FORVM, No. 428/429
August
1989

Mediale Sittlichkeit, oder:
Die neue Lust auf Tugend

Bei den diesjährigen Römerberg-Gesprächen setzte unser Herausgeberbeirat R. B. die Diskussion (begonnen mit „Geist und Zeitgeist“ in Heft Okt. 1987) über Moral und neue Liederlichkeit fort; das Frankfurter Publikum, unvorbereitet, fand sich in einem Wechselbad widerstreitender Gefühle.

Die Welt ist in Ordnung wie schon lange nicht mehr, zumindest in unseren Breiten. Die Wirtschaft floriert, für die Umwelt gibt’s Programme, die Arbeitslosen sind ruhig, sogar Raketen baut man ab. Ein neues Behagen in der Kultur breitet sich aus und Humanismus ist heute fast endemisch. Es kommt, so sagt‘ man, auf den Menschen wieder an, erstmals sogar in Form beider Geschlechter. Der Heilige Geist kommt periodisch mit der Boeing nieder und seit AIDS ist sogar die Familie wieder schön. Das Posthistoire hat mit der Geschichte sich kurzgeschlossen und tradierte Werte wieder lebendig gemacht. Gewiß liegt noch so manches im Argen, aber das kommt von gestern und ist nicht neu. Neu ist, daß es als Arges erkannt wird und man auf die Kassandren endlich hört — die haben Sitz und Stimme im gehobenen Feuilleton. Ein ökonomisch erstarkter Liberalismus räumt mit den ideologischen „Altlasten“ auf, und mit den Restbeständen von Utopie.

Die Häufung von Skandalen ist kein Gegenargument, sondern bestätigt im Gegenteil die These: Denn ein Skandal beginnt erst, wenn die Polizei ihn beendet (Kraus), und die ist heute schneller da als früher.

Dr. Pangloß feierte in einer Zeit Triumphe, in der nicht nur die Kunst, sondern auch die Moral von Banken gesponsert wird. Zwar leben wir noch nicht in der besten aller möglichen Welten, aber wenigstens ist der Weg dorthin klar: Er führt nicht über die Kritik der politischen, sondern über die Affirmation der „ethischen“ Ökonomie, er führt nicht über die Veränderung, sondern über die Moralisierung der Gesellschaft, er führt über die Pädagogisierung, Normalisierung, Normierung und metaphysische Veredelung des Individuums. Man muß die Menschen verbessern, nicht die Strukturen — denn mag die Welt des Kapitals auch ihre Härten haben, so ist sie doch die beste, die es gibt; mehr als die Ökonomen von heute hat auch Leibniz nicht gelehrt, der nie gesagt hat, daß die Welt gut, nur daß sie die beste aller möglichen sei: So hat die Volkswirtschaftslehre die Theodizee säkularisiert.

Die invisible hand zeigt einmal mehr ihre Weisheit, nicht nur auf den Güter-, sondern auch auf den Arbeitskraftmärkten, denn endlich kommen auch marginale Berufsgruppen zum Zug: Keine Podiumsdiskussion ohne Moraltheologen, keine Managertagung ohne einen Fachmann für Werte, kein Bankenseminar ohne philosophische Fundierung, kein High-Tech-Programm ohne Ethikkommission, kein Wäscheplakat ohne sittsamen Aufschrei, kein Bürgerprotest ohne besorgten Herrn Pfarrer. Vom Wort „Genet(h)ik“ weiß man schon nicht mehr, wie es sich schreibt. Ist dann die Versammlung vorüber, so schwärmen sie aus und halten im Fernsehen Vorträge über den „Sinn“.

„Der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer besser“ — hat Nietzsche schon vor mehr als hundert Jahren geschrieben; auch damals, im Viktorianismus, hatte die Moralisierung Konjunktur, sie hat den Imperialismus ideologisch begleitet. Wen oder was begleitet sie heute? Warum hat die Moral wieder Konjunktur? Und ist es eine Konjunktur auf Angebots- oder auf Nachfragemärkten? Wer liefert? Wer kauft? Wer produziert? Und vor allem — wo nehmen sie die Rohstoffe her? Denn die Moral, so sagt man, ist doch eine knappe Ressource, warum also geht man nicht sparsamer mit ihr um? Wer hat ein Interesse an ihrer Distribution?

