FORVM, No. 108
Dezember
1962

Musik unter Hitler

Musik ist eine unpolitische Kunst. Man kann einer Melodie jeden Text unterlegen, einen weltlichen und einen geistlichen, einen kommunistischen und einen faschistischen. Sie sträubt sich nicht dagegen. Und deshalb läßt sich Musik müheloser als jede andere Kunst für politische Propagandazwecke mißbrauchen. Ja, weil ihre Macht, die Gefühle von Menschenmassen kollektiv zu wecken, unvergleichlich ist, gehört sie zu den beliebten Vehikeln politischer Stimmungsmache. Es gibt Melodien, die aus diesem Grunde eine Art Symbolkraft bekommen haben, einfach, weil sie bestimmten Machtgruppen als Werkzeuge der Repräsentation dienten, obwohl sie von ihren Urhebern ganz anderen Zwecken zugedacht waren. Solchen Melodien haftet dann für alle Zeit ein Makel an, eine Aura von Demagogie und mitunter von Verruchtheit und kriminellem Glanz, der sich mit dem Inbild einer Epoche ganz untrennbar vereint für die Ohren derjenigen, die diese Epoche miterlebt haben. Der Badenweiler Marsch ist von dieser Art: eine schneidige Melodie, lange vor 1933 schon bekannt und gern gespielt, durch den unerforschlichen Ratschluß des Schicksals aber zur Lieblingsmelodie Hitlers geworden und dadurch unentbehrliche Klangkulisse seiner Erdenbahn.

Ich persönlich kann das Stück nicht mehr hören, ohne von bösen Assoziationen erfüllt zu werden, ohne mir Glanz und Elend des Dritten Reichs vorzustellen. Und nicht viel anders geht es mir mit dem Zitat aus Franz Liszts symphonischer Dichtung „Les Préludes“, das — weiß Gott ohne Zutun ihres wehrlosen und lange verstorbenen Urhebers — im zweiten Weltkrieg zum Auftakt mehr oder minder siegreicher Sondermeldungen wurde, bis dann die wetterwendische Gunst des Schicksals an ihre Stelle immer häufiger das Klangsymbol der Niederlage, den Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“, treten ließ.

Hinter diesen Symbolen, zu denen man noch das hinkende Horst Wessel-Lied und die Fanfaren der Nürnberger Parteitage fügen könnte, trat das eigentliche Musikleben der Hitlerzeit fast in die Anonymität zurück, wie denn immer das kulturelle Geschehen neben dem politischen Geschehen die zweite Stelle einnimmt — vor allem in Staatssystemen, die das Gegenteil behaupten und angeblich nichts anderes im Sinne führen als die Rettung der Kultur.

Kultur: das war ein Lieblingswort der nationalsozialistischen Rhetorik, und sie hatten alle ihre intimen Beziehungen zu den Musen, die Machthaber jener angeblichen tausend Jahre, von Adolf Hitler selbst, der sich zwischen den „Meistersingern“ und der „Butterfly“ nicht ganz entscheiden konnte, bis zu Reinhard Heydrich, der so gern in den Ruhepausen der Massentötung die Bach’schen Solo-Violinpartiten spielte, und bis zu den SS-Mannschaften der Vernichtungslager, die sich ihre Freizeit durch prominente Spieler klassischer Musik verschönern ließen. Was wollten sie denn eigentlich für eine Kultur, und was haben sie zustande gebracht?

Die Antwort ist zunächst und vor allem negativ. Denn sie wurde anfangs vorwiegend durch eine Organisation gegeben, die sich Kampfbund für deutsche Kultur nannte und der nicht eben die Elite der deutschen Intelligenz angehörte. Für die Gesinnung, die dort herrschte, mag das Wort stehen, das 1933 auf die Frage erwidert wurde, was denn mit dem Musikleben werden solle, würden ohne Rücksicht auf Qualität alle unerwünschten Musiker ausgeschaltet sein. Die Antwort darauf lautete: „Lieber schlechte Musik als undeutsche Musik!“

In den ersten Wochen nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 änderte sich im Musikleben wenig. Am 3. Februar kam in der Berliner Städtischen Oper Wagners „Fliegender Holländer“ heraus, die letzte Inszenierung Carl Eberts, die letzte Premiere, die Dr. Fritz Stiedry leitete. Am 4. März gab man im selben Haus Hermann von Waltershausens „Oberst Chabert“, dirigiert von dem ebenfalls jüdischen Paul Breisach. Eine Woche danach wurde Carl Ebert nebst seinem Generalmusikdirektor Stiedry fristlos abgesetzt. Damit endete eine der kürzesten, aber erfolgreichsten Epochen in der deutschen Operngeschichte.

