FORVM, No. 321/322
September
1980

Metaphysik & Matjeshering

„Nachlese“, die Zeitschrift des ORF

Nachlese. Eine monatlich erscheinende Schriftenreihe mit Manuskripten und Unterlagen zu Sendungen von Hörfunk und Fernsehen, Wien, Jänner bis August 1980.

Rundfunk und Fernsehen leben von der Flüchtigkeit ihrer Erscheinung. Keiner nimmt’s so genau mit dem, was tagtäglich vorm Auge flimmert, am Ohr vorüberrauscht.

Brenzlig wird die Sache erst, wenn das Zeitlose und Anspruchsvolle dieser Institutionen schwarz auf weiß hervorgekehrt werden soll: dann kommt unweigerlich eine penetrante Mischung aus Metaphysik und Matjeshering heraus. Der Medien ganzer Jammer ist ja, daß ihr Programm ohne jedes Programm sein muß!

Seit Anfang des Jahres hält sich der ORF auch eine Zeitschrift, die monatlich erscheint: „Nachlese“. Sie war wahrscheinlich als Versuch gedacht, die sogenannte Hörer- & Sehergemeinde noch enger an sich zu binden, verknüpft mit der Hoffnung auf Inserate; vielleicht auch, um ein Jubelorgan für den Generalintendanten zu schaffen?

Doch diese Nachlese, die an den Kiosken vergammelt, trotz Fernsehwerbung kaum Leser findet und kaum etwas bringt, das des Nachlesens wert wäre, läßt einem die Augen übergehn. Unfreiwillig gibt die Zeitschrift das Skelett des Sendebetriebs hierzulande preis — von allem entblößt, was Radio und TV erst Sinn und Zweck verleiht, ohne Optik und Akustik, Bewegungen und Klänge, und vor allem ohne ihr journalistisches Element, die Aktualität. Zieht man dann noch sämtliche Filme, Theaterstücke, ausländische Produktionen ab, bleibt wirklich nur mehr tödliche Langeweile.

Ausgerechnet auf dem Küniglberg scheinen die Gottsucher zu Hause zu sein. Wenn man der „Nachlese“ trauen kann, brauen sie ihren Betrieb nach dem ehrwürdigen Rezept der drei K zusammen — Kanzelprediger, Kindergartentante und Küchenhilfe in einem; genau jener ideologische Brei, den man im vorigen Jahrhundert den widerspenstigen Frauen vorsetzte.

Der ORF als philosophische Instanz? Wahnwitzig wirkt das Ganze, mit Surrogaten vollgestopft, in zynischer Menschenverachtung zugeschnitten auf ein unbekanntes, doch weibliches Wesen, das an schweren Depressionen leidet („Golgatha ist überall!“), dabei bildungsbeflissen und nicht ohne Drang nach dem Höheren ist („Die Antizipation der Atomlehre“) und stundenlang am Herd steht. Kochrezepte füllen in jeder Nummer ein Drittel der rund 70 Seiten.

Keine Autorität wird vergessen, um vor ihr zu kriechen, kein Stumpfsinn, der sich darin nicht unerbittlich wiederholt! Eine Spezialität für Vollidioten sind stets die „wir“-Tips vom Fernsehen. Versunken der nasale Charme des Radio-Onkels „XY weiß alles ...“ Solang man denken kann, wird man in diesem Land mit Hinweisen zur richtigen Pflege von Rehhäuteln gequält. Da hört keiner zu, wer braucht das schon ?

Doch ihr zwanghaftes Repetieren Jahrzehnte hindurch muß ein Indiz dafür sein: es ist ein Stück österreichischer Kultur, ein nahezu mythischer Bestandteil dieses Landes, ähnlich den journalistischen Sprachfetischen „Herr und Frau Österreicher“ oder „30 Krügel im Schatten“.