Dieses Interesse ist relativ neu. Und nicht nur das: es widerspricht doch scheinbar in eklatanter Weise den Lehren der liberalen Ökonomik, nach deren Prinzipien sich die Wirtschaft heute neu organisiert.

Denn mehr noch als die klassischen Tugendlehren hat die moderne Moral ja sehr viel mit Selbstlosigkeit, Solidarität, Rücksicht und, trotz des Kantischen Rigorismus, auch mit Mitleid zu tun, sie begründet und ist zugleich, wie Habermas einmal geschrieben hat, angewiesen auf entgegenkommende Lebensformen. Das ist die direkte Negation dessen, was man das Ethos des bürgerlichen Kapitalsubjekts nennen könnte: Nämlich zwar regelgeleitete und insofern korrekte, also gesetzeskonforme, aber im Rahmen dieser Regeln rücksichtslose und aggressive egozentrische Nutzenmaximierung. Ein Kaufmann, ein Industrieller oder ein Manager, der von Mitleid mit seinen Konkurrenten, von Solidarität mit seinen Angestellten oder von Rücksicht auf die Natur sich leiten ließe, der aus Achtung vor dem Kantischen Imperativ sich einen Gewinn entgehen ließe, der wäre nicht anständig, sondern ein Narr. Spätestens bei der nächsten Aktionärsversammlung würde er über seinen Irrtum aufgeklärt und durch Scheitern seiner Existenz auf das wahre Sittengesetz der bürgerlichen Gesellschaft gestoßen, deren kategorischen Imperativ nicht Kant, sondern Marx auf die Formel gebracht hat; auf die Formel: „Akkumuliert, akkumuliert, das ist Moses und die Propheten“.

Dieses Ethos des bürgerlichen Kapitalsubjekts soll aber zugleich, so verspricht es die liberale Ökonomik, über die Konkurrenz der Egoismen das allgemeine Wohl befördern, ja es gilt sogar umgekehrt, daß dieses nur durch jene sich herstellt, letztlich also Moral im landläufigen Sinn im Grunde sogar unmoralisch, weil für das Ganze schädlich ist. Und doch wird sie für unverzichtbar erklärt, damit das Ganze nicht in Barbarei versinkt. Moral im bürgerlichen Zeitalter ist also genuin und unausweichlich das, was sie am schärfsten verurteilt: nämlich Doppelmoral. In dem Widerspruch, der ihr inhärent ist, drückt der Widerspruch der Gesellschaft selbst sich aus, ihre antagonistische Struktur; er ist daher moralphilosophisch nicht zu schlichten. Denn während für die Produktionsmitteleigner und ihre beteiligten Spitzenfunktionäre in dieser ihrer sozialen Rolle allein das Prinzip der egozentrischen Nutzenverfolgung für sie selbst und das System als ganzes rational ist, würde die Ausdehnung dieser Rationalität auf jene, die von ihnen als Angestellte und Arbeiter abhängig sind, den arbeitsteiligen Betrieb zerstören; dessen Organisation zerfiele, wenn die in ihm abhängig Beschäftigten tatsächlich konsequent ihr je eigenes Interesse verfolgten, wie es das Marktprinzip verlangt. Sie müssen daher über eine verlogene Gemeinschaftsrhetorik zur Identifikation mit Interessen gebracht werden, die zumindest unmittelbar ihren eigenen entgegenstehen. Der soziale Kitt der Moral wirkt klassenspezifisch der Anomie entgegen, zu der der Besitzindividualismus von sich aus tendiert. Moral ist etwas für die kleinen Leute, und sie sorgt dafür, daß sie kleine bleiben. Sie ergänzt das Repressionssystem von innen und steht mit ihm in einem Verhältnis der Komplementarität. Über sie bilden sich auch jene sozialen Cluster heraus, und diese halten sich durch sie am Leben, die für die bürgerliche Gesellschaft unverzichtbar sind und die zugleich ihrem innersten Prinzip widersprechen: Diese reichen von der Solidargemeinschaft der Familie über die „corporate identity“ von Firmen bis hin zur Vaterländerei, deren bornierte Nationalismen heute, so hört man, in einem halbierten Europa fusioniert werden sollen. Manche reden sogar von der „Menschheit“, als ob es die im Ernst irgendwo gäbe oder es auf das Benehmen des einzelnen ankäme, daß sie sich bilde.