Wenige Tage vorher, am 7. März, ging der Dresdner Generalmusikdirektor Fritz Busch nachmittags ins Theater, wo er abends „Rigoletto“ zu dirigieren hatte. Aus der Ensembleprobe mit den Sängern wurde er durch einen baumlangen SA-Mann auf die Bühne geholt. Dort stand vor einem Halbkreis von bewaffneten SA-Leuten ein Schauspieler und hielt eine Rede, in der er Busch als nicht verwendbar und abgesetzt erklärte, seine Nachfolger nannte, ihn aber gleich darauf bat, die Vorstellung zu dirigieren. Als Busch ans Pult kam, wurde er von einem überwiegend aus SA-Leuten bestehenden Publikum niedergeschrien. Der Kapellmeister Kurt Striegler, der ganz gegen seine Gewohnheit zufällig im Hause war, übernahm die Vorstellung.

Am nächsten Tag wurde auch der Generalintendant Reucker seines Postens enthoben. Wieder einen Tag danach bat der mittlerweile zum stellvertretenden Intendanten ernannte Schauspieler Alexis Posse den abgesetzten Fritz Busch, er solle weiterhin dirigieren. Auf die Frage, was denn gegen ihn vorliege, erhielt Busch die Antwort: 1) zuviel privater Verkehr mit Juden, 2) bevorzugte Beschäftigung jüdischer und ausländischer Sänger an der Dresdner Oper, 3) zu häufige Abwesenheit und 4) ein zu hohes Gehalt. Busch lehnte jede weitere Tätigkeit in Dresden ab, fuhr nach Berlin, erlebte dort die Amtsvertreibung Carl Eberts, dem man beim Abendessen im Restaurant Kempinski mitteilte, seine Oper sei von SA besetzt. Busch wurde von Göring zu einer Unterredung empfangen, wobei ihm der mächtige Mann Rehabilitierung versprach. Das Versprechen wurde nicht gehalten. Ebert und Busch verließen bald danach Deutschland.

Im selben Monat März 1933 wurde dem Gewandhausorchester in Leipzig durch die Reichsregierung verboten, sein für den 16. angesetztes Konzert unter Leitung Bruno Walters durchzuführen. Kurze Zeit danach sollte Walter eines seiner Abonnementkonzerte mit den Berliner Philharmonikern leiten. Er hatte Bedenken und wandte sich an seine Konzertdirektion Wolff & Sachs, die versuchte, ihm polizeilichen Saalschutz zu erwirken. Erich Sachs telephonierte mit dem damaligen Staatssekretär im Propagandaministerium, Walter Funk, der ihm befahl, das Konzert stattfinden zu lassen, aber unter einem anderen Dirigenten. Die Affäre endete damit, daß man Richard Strauss, der sich anfangs geweigert hatte, den Wunsch der Reichsregierung übermittelte, er solle an Walters Stelle dirigieren. Die Boten waren zwei Journalisten, darunter der Kritiker des „Völkischen Beobachters“, Hugo Rasch. Strauss gab nach, verzichtete zugunsten des Orchesters auf sein Honorar und dirigierte in der Philharmonie, die von vielen Abonnenten der Bruno Walter-Serie demonstrativ gemieden wurde.

