschaftlichem Fortschritt und unaufhebbaren Übeln ist eine Leerformel, deren Konkretisierung nur im Weltprozeß selbst und durch aktive Teilnahme an ihm auszumachen ist.

Das aber ist das große historische Plus der Linken, welches trotz allen Abstrichen und nach Fallenlassen mancher ihrer Voraussetzungen übrigbleibt und ihr den historischen Vorsprung verbürgt, den sie aus fragwürdigen Quellen entlehnte: daß sie das vorwärtstreibende Element der Geschichte ist. Ob dieses Vorwärtstreiben, dieses kämpferische Ausbreiten immer neuer Möglichkeiten und Formen, zuletzt ein Beitrag zur Verwirklichung ursprünglicher Zielsetzungen oder nur eine Bestätigung der allgemeinmenschlichen Erfahrung der „Enttäuschung der Erfüllung“ oder gar der „self-elimination by success“ ist, ist dabei so wenig wesentlich wie die von niemandem beantwortbare Frage, ob der Weltprozeß insgesamt dem Tode oder dem Leben in die Hände arbeite.

Wenn die Linke auszog, um eine neue Welt zu erobern, und im Laufe der Expedition draufkommt, daß sie bestenfalls einen neuen Kontinent entdeckt hat, tut dies ihrem Forscherdrang keinen Abbruch und auch die mangelhafte Ausrüstung bei diesem Unternehmen ist dann kein Argument gegen sie, wenn sie sich nicht — wie der Bolschewismus — wider alle erwerbbare Einsicht auf das Glatteis der Unmenschlichkeit begibt. Schopenhauer und der Konservativismus, die mit Verachtung auf die Bemühungen zur Verbesserung der Welt herabblicken, bekommen erst wieder recht, wenn der Prozeß des Fortschrittes, den sie gar nicht eingeleitet sehen wollen, an einem kritischen oder gar am toten Punkt anlangt.

Ernst Bloch ruft in seiner „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ nach „Differenzierungen im Begriff Fortschritt“, um den reaktionären Auftrag zu vereiteln, der mit der Überspannung des Fortschrittsbegriffes auch die Substanz des Fortschritts, das heißt die mögliche Annäherung an einen sozialen Humanismus, treffen und erledigen will. Dies ist die Aufgabe für uns: jenen Fortschritt geistig vorzubereiten und praktisch zu ermöglichen, der nicht den Einwänden des metaphysischen Pessimismus ausgesetzt ist und sich auch in der Praxis nicht als Desillusionierungseffekt erweist.

Ein Element dieses neuen Fortschrittsverständnisses ist die vom alten Schema der antagonistischen Konflikte abweichende Bereitschaft, ohne Preisgabe der eigenen Überzeugung einzugestehen, daß auch die historische Gegenkraft ihren Beitrag zur Verwirklichung eines unverfügbaren Sinnes der Geschichte leistet.

Die Annahme eines solchen Sinnes ist notwendig, wenn sich die Geschichte nicht naturalistisch in eine Summe mehr oder minder bemerkenswerter Einzelheiten auflösen soll. Die Annahme einer schon vor dem Auftreten des menschlichen Bewußtseins vorhandenen Teleologie macht freilich den Materialisten große Schwierigkeiten. Wie sie in ihrer Auseinandersetzung gegen Ernst Bloch einwandten, ist von der Annahme einer Finalität im Universum bis zur Annahme einer finalisierenden Kraft nur ein Schritt. Mit ähnlichen Argumenten hat Freud gegenüber Alfred Adler die Überschreitung der kausalen Interpretation des menschlichen Seelenlebens und die Einführung eines teleologischen Moments abgelehnt. Doch wer diesen Schritt von der praktischen Anerkennung der Unabdingbarkeit der Teleologie im Gesamtgeschehen der Welt zur Anerkennung einer teleologischen Intelligenz wagt, wird durch eine Einsicht belohnt, die ihn letzter Schwierigkeiten enthebt: die menschlich einsichtige und vollzogene Teleologie wird dann zu einem Teil der umfassenden Teleologie, die alle einzelnen Beiträge zu ihrer Verwirklichung in ihre Schranken weist. Was Karl Barth zur Korrektur der alten Prädestinationslehre gesagt hat, gilt dann auch für das neue Verständnis der Geschichte: daß die Erwählten die Verworfenen sind und die Verworfenen die Erwählten, und daß beide in einem letztlich undurchdringlichen Zusammenwirken ein Konzept erarbeiten, das ihr Verständnis übersteigt.

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