In Zeiten nun, in denen das Kapital sich beschleunigt reorganisiert, neue Technologien und damit neue Organisationsformen der Arbeit eingeführt werden, alte Berufsgruppen verschwinden und neue entstehen, neue Kapitalien und Verwertungschancen sich bilden, andere vernichtet werden, große Teile der Bevölkerung aus den Arbeitskräftemärkten hinausgeworfen und neue in ihn integriert werden, damit aber auch tradierte Verhaltensformen und Werthaltungen zur Disposition gestellt werden, erodiert die zur Hexis gewordene Synthesis der Gesellschaft. Jeder Umbau des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvermögens forçiert naturgemäß eine instrumentelle Einstellung des einzelnen zu seiner Arbeit und Reproduktion allein schon dadurch, daß er ein reflexives Verhältnis zu ihnen fördert, und rationalisiert im liberalistischen Sinn sein Verhalten im Sozialen. Dieser gleichsam naturwüchsigen Entmoralisierung der Gesellschaft in Phasen beschleunigter Modernisierung der Produktion, die von der offiziellen Propaganda unterstützt wird, muß daher andererseits, widersprüchlich genug, mit einer Moralisierungskampagne begegnet werden, soll anders die gesamtgesellschaftliche Integration nicht allzu krisenhaft verlaufen: Das Lob der Yuppy erfordert als dialektische Ergänzung das Lob der neuen Mütterlichkeit.

Es ist wohl eher dieser Umbau des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvermögens und die inhaltliche Neudefinition der Marktrationalität als deren schiere Ausdehnung auf bisher noch nicht von ihr erfaßte Sozialbereiche und Bevölkerungsgruppen, die den moralischen Kitt der Gesellschaft aufzehren und brüchig werden lassen; aber natürlich spielt auch diese rein quantitative Seite des Prozesses eine enorme Rolle. Hier wäre insbesondere der rasch wachsende Frauenanteil in traditionell männlichen Berufskategorien zu nennen. Emanzipation heißt vor allem ja auch, was immer es sonst noch alles heißt, daß Frauen mit der Aufkündigung angestammter Rollenzuschreibungen auch jene Wesenszüge als angeblich natürliche von sich weisen, die für diese Sozialrollen funktional waren und die üblicherweise mit Moralität assoziiert werden, wie Altruismus, Empathie, Selbstzurücknahme, Pflegebereitschaft etc. Mit Eintritt in gehobene Positionen bilden sie notwendig jene Verhaltensweisen an sich aus, die dort funktional sind und die traditionsgemäß als männliche Charakteristika gelten, also Statuskonkurrenz, Marktrationalität und einen utilitaristischen Individualismus.

Pflegehandeln geht tendenziell auf die Verwaltung über und wird arbeitsteilig organisiert, Sozialarbeit ist ein administrativ vermitteltes Berufsbild, das als solches die Klientel unausweichlich objektiviert und entsubjektiviert.

Helmut Dubiel hat in diesem Zusammenhang der kapitalistischen Durchrationalisierung der Gesellschaft vom Verschleiß gleichsam naturwüchsiger Moralressourcen gesprochen und mit dieser Metapher deutlich gemacht, daß der liberalkapitalistische Wirtschaftsprozeß auf traditionale Sinn- und Verpflichtungssysteme als auf soziale Ressourcen ebenso angewiesen ist, wie auf natürliche Rohstoffreserven, und daß er sie ebenso erschöpft; er verbraucht Bestände der zweiten Natur, wie er Bestände der ersten Natur verbraucht, ohne sie von sich aus regenerieren zu können.

