MOZ, Nummer 42
Juni
1989
Ungarn in Siebenbürgen:

Minderheit zwischen zwei Staaten

In Genf hat ein Mitglied des sozialistischen Bündnissystems erstmals ein anderes Mitgliedsland vor dem Forum der Vereinten Nationen attackiert. Der ungarisch-rumänische Konflikt um Siebenbürgen eskaliert.

Budapest ist ein Gerüchtekessel. Derzeit kursiert das Papier einer Menschenrechtsgruppe aus Rumänien in der ungarischen Hauptstadt. Da es infolge hermetischer Abriegelung in Rumänien selbst fast unmöglich ist, Informationen zu überprüfen und andererseits die Überbringer, meist Flüchtlinge aus der ungarischen Minderheit, durch eine eindeutige Interessenslage gekennzeichnet sind, ist es schwer, zu verifizieren:

  • Der deutsche Psychologe Szilard aus Nürnberg war zu einer Vortragsreihe in Rumänien eingeladen, er hatte dabei auch Gelegenheit, mit Gefängnisinsassen in Timisoara/Temesvár zu sprechen. Die wegen illegalen Grenzübertritts Festgenommenen behaupten, die rumänische Grenzpolizei würde Flüchtlinge häufig erschießen und erst nachher Warnschüsse abfeuern.
  • Anfang September habe Dimitru Zsurzs im siebenbürgischen Szanisló bei Bulldozerarbeiten die Leichen von zehn Männern gefunden. Die Leichen waren in Zivilkleidung, ohne Ausweise und ohne Schuhe. Er hat den Fund den Behörden gemeldet.
  • Am 28. Juli 1988 seien Tamas Marton und Janos Balazs, rumänische Staatsbürger aus der ungarischen Minderheit, beim versuchten Grenzübertritt direkt an der Grenzlinie erschossen worden.
  • Am 5. September hatte György Vanya zusammen mit 20 Männern aus der ungarischen Minderheit versucht, die Grenze zu Ungarn zu überschreiten. Sie wurden von der Grenzpolizei festgenommen. Vanya wurde als Organisator „sonderbehandelt“. Er wurde so zusammengeschlagen, daß er nach wie vor im Krankenhaus Oradea/Nagyvárad liege.

Vor etwa zwei Monaten ging die größte oppositionelle Gruppierung des Landes, das Ungarische Demokratische Forum, an die Öffentlichkeit. Nach Informationen von Flüchtlingen liegen die Leichen von 18 Personen, die beim illegalen Grenzübertritt aus Siebenbürgen von rumänischen Grenzsoldaten erschossen worden, auf ungarischem Boden versteckt.

Die renommierte Zeitung „Magyar Nemzet“ druckt die Behauptung. Ungarische Grenzorgane und die örtliche Polizei recherchieren, es wird an den angegebenen Stellen gegraben. Das Demokratische Forum dementiert, „Magyar Nemzet“ dementiert, ebenso der ungarische Rundfunk, das Fernsehen. Andere Quellen sind in ihren Behauptungen noch weiter gegangen: Tausende, die von der geplanten Dorfzerstörung betroffen seien, hätten Selbstmord verübt. Hunderte Opponenten aus der ungarischen Minderheit seien ohne Gerichtsverfahren hingerichtet worden. Der ungarische Staatssekretär im Außenministerium, Gyula Horn, äußerte sich in Genf bei der Sitzung der UNO-Kommission für Menschenrechte realistischer: „Unserem prinzipiellen Standpunkt entsprechend ist es Recht und gleichzeitig auch Pflicht der ungarischen Regierung, das Wort gegen die Verletzung der grundlegenden Menschenrechte und innerhalb dessen der Rechte der Nationalitäten zu erheben. Es erfüllt uns deshalb mit Besorgnis ..., daß in Rumänien die grundlegenden Menschenrechte und Freiheitsrechte schwer verletzt werden ...“ Der internationalen Öffentlichkeit ist es nicht unbekannt, daß in Rumänien nicht nur die bürgerlichen und politischen Rechte der einzelnen Personen sowie der Nationalitäten, sondern auch ihre sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte beeinträchtigt werden. An der Rede Anfang März überraschte die für den diplomatischen Sprachgebrauch klare Attacke gegen Rumänien und die Argumentation auf der Ebene der Menschenrechte. Die Kommission hat in der Folge Rumänien für Verstöße gegen die Menschenrechte verurteilt. Ungarn ist das einzige Land des Warschauer Paktes, das die UNO-Konvention für Menschenrechte unterzeichnet hat. Ein Reflex der Westwärtsbewegung in Ungarn?