Eine abgedroschene Lebensweisheit reiht sich an die andre: daß Zucker dick macht, daß Rauchen schädlich ist, und woran erkennt man frische Eier? Im Juni-Heft der Nachlese, eine besonders irre Glanzleistung, heißt es: „Ein anderer Kerzen-Tip: Etwas Salz in das weiche Wachs einer brennenden Kerze gestreut, läßt diese heller brennen als eine Kerze ohne Salz.“

So sieht’s aus, wenn ein bizarrer Machtapparat wie das Fernsehen Lebenshilfe spielt. Erwachsene Menschen werden hier auf die Stufe hilfloser Kleinkinder herabgedrückt, wie sonst nur die Alten in den „Seniorenclubs“. Ohne Fernsehen könnten sie anscheinend keinen Schritt mehr alleine tun („Skischuhe soll man immer mit geschlossenen Schnallen aufbewahren!“), und essen schon gar nicht: „Übrigens — wissen Sie die Erste Hilfe, wenn man eine Fischgräte verschluckt? Verdünnten Essig trinken, das macht die Gräte weich ...“ (März ’80).

Nachlese ist eine wahre Blütenlese. Die meisten Texte wirken so, als hätten sich die Autoren strikt an den Grundsatz der frühen Surrealisten gehalten: Sei immer völlig geistesabwesend! Dann gelingen die tollsten Kunstwerke.

Nova — Berichte aus Wissenschaft und Bildung; Koch-Tips aus der asiatischen Küche; Kampf dem Herztod — Hinweise zur Vermeidung des Herzinfarkts; Kräuterecke; die Antizipation der Kybernetik; Bibelquiz samt Auflösung ... und über all das fliegt noch ein Engel über den Kontinent, mit Stationen in Rom, Czenstochau, Flüeli-Ranft undsoweiter.

Die Engel-Serie hat übrigens Humbert Fink zum Verfasser, diesen Titanen des Reisefeuilletons, dem sich der Fluß der Rede immer wieder zu herzigen Metaphern ballt. Heiliger Strohsack, muß der fromm geworden sein!

Als Pilgrim an geweihten Stätten, als Wallfahrer beispielsweise vor den Toren Roms, konstatiert er: „Ewige Stadt — die schimmernde Kuppel des Petersdoms über den Dächern, als wäre das, was einem so nachdrücklich ins Auge sprang, ein prall gefüllter Ballon oder ein silbriger Vollmond, der verheißungsvoll über Rom schwebt ... wenn die Sonne wie ein Adler über das Häusermeer fliegt ...“ (Juni ’80). Daneben ein Foto vom Papst Woytila in Aktion; Unterschrift: „Sein Auftritt besaß etwas seltsam Berührendes.“

Für Fink war’s mehr: „Wird man mich verstehen, wenn ich nun sage, daß an diesem Vormittag des Pfingstsonntags 1980 mein Kopf sich anfühlte, als ob er in einen riesigen Trichter gezwängt worden sei, aus dem die widerstreitendsten Worte und Phrasen mit ungeheurem Lärm hervorquellen?“ (Juni 80). Aber das scheint doch die treffendste Definition des Rundfunks überhaupt zu sein ...

Gewissermaßen als Ausgleich zur prallen Sprache Finks mit ihrem Bilderreichtum werden immer auch ein paar streng wissenschaftliche Manuskripte abgedruckt, die sonst diverse Nachtprogramme oder frühe Morgenstunden gnädig verhüllen; staubtrocken und fad, in einem Stil, der halt als akademisch gilt. Eng stoßen sich im Raum die schulmeisterhaften Titel & Themen. Im Jänner-Heft etwa trifft man mit der Nase auf solche Mammutüberschriften einer einzigen Sendung: „Heute war gestern. Die Vorwegnahme neuzeitlicher Weltbilder durch die frühgriechische Philosophie. Von Dr. Manfred Schlapp. Die Welt im Fluß. Die Antizipation der Theorie der Unschärferelation.“ Bumms.

