FORVM, No. 496-498
Juni
1995

Liebe Leute!

Nachstehend überreichen wir Euch den ersten Beitrag für die Lose-Blatt-Sammlung »Baedeker für Eingeborene von hier und anderswo«:
»Wien für uns«

Vorspann: Wien ist eine besonders männliche Stadt, schon durch die Namen ihrer Plätze und Straßen, die teilweise umbenannt gehören. »KärntnerInnenstraße« geht leicht, auch der »Graben« läßt sich gern in die »Aufgrabung« umbenennen; aber was macht man mit der »Herrengasse«?

Die Herrengasse erhielt ihren Namen nach den hohen Herren, die dort Wohnung nahmen; der Volksmund hat sie ebendeshalb »Lümmel-« oder auch »Lumpengasse« genannt. In ihr erblicken wir den Ort eines besonders schönen Erfolges der ganz frühen Ökologiebewegung: einstmals Bestandteil des sogenannten »Wiener Innenringes«, eines schrecklichen Blechwurms mit Lärm und Gestank, ist diese Gasse (die von der WÖK an der Ecke Schottengasse/Freyung zum Loos-Haus am Michaelerplatz führt) seit langem nahezu frei von Verkehr — Lärm, Gestank und Blechkübeln sind aus ihr verschwunden. Dies bringt uns auf eine Idee:

Wir nennen sie ab 1. April, 12. 00 Uhr die »Straße des Verschwindens und Wiederauftauchens« und gehen auf ihr spazieren, zum Teil mit Taferln um den Hals, die Namen und/oder Fotos von Verschwundenen tragen können. Da wir nicht in Argentinien sind und keine Diktatur haben, müssen wir uns nicht auf eisern schweigendes Herumstehen beschränken wie die Mütter dort. Unsere »Straße des Verschwindens & Wiederauftauchens« reicht vom verschwundenen Café Passecker an der Ecke Freyung über das wiederaufgetauchte Café Central und dem berühmten Wiener Hochhaus (wo der frühe Aids-Kranke Gerhard Mayer, viele Jahre Musikkritiker der ehemaligen ‚Wochenpresse‘, im Tode verschwunden ist) bis zum verschwunden gewesenen Taferl des Oberfeuerwerkers Pollet (der sich 1848 geweigert hatte, auf die Menge zu schießen, wie ihm ein wahnsinniger Erzherzog befohlen haben soll), das — von der Wiener Sozialdemokratie gestiftet und ursprünglich an der Fassade des Loos-Hauses angebracht — nach einer FORVM-Aktion von Jürg Jegge wiederaufgetaucht ist und jetzt am Café Griensteidl hängt. Dazwischen irgendwo steht das Innenministerium, aus dem wer endlich verschwinden soll:* Und die Ecken Freyung/vormals Passecker sowie Michaelerplatz/Griensteidl- & Pollet-Eck wären als Hyde-Park-Corners und offene Foren der Meinungsfreiheit zu nutzen.

Wenn Ihr an diesem und/oder jedem anderen Samstag zwischen 12 und 14 Uhr Zeit & Lust hättet, in der Straße des Verschwindens und Wiederauftauchens (vormals Herrengasse) mit spazieren zu gehen, möchten wir uns sehr freuen.

* P.S: Einer ist schon verschwunden; mit Einem ist uns, so viel ich sehe, freilich noch nicht ganz gedient. 22. Mai 1995, G.O.