Ungarische Flüchtlingspolitik

Seit etwa einem Jahr nimmt Ungarn Flüchtlinge aus Rumänien auf. Sie werden als Konventionsflüchtlinge anerkannt. Da aus ungarischer Sicht alle rumänischen Staatsbürger massiv unterdrückt werden, ist es seitens der Asylsuchenden auch nicht erforderlich, eine politische Verfolgung nachzuweisen. Dem war nicht immer so. Noch im Sommer letzten Jahres gab es Berichte von Fällen der Ablehnung nicht-ungarischer Flüchtlinge, vor allem von Rumänen und Zigeunern, die zur rumänischen Grenze zurückgeschickt oder in andere Staaten abgeschoben wurden. Der ungarische Innenminister Gal bestätigte dies, behauptete aber: „Es hat tatsächlich derartige Fälle gegeben, aber unter diesen waren Kriminelle, Drogenabhängige, Geisteskranke und Minderjährige.“ Mittlerweile würden jedenfalls, so die offizielle Auskunft, alle Asylwerber aufgenommen. Offiziell sind 17.000 Flüchtlinge angemeldet, inoffiziell seien es an die 30.000, sagt man. Die Flüchtlinge sind in Privatwohnungen und Pensionen untergebracht, Flüchtlingslager in Ostungarn sind jedoch in Planung.

Eva Maria Barki ist Anwältin. Sie vertritt Flüchtlinge aus Rumänien. „Die Flüchtlinge sind total verängstigt; sogar wenn sie zu mir als Klienten kommen, ist es schwierig, etwas aus ihnen herauszubekommen, und dann ersuchen sie um Verschwiegenheit. Manche stehen noch unter einer Art Schock“, erzählt sie. „Das ist allerdings unabhängig von der Volkszugehörigkeit so, bei Rumänen genauso wie bei der ungarischen Minderheit. Alle haben Angst.“ Julia Antal ist bereit zu einem Interview. Die zwanzigjährige Frau aus der ungarischen Minderheit in Brasov/Rumänien lebt nunmehr als anerkannter Flüchtling in Budapest: „Ich versuchte, einen Studienplatz an Universitäten in Rumänien zu bekommen, es gibt aber keine ungarischen Universitäten mehr; in Rumänisch habe ich die Aufnahmsprüfung nicht bestanden. Ich kann nicht einmal Ungarisch-Lehrerin werden. Und wenn ich eine Lehrerin wäre, könnte ich keine Klassen führen, weil es kaum noch ungarische Schulen gibt. Wenn ich keine Klasse habe, habe ich keinen Job. Und eine entsprechende Stelle zu bekommen, ohne einen rumänischen Namen zu haben, ist unmöglich. So kannst Du nirgendwo im Berufsleben Deine Muttersprache verwenden. Und überall rundherum um Dich ist die Polizei.“ Auch Sandor G. sagt: „Es ist ein Horror.“ Der ehemalige Lehrer aus dem Kreis Cluj/Klausenburg/Kolosvár ist mit Frau und zwei Kindern nach Budapest geflüchtet. „Zuerst hatte ich meinen Job verloren, als ich versuchte, für eine stärkere Förderung des Ungarisch-Unterrichts zu arbeiten, mußte jahrelang als Hilfsarbeiter gehen. Als man erfuhr, daß das Dorf meines Vaters ‚systematisiert‘ wird, wollte ich nicht auf die Bulldozer warten und bin mit einem Touristenvisum fort. Meine Eltern sind aber geblieben. Hier hab’ ich sofort Arbeit gefunden, als Lehrer.“ Ein Hilfsprogramm in der Höhe von 300 Millionen Forint sorgt für Unterkunft und Arbeit, die auch alle Flüchtlinge erhalten. Sie sind seitens der Bevölkerung in der nationalbewußten ungarischen Gesellschaft derzeit auf jeden Fall willkommen.