Aber das heißt nicht — und insofern scheint mir die Metapher von der „Ökologie der gesellschaftlichen Moral“ schief zu sein —, daß sie nicht von anderen Instanzen produziert und distribuiert werden könnte. Die Rede von Moral als „knapper Ressource“ sieht von der Tatsache ab, daß sie als soziales Artefakt immer schon etwas Gemachtes ist und nie „natürlich“. Gerade der Anklang an Hegels Begriff der „substanziellen Sittlichkeit“ sollte an ihren geschichtlichen Charakter erinnern. Wie das „natürliche Bewußtsein“ überhaupt bei Hegel, erscheint auch die „substanzielle Sittlichkeit“ nur den unmittelbar in ihr Befangenen als „natürlich“, in Wahrheit ist sie geschichtlichen Wesens. Und wie andere Traditionsbestände in der Moderne auch, verwandelt Sittlichkeit sich in Folklore, die, ausgehöhlt und ihrer inneren Wahrheit beraubt, als äußerer Schein lebendig gehalten wird —, und zwar aus dem gleichen ökonomischen Interesse heraus, das zu ihrer Aushöhlung geführt hat: „Sinn“ wird synthetisch hergestellt und an Großabnehmer geliefert, die ihn dann weiterverteilen; „substanzielle Sittlichkeit“ wird durch „mediale Sittlichkeit“ ersetzt.

Das ist, wenn Sie so wollen, die zynische Wahrheit der Marquardschen Kompensationstheorie, wendet man sie auf die moralphilosophische Debatte an. Die eigentliche Pikanterie liegt aber darin, daß gerade jene, die über ihren Zynismus sich empören, in ihrer Gutherzigkeit die Lieferanten dieses zynischen Gewerbes sind.

Wir haben ja bisher nur die Nachfrageseite der neuen Moralität betrachtet; wenden wir uns nun noch kurz der Angebotsseite zu, so fällt auf, daß diese ja durchaus nicht nur auf der politisch konservativen Seite zu finden ist, sondern auch an den theoretischen Orten ehemals kritischer Theorie. Nicht nur von den Kanzeln tönt es moralisch, auch die Lehrkanzeln sind heute verstärkt um eine neue Ethik bemüht.

Wie ist es dazu gekommen? Ich kann diese Frage gewiß nicht befriedigend beantworten, schon gar nicht in der kurzen Zeit, die mir noch bleibt; nur mit ein paar wenigen Strichen möchte ich meine Vermutung skizzieren, daß philosophische Ethik in genau dem Maße prominent wird, als die Philosophie der Geschichte an Glaubwürdigkeit verliert. Aber ein wenig ausholen muß ich schon.

Vor mehr als 40 Jahren schrieb Merleau-Ponty in Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Terror, den A. Koestlers „Sonnenfinsternis“ auf die Tagesordnung westlicher Intellektuellendebatten gesetzt hatte, in seinem großen Essay „Humanismus und Terror“:

(Die Diskussion) besteht nicht darin zu untersuchen, ob der Kommunismus die Spielregeln des liberalen Denkens einhält (zu offensichtlich ist, daß er das nicht tut), sondern ob die Gewalt, die er ausübt, revolutionär ist und fähig, zwischen den Menschen menschliche Beziehungen herzustellen. Die marxistische Kritik der liberalen Ideen ist so stark, daß man, falls der Kommunismus im Begriff wäre, durch die Weltrevolution eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, in der gleichzeitig mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auch die Ursachen für Krieg und Dekadenz verschwunden wären, Kommunist sein müßte ... Ist der Kommunismus seinen humanistischen Absichten gewachsen? Das ist die wirkliche Frage.

Kein Mensch würde heute mehr so schreiben oder reden. Eine abschlägige Antwort auf Merleau-Pontys Frage scheint uns heute so gewiß, daß schon das Stellen der Frage lächerlich wirkt; damit aber auch das instrumentelle Verhältnis zur Gewalt und die Auflösung der Moral in Politik fast obszön. 1947 aber, zu Beginn des Kalten Krieges, konnte Merleau-Ponty die Frage der Moral noch als eine offen politische stellen, d.h. er diskutierte sie im Rahmen eines geschichtsphilosophischen Entwurfs. Doch daß er sie überhaupt diskutierte, sie nicht einfach mit Marx den ideologischen Formen zuschlug, indiziert allein schon ein Brüchigwerden teleologischer Gewißheit, welche das Handeln Gletkins und Rubaschows noch bestimmt hatte. Die Tragik des letzteren in Koestlers Roman besteht ja darin, daß er sich selbst verurteilen muß nach seinen eigenen Prinzipien, weil er durch politischen Irrtum von der richtigen Linie abgewichen war. Moral kommt so nur ex negativo ins Spiel. Dem Funktionär und Militanten, der sich als Exekutor einer geschichtlichen Tendenz versteht, ist die Moral in die Transzendentale und in die historische Transzendenz zugleich gerutscht; als Regulativ empirischer Praxis wird sie tendenziell außer Kraft gesetzt: die bestimmt sich nach strategischen Kalkülen, so wie es immer schon die seines Gegners tat, der auch das moralische Gebot zum taktischen Einsatz brachte. Sie geht allerdings als Impuls seinem Handeln voraus, das seinerseits einen Zustand herstellen soll, der als in sich sittlicher des moralischen Regulativs nicht mehr bedarf — was allerdings den Bruch gegebener Strukturen impliziert und also die Anwendung von Gewalt nicht ausschließt.

