FORVM, No. 430/431
November
1989

Lob der Hure

Man trifft sie auf allen Bahnhöfen, allen Flughäfen, allen Autobahnen, die Abermillionen von modernen Nomaden und Nomadinnen, die, ständig unterwegs, manchmal pausenlos, ihrem wandernden Job nachgehen. Als Bleibe dienen ihnen Hotels aller Kategorien, sie hetzen durch die Welt, von Stadt zu Stadt, von Staat zu Staat, von Kontinent zu Kontinent. Sie üben eine Vielfalt von Berufstätigkeiten aus, haben, außer der täglichen Hast, kaum etwas miteinander gemein — oder vielleicht doch: vielleicht den Wunsch nach einem geordneten, ruhigen Leben inmitten einer glücklichen Familie; einen Wunsch, der für sie, die sich so manches (wieder auf verschiedensten Niveaus) leisten können, unerreichbar ist, auch in dem Falle, daß sie verheiratet sind.

Die Matrosen auf den Supertankern. Die Monteure in Wüstengebieten. Die Firmenvertreter. Die Kunstmakler. Die Mannequins. Die Leistungssportler. Die diplomatischen Kuriere. Die Film-, Pop- und Fernsehstars. Die Reporter. Die Politiker auf unterer Ebene, um nur einige Wanderberufe zu erwähnen.

Tagsüber durch oft schwierige und verantwortungsvolle Konferenzen, Verhandlungen, Streitigkeiten erschöpft, danach von einer — inneren oder äußeren — Leere umgeben, an dem Sinn ihres Tuns zweifelnd, sich nach ein wenig menschlicher Wärme sehnend, vor dem kommenden Abend sich fürchtend, suchen sie Zuflucht in ihrer unwirtlichen Hotelbleibe, duschen sie den täglichen Dreck — auch den Gedankendreck — ab, um, so erfrischt, nach irgendwelchen Erlebnissen, egal welcher Art und Intensität, zu suchen. In den Bars, im Kino, beim Bummeln durch die Straßen in der kaum je erfüllten Hoffnung, auf etwas Außergewöhnliches, Ermutigendes zu stoßen. Sie füllen die Nachtlokale, die Peep-Show-Kabinen, die Cafés, Cabarets und Stripteasebuden, je nach dem Zustand ihres Bankkontos. Sie sehnen sich nach Hausgemachtem beim Verzehr des Hamburgers, und um das Gefühl der Verlorenheit abzutöten, greifen sie nach der Flasche, sprechen wildfremde Menschen an, mustern die Frauen mit melancholischen Blicken, versuchen, mit irgendeinem Schmäh an sie heranzukommen — für „Einmal ist keinmal“ oder für eine festere, aber nur selten für eine ganz feste Bindung. Diejenigen, die es sich leisten können, haben in den verschiedenen Städten ihre „festen Punkte“, aber die dürften (wegen des Kostenaufwands) in der Minderzahl bleiben. Denen, die nicht genügend bestückt sind, bleibt kaum etwas anderes übrig, als sich ein Puff zu suchen. Früher oder später wird es fast jeder von Unruhe Geplagte tun.

Es gibt Puffs verschiedenster Art, in vielen Varianten zwischen dem Nobelgeheimtip bis zum Straßeneck-Betrieb. Auch die zur Verfügung stehenden Lustobjekte sind durch gesellschaftliche Schranken streng differenziert, von verarmten Adeligen über Stars von gestern bis zu der bleibelosen Nutte, die nur gerade noch einem besoffenen Obdachlosen als begehrenswert erscheint.

Frauen mit Doktorwürde. Naive Ziegen. Mannstolle Nymphomaninnen. Kaltblütige Rechnerinnen. Frauen aus allen Kreisen und Niveaus stehen Tag für Tag, Abend um Abend, Nacht für Nacht Sexhungrigen und Sexsuchenden zur Verfügung. Zu festgesetztem, im voraus vereinbartem Preis, der oft ins Horrende steigt, bis zu ein paar bezahlten Drinks in der Kneipe an der Ecke.