Siebenbürgen als innerrumänisches Problem

Ohne Zweifel hat sich die rumänische Politik gegenüber den Minderheiten stark verändert. Grundsätzlich ist ein Nationalitätenstatut aus dem Jahre 1945 in Kraft, das als vorbildlich gelten konnte. Allen ethnischen Minderheiten wurde die Gleichstellung und Gleichbehandlung mit den Rumänen zugesichert sowie des weiteren muttersprachlicher Unterricht auch an höheren Schulen, Zulassung der Muttersprache einer nationalen Minderheit als Amts- und Gerichtssprache in Gemeinden und Bezirken, in denen diese Minderheit mindestens 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht, zweisprachige Ortstafeln, eigene Presseorgane. Die ungarische Universität in Kolosvár/Cluj/Klausenburg wurde als Bolyai-Universität mit 13 Fakultäten und ungarischen Professoren wiedereröffnet. Die ungarische Minderheit war in der Nachkriegszeit auf jeden Fall mit erheblichen Sonderrechten ausgestattet, 1952 wurde mit der Einführung einer neuen Verfassung eine „Autonome Magyarische Region“ errichtet. Das Jahr 1971 markiert eine grundlegende Wende der Nationalitätenpolitik. Den nationalen Minderheiten wurden in der Folge durch das Verbot von nicht-rumänischen Ortsnamen, durch die teilweise empfindliche Hinaufsetzung der Mindestschülerzahlen zur Errichtung von Nationalitätenschulen sowie durch weitgehende Angleichung der Minderheitenpublikationen an die rumänischen Presseorgane die Möglichkeiten der Entwicklung der nationalen Identität eingeengt. Am 11. Parteitag der rumänischen KP im Jahre 1974 wurde schließlich von Staats- und Parteichef Nicolae Ceaucescu das Ziel einer neuen Nationalitätenpolitik formuliert: „Es wird in absehbarer Zukunft keine Nationalitäten mehr geben, sondern nur noch eine sozialistische Nation.“ Mittlerweile hat sich die Lage der Minderheiten weiter verändert: die ungarische Universität wurde geschlossen, die Zahl der Schulen hat sich laufend reduziert, die eigenständige Kulturarbeit via Zeitungen und Publikationen ist erschwert worden. Derzeit gibt es acht ungarischsprachige sowie sechs deutschsprachige Zeitschriften in Rumänien, anstelle von früher fünf gibt es nunmehr ein einziges ungarisches Theater. Radio- und Fernsehsendungen in Minderheitensprachen haben zur Gänze aufgehört. Der Druck der rumänischen Bevölkerung auf die Ungarn im Lande hat sich auch im Zuge der bilateralen Auseinandersetzungen mit dem Nachbarstaat erhöht: die internationale Menschenrechtsvereinigung Helsinki-Watch-Group berichtet über eine Reihe von Fällen, in denen die Verwendung der ungarischen Sprache in der Öffentlichkeit mit tätlichen Angriffen geahndet wurde. War in den vierziger und fünfziger Jahren die ungarische Minderheit eindeutig besser gestellt als die deutschsprachige, so ist es derzeit umgekehrt. Die Bundesrepublik hat in den letzten Jahren etwa 30 Prozent dieser Minderheit zur Auswanderung „freigekauft“, im Gleichklang mit ökonomischen Interessen der rumänischen Regierung.

Heute leben in Rumänien rund 2 Millionen Ungarn, der Großteil davon in Nordsiebenbürgen, 250.000, die sogenannten Csángo in Moldavien; des weiteren etwa 300.000 Deutschsprachige, 230.000 Zigeuner, 26.000 Juden und über 200.000 Personen aus sonstigen Minderheiten. Und rund 20 Millionen Rumänen. Zur Zeit läuft in Rumänien eine tiefgreifende Gesellschaftsreform unter dem Titel „sistematizarea“, die einen Modernisierungsschub in den ländlichen Regionen zum Ziel hat und seit 1965 in Planung ist. Bekannterweise sollen 7.000 bis 8.000 der insgesamt 13.000 Dörfer des Landes in rund 600 agroindustriellen Komplexen zusammengefaßt werden. Die meisten Dörfer in Siebenbürgen sollen zerstört werden. Dies betrifft in hohem Maß die bäuerlichen ungarischen und deutschsprachigen Bewohner, für die die Umsiedlung das ethnische und kulturelle Aus bedeutet, ebenso aber viele rumänische Dörfer. Die geschätzte Zahl der betroffenen ungarischen Ortschaften geht weit auseinander und liegt zwischen 600 und 1.500. Wie aus jüngsten Mitteilungen westlicher Botschaften in Bukarest hervorgeht, dürfte sich die Dorfzerstörung entgegen anderslautenden Berichten in Siebenbürgen nach wie vor im Planungsstadium befinden, während in der Region um die Hauptstadt selbst damit bereits begonnen worden ist.