Spätestens seit 1789 beruft der Revolutionär sich darauf, daß er wahre Rechtsverhältnisse erst herstellen will und daß er die Gewalt nicht erfunden, sondern vorgefunden hat und gegen ihre eigentlichen Urheber kehrt. Paradigmatisch steht dafür Saint-Just, der den Terror als Mittel zur Tugend empfahl (in der Rede zu den Ventôs-Dekreten z.B.), und natürlich vor allem Robespierre, der in seiner großen Rede „Über die Prinzipien der politischen Moral“ den Schrecken geradezu zum Ausfluß der Tugend erklärte („er fließt aus der Tugend“, wie er sagt). Da diese Männer selbst aus Tugend heraus handelten, war dieser Schritt nur konsequent, denn der Tugend ist, wie Hegel schreibt, „das Gesetz das Wesentliche und die Individualität das Aufzuhebende“. Ihre abstrakte Gewalt abstrakt zu verwerfen, wie es die konventionelle Moral verlangt und heute Mode ist, heißt mit ihrem Mittelcharakter das Ziel verurteilen, das in der Abschaffung gewaltförmiger Verhältnisse liegt.

Denn jedes politische Handeln ist unausweichlich praxis und poiesis zugleich, Umgang mit Menschen als Subjekten und deren Degradation zum Material. Wer es auf praxis reduzieren und moralisch „binden“ will, ist entweder ein Heuchler oder er weiß nicht, was er sagt. Den Anderen niemals nur als Mittel zu gebrauchen, wie es in einer seiner Fassungen der Kantische Imperativ verlangt, heißt zugeben, daß er immer auch Mittel ist, und je weiter der angestrebte Zustand vom gegenwärtigen entfernt ist, desto stärker tritt dieses Moment hervor. In dem Maße, in dem das Handeln sich selbst als historisches versteht, hebt es das moralische Urteil im politischen auf.

Gegen die abstrakte Tugend der bürgerlichen Revolution hat sich die nach-Kantische Philosophie gewandt. Das revolutionäre Handeln sucht nun seine Rechtfertigung in der Geschichtsphilosophie, nicht in den zeitlosen Geboten der Moral, die es umgekehrt als ideologisches System erfährt und seinerseits dem strategischen Kalkül unterwirft. Aus dem Himmel der Ideale herabgeholt, wurde Moral erkennbar als das, was sie seit je gewesen ist: als Schmiermittel der laufenden Ereignisse. Denn ihre reinen Prinzipien haben sich nicht nur immer schon mit der je bestehenden Macht arrangiert, sondern sie auch als ihren Existenzgrund vorausgesetzt. Und indem sie diese als Gewalt in Latenz hält, rechtfertigt sie sich selbst über ihre pazifizierende Funktion. So ist sie das Glück der Regierungen und aller Personalchefs, die ihre Angestellten gern, wie es bei Kracauer heißt, „moralisch rosa“ haben. Die Sorge um das Menschliche überhaupt ist so lange eine konservative Kriegsideologie, als sie sich nicht um die spezifischen Bedingungen sorgt, unter denen das Humane real wird.

Seit Hegel hat die Moral — als abstrakte — daher eine schlechte Presse in der Geschichtsphilosophie. Marx war sie wie die Religion der „spiritualistische Point-d’honneur“ schlechter Verhältnisse, „ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund“ und Nietzsche hat nur mit Ekel von ihr gesprochen.