Warum machen wir ihnen ihren Beruf — es ist doch einer — noch schwerer, als er es schon ist? Warum schimpfen wir sie „Huren“, ohne daran zu denken, welch wichtige soziale Tätigkeit sie ausüben? Warum schauen wir uns nach allen Seiten vorsichtig um, ehe wir ein Freudenhaus betreten oder in ein stehend wartendes Auto einsteigen? Warum schauen wir bei einer zufälligen Begegnung am Tag danach weg? Warum entrüsten wir uns über ihr geschäftiges Dasein? Ist denn der Mensch in sonstigen, ja in den ehrbarsten Berufen dieser total kommerzialisierten Welt nicht auch eine Ware? Ist nicht alles käuflich? Wird nicht alles Denkbare zum Kauf feilgeboten?

Wieso „Nutte“? Wieso „Hure“? Was würden unzählige Menschen ohne sie mit ihrer Freizeit anfangen können? Wie könnten sie sonst zur verdienten Nachtruhe kommen?

Ohne es zu romantisieren, wäre das sonst so fade Matrosendasein ohne die Dienste der Hafenschönen unerträglich, undenkbar, und wird es bleiben, solange man den Matrosen, ob Maat oder Schiffsjunge, nicht durch Roboter ersetzt. Sicherlich gibt es auch Menschen, die ohne Sex auskommen können, sogar ihr Leben lang. Aber diejenigen, die tagtäglich von der Gier geplagt werden und kein nach unseren Maßstäben „geordnetes“ Leben führen können — was sollen die anfangen mit ihrer Natur?

Es dürfte sich doch bereits ein wenig herumgesprochen haben, welche Rolle der Sex im gesellschaftlichen Leben spielt. Auf die Dauer unbefriedigt zu sein, führt zu Aggressionen, Gemütstrübung, Resignation. Sicher, es leben Millionen Menschen, Männer und Frauen in Gefängnissen etwa, auf Arbeitsplätzen in extremen Lagen — ohne Gelegenheit, ihrer Lust zu frönen. Andere Millionen, durch Frust und Angst gehemmt, üben lieber Abstinenz. Aber das sind Extremfälle, die Mehrheit der Menschheit ist sexhungrig und leidet unter einem Mangel an Kontakten. Dies führt nur allzuoft zu Exzessen widerlichster Art, aus sonst normal veranlagten Menschen werden Monster.

Prostitution ist sicherlich keine noble Lösung des Problems, aber ihr Vorhandensein erleichtert vielen Menschen, die in ihrer Freizeit sonst nichts mit sich anzufangen wüßten, das Leben.

Die an die Peripherie der Gesellschaft abgedrängten Mädchen, geächtet, als Abschaum des weiblichen Wesens betrachtet und behandelt, haben es nicht verdient, daß man so mit ihnen umgeht. Man behandelt sie als Kriminelle, und damit treibt man sie ins kriminelle Milieu.

Wäre es nicht an der Zeit, anzuerkennen, daß die Prostitution in unserem gesellschaftlichen System eine wichtige soziale Rolle spielt? Wäre es nicht besser, die Huren — anstatt sie mit Verachtung anzusehen und zu behandeln — durch Schaffung würdigerer Arbeitsbedingungen aus den oft muffigen Schlupfwinkeln herauszuholen, und sie wenigstens ein wenig mehr als gesellschaftsfähig zu betrachten? Ihren Beruf als nicht gut vermeidbaren anzuerkennen?

Es gibt Kulturen, in denen Prostituierte eines besseren Rufes sich erfreuen durften, nicht als ein öffentliches Ärgernis abgestempelt waren.

Der berüchtigten Doppelmoral unserer abendländischen Zivilisation blieb es vorbehalten, die Prostitution als öffentliches Übel brandzumarken, ohne den Mut zu finden, sich mit dem Problem auf andere, ehrliche Weise auseinanderzusetzen. In der Geschichte gab es unzählige Versuche, mit der Prostitution fertigzuwerden: sie führten zu nichts. Auch künftige Verbote, Verbannungen, Diskriminierungen, Verfolgungen und Ächtungen werden ähnlich zu nichts führen.

Die Prostitution kann nur auf eine einzige Weise abgeschafft werden: durch das Absterben des Sexualtriebs.

Eine Gesellschaft von Impotenten? Nein, danke!

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