Wie das ans gespreizte Geschwafel des Schulaufsatzes erinnert! Alle Angst- & Alpträume vom Gymnasium werden in einem wieder wach... „Anaximander, ein Schüler des ionischen Naturphilosophen Thales, des Ahnherrn der Vorsokratiker, antizipierte als erster jene Weltdeutung, wie sie auch aus der Heisenbergschen Theorie der Unschärferelation abzuleiten ist ...“ (Jänner ’80).

Meistens haben aber die wissenschaftlichen Themen was mit „Gesundheit“ zu tun, oder besser: mit Krankheit. Wetterfühligkeit — gibt’s die? Damit befaßt sich eine ganze Serie („Mensch und Wetter“), oder auch mit dem Raucherbein, der Fettsucht, dem Herzinfarkt. Die Mediziner, diese weißbekittelten Priester, dürfen sich hier noch einer ungebrochenen Autorität erfreuen und widerspruchslos jeden Blödsinn verzapfen. Wehrlose Schüler, die Armsten der Armen, wurden, wenn sie’s hörten, mit moralinsauren Erkenntnissen eines Arztes gequält: „Ich bekenne mich zu einer gewissen Askese, und zwar zu einer bewußten in einer Konsumgesellschaft, in der ich bewußt auf materielle Werte und auf gewisse Genüsse verzichte. Das ist vergleichbar mit dem gewissen Gefühl, das ein Bergsteiger hat, wenn er auf einen Berg steigt ...“ („Flucht und Wirklichkeit: Alkohol“, April ’80).

Solch lebenssatte Greise sollten vielleicht erstmal ihre bestimmten Bankkonten vorzeigen!

Im selben Heft, Schulter an Schulter mit dem Verzichtsideologen, orakelt gleich noch ein Onkel Doktor, der unvermeidliche Prof. Erwin Ringel, zum verblüffenden Problem „Schule und Sinnfrage“ (Foto mit Telefonhörer am Ohr, Barockmadonna im Hintergrund).

Was für Genüsse gemeint sind, auf die die Jungen verzichten sollen, ist nicht schwer zu erraten. „Sexualität — gibt’s die?“ müßte konsequenterweise eine Aufklärungsreihe im Schulfunk heißen ...

Bei den „Hinweisen zur Vermeidung des Herzinfarktes“ im Juni-Heft etwa werden alle möglichen Fragen an Primarius Ehrenböck gestellt: „Ist Kaffee zu trinken erlaubt? Ist Autofahren ratsam? Soll man einen ‚Streßberuf‘ aufgeben? Darf man Bergsteigen? Wo soll man Urlaub machen? Ist Fliegen erlaubt? (Nicht in die Tropen reisen!) Darf man schwimmen? Ist Tauchen erlaubt? Ist Saunieren erlaubt? Darf man Schifahren?“

Von diesen anstrengenden und herzerfrischenden Tätigkeiten allein ist also das Leben der Leute ausgefüllt? Verschämt darf das Thema Sexualität allerdings einmal im Familienprogramm des Fernsehens anklingen: „Wenn die Liebe hinfällt — ein Partnerschaftskurs“, mit lauter umständlichen, psychologisierenden „Tips“ und „Hinweisen“, um eine Ehe zu retten, eine Partnerschaft wieder zu kitten. Heikel, heikel ...

Unterm Titel „Ist Sexualität wirklich so wichtig?“ (Aprilheft) heißt es: „Sexualität hat nicht nur kreislaufaktivierende Wirkung — der Orgasmus ist darüber hinaus mit seinen körperlichen Reaktionen das mit Abstand beste Entspannungsverfahren, das es gibt. Wenn man sieht, wieviel Mühen und Zeit manche Menschen darauf verwenden, das autogene Training zu erlernen, muß man sich fragen, warum sie nicht einen Bruchteil dieser Zeit zur Verbesserung ihrer partnerschaftlichen Beziehung reservieren“ (April ’80). Erotik haben wir uns eigentlich ganz anders vorgestellt ...