Diese und einige andere Ereignisse wurden in der ganzen Welt mit Bestürzung und Empörung zur Kenntnis genommen. Am 1. April richteten elf prominente Musiker der Vereinigten Staaten — Harold Bauer, Arthur Bodanzky, Frank und Walter Damrosch, Ossip Gabrilowitsch, Rubin Goldmark, Alfred Hertz, Sergej Kussewitzky, Charles Martin Loeffler, Fritz Reiner und Arturo Toscanini — ein Telegramm an „S. Exzellenz, den Reichskanzler Adolf Hitler“, in dem sie meinten, er könne die Verfolgung von Musikern aus politischen und religiösen Gründen doch nicht billigen und möge ihr ein Ende setzen. Die einzige Antwort auf diesen naiven Appell war, daß der Kommissarische Leiter des deutschen Rundfunks alle Werke und Schallplatten der elf Musiker von den Programmen absetzte.

Nun trat Wilhelm Furtwängler ins Blickfeld, besser gesagt: ins Schußfeld. Er genoß auch bei den Nazis hohes Ansehen, weil er unter den deutschen Musikern von Weltgeltung zu den wenigen gehörte, denen man ihr sogenanntes Ariertum bestätigen konnte. Furtwängler beurteilte die politische Situation mit Sorge, aber auch mit Naivität. Er glaubte sich nichts zu vergeben, als er am 21. März, dem Tag von Potsdam, in der Berliner Staatsoper eine Festaufführung der „Meistersinger“ leitete.

Tatsächlich war die Berliner Staatsoper nicht nur damals, sondern auch noch einige Jahre danach, jedenfalls aber viel länger als alle anderen deutschen Theater, ein Asyl für gewisse Reste von Toleranz und Liberalismus. Daran war nicht nur der ungemein geschickte und diplomatisch begabte Generalintendant Heinz Tietjen schuld, sondern später auch ihr Schirmherr, Preußens Ministerpräsident Hermann Göring. Und wenn nicht immer nur menschliche und künstlerische Gründe ihn zu manchen Zugeständnissen bewegten, so waren die Resultate doch erfreulich. So hat Göring Leo Blech, Alexander Kipnis und einige andere jüdische und halbjüdische Künstler jahrelang in Tietjens Ensemble gehalten. Dadurch und durch andere Maßnahmen, die in Gegensatz zu den Parteidoktrinen und zur sogenannten nationalsozialistischen Kulturpolitik standen, konnte Göring seinem Theater einen Standard oberhalb und außerhalb der Generallinie aller anderen deutschen Bühnen sichern, die sämtlich Josef Goebbels unterstanden. Es war ja gerade die Rivalität dieser beiden Naziführer in Fragen der Kunsthegemonie, die bei dem liberaleren von beiden, bei Hermann Göring, so erfreuliche Folgen hatte.

Im Frühjahr 1933 bereitete Furtwängler, wie jedes Jahr, die Berliner Philharmonischen Konzerte der Saison 1933/34 vor. Er wandte sich in persönlichen Briefen an eine Elite weltberühmter Künstler, die er aufforderte, so wie in früheren Jahren als Solisten in seinen Konzerten mitzuwirken. Es waren Pablo Casals, Alfred Cortot, Josef Hofmann, Bronislaw Hubermann, Fritz Kreisler (der noch bis 1939 seine Grunewaldvilla in Berlin bewohnte), Yehudi Menuhin, Gregor Piatigorsky, Jacques Thibaud und Arthur Schnabel. Fast alle sagten ab. Schnabel, der noch mit triumphalem Erfolg einen Zyklus aller Beethoven-Sonaten absolviert hatte, verließ im Mai mit seiner Familie Deutschland. Nur Josef Hofmann und, nach anfänglicher Absage, auch Cortot erschienen in der folgenden Saison in Berlin.

Der bedeutendste Absagebrief kam von Bronislaw Hubermann, nachdem ihn Furtwängler zum zweitenmal gebeten hatte, bei ihm zu spielen. Hubermann antwortete:

Lieber Freund, ... ich möchte das Musizieren als eine Art künstlerischer Projektion des Besten, Wertvollsten im Menschen bezeichnen. Kann man diesen eine völlige Selbsthingabe voraussetzenden Sublimierungsprozeß von einem Künstler erwarten, der sich in seiner Menschenwürde mit Füßen getreten fühlt und offiziell zu einem Paria degradiert wird: dem von den bestallten Hütern deutscher Kultur in geflissentlicher Unterschlagung der nunmehr einwandfrei nachgewiesenen halbjüdischen Abstammung Richard Wagners einerseits, der historischen Rolle eines Mendelssohn, Anton Rubinstein, Hermann Levi, Josef Joachim u.a. im deutschen Musikleben anderseits, rassenmäßig die Fähigkeit zum Verständnis der ‚rein deutschen Musik‘ abgesprochen wird?