Nicht zufällig scheint das Schwergewicht der Maßnahmen auf dem Landesteil Siebenbürgen zu liegen, der in historischer Konkurrenz mit dem sogenannten Regat (Altrumänien) liegt. Unter anderem steht auch die Vereinheitlichung des Landes auf dem Plan, die Angleichung des multinationalen, agrarischen Landesteils an den zunehmend industrialisierten Zentral- und Ostteil des Landes. Unter dem aus dem Regat stammenden Ceaucescu wurde dieser Prozeß weiter vorangetrieben. Ein Bevölkerungsaustausch ist im Gange. Unter dem Einsatz von Stimulanzien und im Zuge einer Bevölkerungsverteilungspolitik werden in Siebenbürgen Wohnhafte ins Regat verschoben und umgekehrt. Dies betrifft auch die rumänischen Bewohner des Landesteils. Zumindest zum Teil ist das Siebenbürgen-Problem als innenpolitische Frage Rumäniens zu sehen.

Historische Spannungen

Die Sichtweise in Ungarn ist klarerweise eine andere. Vom Hochmittelalter bis 1919 war Siebenbürgen — oder Transsylvanien, wie die historische Bezeichnung lautet — Teil der ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie. Von 1940 bis 1944 wurde der nördliche Landesteil auf Grund nationalsozialistischer Machtpolitik nochmals Ungarn zugesprochen. Migrationsprozesse führten Mitte des 18. Jahrhunderts dazu, daß diese Region bereits damals mehrheitlich rumänisch besiedelt war. Während des gesamten 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Doppelmonarchie blieb dies unverändert. Die rumänische Bevölkerungsgruppe war allerdings in den politischen Vertretungskörpern unterrepräsentiert sowie einem starken Magyarisierungsdruck ausgesetzt und gesellschaftlich diskriminiert. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fand im Frühjahr 1919 ein kurzer Krieg zwischen Ungarn und Rumänien statt, wobei die Armee der Ungarischen Räterepublik unter Bela Kun von der rumänischen Armee zurückgeschlagen wurde. Transsylvanien wurde dem Königreich Rumänien angeschlossen. 1940 gerieten die Rumänen in Siebenbürgen unter Horthy erneut unter ungarischen Druck. Siebenbürgen ist also auch ein Synonym für den historischen Konflikt zweier Staaten.

Siebenbürgen hat jedoch auch eine innerungarische Dimension. Es hat Integrationscharakter. Insbesondere die Opposition hatte sich jahrelang an der Thematik aufgebaut. Regierung und KP haben sich angeschlossen, angesichts der ökonomischen und sozialen Probleme Ungarns erfüllt Siebenbürgen eine wichtige Funktion. Die gesellschaftlichen Prozesse in diesem Zusammenhang sind jedoch durchaus ambivalent. So betreibt der ungarische Staat nach einem Jahrhundert ausgeprägter Magyarisierung seit geraumer Zeit eine relativ großzügige Minderheitenpolitik. Die kulturellen Zugeständnisse an die fast zur Gänze assimilierte deutsche Minderheit, die damit verbundene Folklorepolitik und die Herzeigefunktion einiger deutscher Dörfer haben den Verdacht entstehen lassen, die Minderheitenpolitik Ungarns habe demonstrativ-politischen Charakter, um gegenüber Rumänien besser argumentieren zu können. Dies scheint in letzter Zeit nicht mehr ganz zuzutreffen. So wurden erst vor kurzem neben den Deutschsprachigen, Slowaken, „Jugoslawen“ (Serben, Kroaten bzw. Slowenen) und Rumänen die Zigeuner als nationale Minderheit anerkannt. Die in der ungarischen Gesellschaft stark diskriminierte Gruppe verfügt über eigene Medien und Kulturverbände. Unlängst wurde in Budapest die Raoul Wallenberg-Gesellschaft gegründet, die sich für eine verbesserte Minderheitenpolitik einsetzt und eigene Schulen sowie spezifische soziale Maßnahmen für die Zigeuner fordert. Ein Gesetzesentwurf ist in Vorbereitung, der den Volksgruppen bestimmte kollektive Rechte einräumt und vor allem ein Mehr an Rechten seitens der Minderheiten gegenüber der ethnischen Mehrheit festschreibt (sog. poszitiv diszcrimináció). Wie so vieles in Ungarn scheint derzeit auch in der Minderheitenpolitik eine rasante Eigendynamik in Gang gesetzt worden zu sein, die die gewohnten Kalküle sprengt.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)