Eine so aufreizend unsinnliche Sprache wäre imstande, einem diese „Sexualität: Lust oder Last“ für eine Weile zu verleiden, noch dazu, wo „in der Partnerschaft leider auch häufig Sexualität mit ‚Sex‘ verwechselt‘ wird. Schuld an dieser Verwechslung hat übrigens „vor allem die Sexindustrie mit ihrem großen Angebot an ‚Sachbüchern‘, in denen immer wieder neue Positionen beim Geschlechtsverkehr angepriesen werden“.

Wie passen dazu aber die vom Fernsehen verordneten Lockerungsübungen? Sie müssen damit beginnen, daß sich die Leute ihre geheimen Schlafzimmerwünsche voreinander eingestehn: „Zum Beispiel nicht immer unten zu liegen ...“ Bei den Streichelübungen in 10 Punkten wird auf präzise Anleitung Wert gelegt: „Drittens. Führen Sie die Hand ihres Partners (ähnlich wie ein Stück Seife) über Ihren Körper“; mit freundlicher Genehmigung des Mosaik-Verlags/München.

Gemessen an den ORF-eigenen Produkten hat sogar dieser betont positivistische Versuch einer Sexualaufklärung, die Verhaltenstherapie der Liebe, immerhin noch was Revolutionäres. Es soll eine Menge Proteste gegeben haben!

Denn die wahre, eigentliche Domäne des ORF ist ja nicht Liebe, sondern Glaube & Hoffnung. So reiht sich Titel an Titel: Das Neue Testament aus jüdischer Sicht; Bibelquiz; Mutter unser im Himmel; Dialogisches Denken — Ein Martin-Buber-Symposion; Von Not und Nutzen der Einsamkeit, Essay von Manès Sperber; Die Bibel als Traumbuch; nochmals Buber; Ein Zeuge prophetischer Hoffnung — In memoriam Erich Fromm; Auf den Spuren von Mutter Teresa; Die Frage nach dem Sinn des Lebens — Viktor E. Frankl im Gespräch im Franz Kreuzer; Ein Engel fliegt über den Kontinent (6x) ... Und natürlich auch die Linzer Mediengespräche!

Unter diesen intellektuellen Auspizien wirken die seitenlangen Kochrezepte fast wie Emanationen des Geistes, der Sinne und der Kunst. Wobei das Studio NÖ sich offensichtlich gern was aus deutschen Kochbüchern abspickt: „Kasserole ...“

Irgendwie erinnert die ganze Nachlese an den famosen Reader’s Digest — das Beste, oder was dafür gehalten wird, aus allen möglichen Blättern zusammengeklaubt. Hier wie dort die gleiche Tristesse: Krankheiten & Krebs, Ärzte & Priester, Gott & Bibel, und immer wieder Schwierigkeiten mit der Verdauung.

Paradox, wie dadrin die Leute zuerst aufs krud Materiell-Sterbliche reduziert werden, auf mehr oder minder kranke Zellhaufen und Stoffwechseltypen, ein Job, den die Mediziner betreiben. Dann läßt man die Seelsorger aller Schattierungen mit ihrem Tränentüchlein antanzen und die bange Frage nach dem Sinn des Lebens stellen. Das Resultat ist freilich niederschmetternd.

Die Misere begann mit dem Bildungs- und Kulturauftrag des ORF, zentnerschwer lastet diese Verpflichtung seither auf Radio und Fernsehen. Vorher gab’s noch hie und da lustige, kritische, halb improvisierte Sendungen, in denen auch geblödelt wurde (Travniceks Schärfe wäre heute undenkbar; oder ein Quizmaster Horneck im Fernsehen, mümmelnd die falschen Karten zur Elfer-Frage mischend ...).

Statt dessen macht sich die allesbeherrschende Angst breit: Angst vor den Autoritäten, vorm Anspruchsvollen, vor der Ausgewogenheit.

Desperados! Die Medien sind ein Faß ohne Boden.

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