Sie versuchen mich mit dem Satz zu überzeugen, daß ‚einer den Anfang machen muß, um die trennende Wand zu durchbrechen‘. Ja, wenn es sich nur um eine Wand im Konzertsaal handeln würde! Aber diese Frage einer mehr oder minder berufenen Interpretation eines Violinkonzertes ist nur einer der mannigfachen Aspekte — und weiß Gott nicht der wichtigste! — unter denen sich das eigentliche Problem verbirgt. In Wahrheit geht es nicht um Violinkonzerte, auch nicht um Juden, es handelt sich um die elementarsten Voraussetzungen unserer europäischen Kultur: die Freiheit der Persönlichkeit und ihre vorbehaltlose, von Kasten und Rassenfesseln befreite Selbstverantwortlichkeit! Ob diese mit Gut und Blut erkämpften Errungenschaften unserer Väter wieder zur Herrschaft gelangen, das wird nicht durch die Bereitschaft des Einzelmenschen entschieden, der als ‚Erster die trennende Wand durchbricht‘, sondern, wie in der Vergangenheit, von dem Gewissen und der darüber unüberhörbaren Forderung der Gemeinschaft, die, einmal erwacht, alle Widerstände mit Naturgewalt wie papierene Wände durchbrechen wird.

Ich kann diesen Brief nicht schließen, ohne meinen tiefsten Schmerz über die Ursachen auszudrücken, die mich augenblicklich von Deutschland trennen. Ganz besonders empfinde ich diesen Schmerz als Freund meiner deutschen Freunde, als Interpret der deutschen Musik, die den Widerhall des deutschen Publikums sehr entbehrt. Und nichts könnte mich glücklicher machen als die Wahrnehmung eines sich auch außerhalb des Konzertwesens anbahnenden Umschwunges, der mich von dem meine Seele zutiefst treffenden Gewissenszwang, Deutschland zu entsagen, befreien würde.

Der Brief trug das Datum des 31. August 1933 und wurde von der Weltpresse veröffentlicht.

Inzwischen war im deutschen Musikleben unter anderem folgendes geschehen: Am 23. März verließ Leo Kestenberg, Ministerialrat im preußischen Kultusministerium, 1932 durch die Papenregierung in den Ruhestand verstoßen, einer der führenden Köpfe im deutschen Musikleben, unter dem Eindruck einer Göring-Rede fluchtartig Berlin und ging nach Prag. Am 1. März fand eine Sitzung der Preußischen Akademie der Künste statt, in der diskriminierende Äußerungen gegen sogenannte Nicht-Arier fielen. Arnold Schönberg schrieb am 20. März an die Akademie:

Einer, der wie ich in politischer und moralischer Hinsicht unangreifbar dasteht, der durch den Verzicht auf seinen Wirkungskreis in seiner künstlerischen und menschlichen Ehre aufs tiefste gekränkt wird, sollte nun dazu auch in seiner wirtschaftlichen Lebensmöglichkeit gefährdet, ja mit dem Untergang bedroht werden.

Am 23. Mai bekam er einen vom Präsidenten Max von Schillings unterzeichneten Brief:

Der Herr Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung hat mich ermächtigt, Sie als Verwalter einer Meisterschule für musikalische Komposition mit sofortiger Wirkung von Ihrer dienstlichen Tätigkeit zu beurlauben. Weitere Bestimmungen behält sich der Herr Minister vor.

Franz Schreker bekam ein inhaltlich gleiches Schreiben. Er blieb in Berlin, wo er ein Jahr später starb. Schönberg dagegen verließ im Mai 1933 Deutschland. Die offizielle Kündigung, datiert vom 18. September 1933, erhielt er im französischen Exil.