Und gerade deshalb hat sie heute wieder Konjunktur. Denn in dem Maße, als die Hoffnungen der Geschichtsphilosophie enttäuscht worden sind, wurden die historischen Fühler eingezogen, entdeckte man wieder das Recht der nächsten Dinge vor den übernächsten, richtete sich im Bestehenden ein und erklärte Ethik zur „Lehre vom richtigen Leben im Falschen“ (Spaemann): Wie zwischen Natur- und Geschichtsphilosophie herrscht auch zwischen dieser und der Moralphilosophie eine Art von Komplementaritätsverhältnis: Eine Hausse von jener bedeutet für diese immer ein Baisse und umgekehrt, der Zyklus entspricht ziemlich gut der politischen Konjunktur, folgt freilich nicht den kurzfristigen Schwankungen, sondern gleichsam den langen Kondratieff-Wellen.

Als um die Mitte des Jahrhunderts Merleau-Ponty die Dialektik von Humanismus und Terror diskutierte, tat er dies noch in einem historischen Horizont. Doch gerade weil dieser Horizont sich schon verhängte, wurde die politische Moral zum Problem. Gewiß kritisierte Merleau-Ponty die Moral noch politisch, aber nur, weil er die Politik schon in der Moral fundierte. Das gilt erst recht für die existentialistische Marx-Interpretation Sartres, die den Intellektuellen zum „Engagement“ verpflichten will — auf Seiten des Proletariats als Klasse, die zu dieser Zeit schon politisch, wenn auch nicht ökonomisch in Auflösung war. ’68 fand dann zwar nicht gänzlich ohne es statt, doch blieb es in seinem Elan weit hinter dem zurück, was die „enragés“ in die Situation projizierten. Es war eine Rebellion, die sich als Revolution kostümierte, ein moralischer Protest in politischen Kategorien. H.-J. Krahl hat als ihr reflektiertester Kopf dieses moralischen Motiv auf den Punkt gebracht, als er seine Rede im Senghor-Prozeß 1969 hier in Frankfurt mit den Blochschen Worten schloß:

Warum sind diejenigen, die es nicht nötig haben, zur roten Fahne übergelaufen? Es ist die sich tätig begreifende Menschlichkeit.

Da haben wir sie also wieder, die Menschlichkeit, diesmal auf der politisch anderen Seite. Dieses „Herzklopfen für das Wohl der Menschheit“ aber hat, wie schon Hegel in der Phänomenologie notierte, die fatale Neigung umzuschlagen in die „Raserei des Eigendünkels“. Die Geschichte der siebziger Jahre hat die Wahrheit dieser These gezeigt.

Die Marxsche Theorie hatte noch auf die gesetzt, die es auf Grund ihrer Lage „nötig haben“, Marx spekulierte nicht auf Moral, sondern auf „Einsicht in die Notwendigkeit“, die ihm geschichtsphilosophisch gesichert schien und die heute desavouiert ist.

Diesen Zerfall des historischen Bewußstseins, die zunehmende Moralisierung der Theorie, hat die Kritische Theorie nachgezeichnet, indem sie ihn thematisierte, aber auch, indem sie in ihrem Verlauf selbst dessen Ausdruck war. Das Spätwerk Adornos ist die Kippe, Geschichtstheorie und Ethik zugleich, wobei jedes der beiden Momente das andere bedingt. Was nach ihm kam, war die Diskursethik, als Neuauflage des Transzendentalismus ahistorisch bis in die Knochen und Auflösung des realen Widerspruchs im verbalen, die Apologie des Geredes, des Geredes überhaupt, ohne Rücksicht darauf, was geredet wird, m.a.W. die Apologie der Phrase „sans phrase“.

In diesem Versuch einer Sinnaufladung des Sinnlosen trifft sich heute die Kritik mit dem Konservativen bei ihrem Bemühen um eine philosophische Fundierung der Moral.

Denn „sittliches Handeln“, schreibt R. Spaemann, „ist dasjenige, das jederzeit aus der Präsenz einer Totalität von Sinn lebt“.

Die Wirklichkeit aber beginnt in genau dem Augenblick, da der Sinn zerfällt.

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