Im April hatte Furtwängler in einem Brief an Goebbels für jüdische Künstler wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Max Reinhardt plädiert, und zwar im Namen des deutschen Musiklebens, das, durch die Weltkrise und das Radio ohnehin schon geschwächt, keine Experimente mehr vertrage. Goebbels antwortete:

Kunst im absoluten Sinne, so wie der liberale Demokratismus sie kennt, darf es nicht geben ... Gut muß die Kunst sein, darüber hinaus aber auch verantwortungsbewußt, gekonnt, volksnah und kämpferisch.

Daß sie keine Experimente mehr verträgt, gestehe ich gerne zu. Es wäre aber angebracht gewesen, gegen künstlerische Experimente zu protestieren in einer Zeit, in der das deutsche Kunstleben fast ausschließlich von der Experimentiersucht volks- und rassefremder Elemente bestimmt ... wurde ... Darüber zu klagen, daß hier und da Männer wie Walter, Klemperer, Reinhardt (sic!) usw. Konzerte absagen mußten, erscheint mir im Augenblick umso weniger angebracht, als wirkliche deutsche Künstler in den vergangenen vierzehn Jahren überhaupt zum Schweigen verurteilt waren.

Am 5. Juni 1933 sagte Arturo Toscanini seine Mitwirkung bei den Bayreuther Festspielen ab. Inzwischen waren die Berliner Philharmoniker in eine recht schwierige Lage geraten. Furtwängler stellte sich mit seiner ganzen Autorität vor seine jüdische Sekretärin Dr. Bertha Geissmar und jüdische sowie halbjüdische Orchestermitglieder. Anläßlich eines Konzertes im April teilte ihm der anwesende Goebbels mit, das Orchester sei künftig ihm, Goebbels, unterstellt. Nun aber blieben die Zahlungen aus, die bis dahin von der Stadt Berlin und vom preußischen Staat geleistet worden waren. Im Juli 1933, so berichtet Bertha Geissmar in ihrem Erinnerungsbuch „Musik im Schatten der Politik“, stand das Orchester vor dem Bankrott. Man teilte Hitler mit, daß es zum 1. August seine Zahlungsunfähigkeit anmelden müsse. Hitler befahl, daß der Skandal vermieden werde, und ließ Furtwängler zu sich auf den Obersalzberg kommen.

Hier kam es zu einer zweistündigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern, bei der es sehr heftig zugegangen sein soll. Furtwängler berichtete telephonisch der Geissmar, ihm sei nun klar, daß Hitler allen geistigen Dingen feindlich gesinnt sei. Das Gespräch wurde abgehört. Trotzdem war das Orchester gesichert. Es wurde am 26. Oktober vom Reich übernommen, ohne daß der Arier-Paragraph auf seine Mitglieder angewandt werden sollte. Tatsächlich blieb das Orchester während der ganzen Hitlerzeit verhältnismäßig integer. Als es 1945 politisch gesäubert werden mußte, waren von den 110 Mitgliedern nur acht in der NSDAP gewesen.

Furtwängler war trotz der Opposition, die er vielfach den Nazis entgegensetzte, trotz ihrer Brüskierung — z.B. anläßlich eines Konzertes in Mannheim, wo er statt zu einem Souper mit den NS-Führern zu der Familie seiner jüdischen Sekretärin ging — von der Regierung zu mancherlei öffentlichen Funktionen und Ehrungen ausersehen. Goebbels gründete am 15. November 1933 die Reichskulturkammern, zu denen die Reichsmusikkammer gehörte. Präsident war Richard Strauss; Vizepräsidenten waren der von den Nazis hochgeschätzte und mit ihnen sympathisierende Paul Graener sowie Furtwängler; Mitglieder des Vorstandes der Regerschüler Fritz Stein, der Geiger Gustav Havemann; Sekretär war Heinz Ihlert. Strauss behauptete, daß seine Zustimmung zur Ernennung zum Präsidenten von Goebbels gar nicht abgewartet worden sei, und zog sich im Sommer 1935 von fast allen Ämtern zurück.

Furtwängler glaubte immer noch, seine eigenen kulurellen Ideen durchsetzen zu können, die auf dem — auch von den Nazis immer wieder betonten, aber nie befolgten — Leistungsprinzip beruhten. Er geriet dadurch, fast ohne es zu merken, immer stärker in geistige Opposition. Diese fand ihren demonstrativen Ausdruck, als er am 12. März 1934 in der Berliner Philharmonie mit seinem Orchester Paul Hindemiths Symphonie „Mathis der Maler“ zur Uraufführung brachte. Der Erfolg des Stücks und seiner Wiedergabe war triumphal. Vor allem die Komponisten der jungen Generation bekannten sich leidenschaftlich zu dieser Musik, deren Urheber ja seit Jahr und Tag eine Zielscheibe für die Angriffe des Kampfbundes und der Parteipresse, namentlich des stets braun uniformierten Hugo Rasch im „Völkischen Beobachter“, war.

Hindemith war eine Art Sinnbild für das geworden, was die NS-Ideologie unter „entarteter Musik“ verstand. Obwohl selbst Arier, war er mit einer Halbjüdin verheiratet und obendrein mit dem verhaßten Rundfunkintendanten Dr. Hans Flesch verschwägert. Man warf ihm jüdischen Umgang, Verwendung von Jazzrhythmen, Vertonung von Bertolt Brechts Texten (etwa dem berühmten „Baden-Badener Lehrstück“), Obszönität, undeutsche Haltung und Kulturbolschewismus vor. Angeblich hatte Hitler selbst eine Aufführung von „Neues vom Tage“ in Otto Klemperers Kroll-Oper gehört und an der Szene Anstoß genommen, da die Heldin, in der Badewanne sitzend, eine Arie über die Vorzüge der Warmwasserversorgung singt. Goebbels wurde später nicht müde, auf diese — wie er sich ausdrückte — Schamlosigkeit hinzuweisen.

Im Lauf des Jahres 1934 spitzte sich vor allem der Kampf um moderne Musik zu. Atonalität und Zwölftontechnik waren als jüdische Erfindungen gebrandmarkt. Die Werke Schönbergs, aber auch seiner nichtjüdischen Schüler Alban Berg und Anton von Webern waren unerwünscht. Als ich am 2. Dezember 1933 in der „B. Z. am Mittag“ einen Glückwunsch zum 50. Geburtstag Weberns veröffentlichte und schrieb

in ihrer thematischen Gedrängtheit, in der Überspitzung kleinster Akzente, in ihrer radikalen Entmaterialisierung ist diese Musik nur einer Elite geschultester Ohren zugänglich

und auf Weberns ethische Kraft sowie die Verdienste der Schönbergschule um das Musikleben hinwies, da hielt mir der Leiter der Fachgruppe Musikkritik entgegen, auf Schönberg träfe die Äußerung des Führers beim Nürnberger Parteitag zu: „... gehören als Gefahr für den gesunden Sinn unseres Volkes in ärztliche Verwahrung ... oder wegen Betruges in eine dafür geeignete Anstalt“.

Da die Internationale Gesellschaft für Neue Musik als kulturbolschewistisch galt und bald verboten wurde, sah man sich nach einer Ersatzorganisation um. Sie wurde am 6. Juni 1934 in dem sogenannten Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten gebildet, dem Richard Strauss vorstand, dessen deutscher Delegierter Emil Nikolaus von Reznicek wurde und dem einige nicht sehr illustre ausländische Komponisten, meist erbitterte Antimodernisten angehörten, wie Wilhelm Kienzl, Andriano Lualdi, Carol Bérard und Ludomir von Rozycki. Aber schon bei dem ersten Musikfest des „Ständigen Rates“ auf deutschem Boden, 1935 in Hamburg, gab es eine Panne. Man hatte als Festoper „Ariane et Barbebleu“ angesetzt, ohne zu wissen, daß der Komponist Paul Dukas Jude war. Natürlich fand die Aufführung nicht statt.

Im September 1934 verbot die Musikkammer das Führen von Künstlernamen, namentlich von ausländisch klingenden, ohne besondere Genehmigung. Am 25. November geschah etwas, das wie eine Revolution wirkte. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ brachte in großer Aufmachung einen Artikel von Furtwängler mit dem Titel „Der Fall Hindemith“.

Um die damalige Stimmung in Deutschland und namentlich in Berlin zu verstehen, muß man sich der Ereignisse des 30. Juni 1934 erinnern. An diesem Tag fand zum erstenmal im Hitlerreich der politische Massenmord in aller Öffentlichkeit statt; er wurde am nächsten Tag in den Zeitungen als Staatsnotwehr ausgegeben und später nachträglich durch ein Gesetz sanktioniert. Furtwängler war inzwischen zum Direktor der Berliner Staatsoper ernannt worden. Er nahm in dieser Eigenschaft Hindemiths Oper „Mathis der Maler“ zur Uraufführung an. Gegen ihn und seine Sekretärin Bertha Geissmar wurde nun ein Kesseltreiben veranstaltet. Dieses erreichte seinen Höhepunkt, als die Reichsmusikerschaft eine Anklage an Hitler, Göring und Goebbels richtete, in der Bertha Geissmars Verhaftung gefordert wurde. Darin hieß es:

Dr. Bertha Geissmar sabotiert durch ihren Verkehr mit Juden und Emigranten im Ausland und durch ihre Verhandlungen mit dem Ausland den Aufbau des nationalen Staates, und es wird daher beantragt, sie in Schutzhaft zu nehmen.

Furtwängler erreichte noch einmal, daß die Sache niedergeschlagen wurde.

In diesem Herbst teilte Görings Sekretariat dem Sekretariat Furtwänglers mit, daß der Reichskanzler die Aufführung der Hindemith-Oper verboten habe. Furtwängler erklärte, er werde die Leitung der Staatsoper niederlegen, sollte das Verbot nicht aufgehoben werden. In dieser Stimmung schrieb er seinen Artikel für die DAZ. Er war eine ausführliche, kulturkritische und analytische Verteidigung Hindemiths, die von dem hohen Ethos schlichter Handwerklichkeit sprach, von dem Abrücken von wilhelminischem Pathos, von der Keuschheit und Zurückhaltung des Gefühls. Der lange Aufsatz schloß:

Vor acht Monaten, als dies Werk erschien, ließ man ihn — vielleicht aus unbewußter Scheu, in kulturelles Werden von außen her einzugreifen — noch so ziemlich in Ruhe. Heute versucht man, ohne daß er inzwischen etwas weiteres veröffentlicht hat, das Versäumte nachzuholen, ihn öffentlich zu diffamieren, ihn — worauf es schließlich hinauskäme — aus Deutschland zu vertreiben. Dazu scheint kein Mittel zu gering; man verschmäht es in diesem Zusammenhang nicht einmal, gelegentliche Persiflagen auf falsch verstandenen Puccini und Wagner, die es von ihm gibt, hervorzuholen — als ob Hindemith nicht wüßte, wer Wagner war! Natürlich lassen sich bei einem Komponisten, der so viel geschrieben hat und dessen Werke gedruckt vorliegen und nur eingesehen werden brauchen, leicht nachträglich ‚Jugendsünden‘ hervorholen. Hindemith hat sich niemals politisch betätigt: wo kämen wir überhaupt hin, wenn politisches Denunziantentum in weitestem Maße auf die Kunst angewendet werden sollte?

Sicher ist, daß für die Geltung deutscher Musik in der Welt keiner der jungen Generation mehr getan hat als Paul Hindemith ... Es handelt sich hier, viel mehr noch als um den besonderen ‚Fall Hindemith‘, um eine allgemeine Frage von prinzipiellem Charakter. Und weiter noch, auch darüber müssen wir uns klar sein: wir können es uns nicht leisten, angesichts der auf der ganzen Welt herrschenden unsäglichen Armut an wahrhaft produktiven Musikern, auf einen Mann wie Hindemith so ohne weiteres zu verzichten.

Das saß. Furtwängler hatte mit dem Satz über politische Denunziation Millionen von Menschen aus der Seele gesprochen. Er wurde am nächsten Morgen bei der Generalprobe eines Philharmonischen Konzerts und abends bei einer „Tristan“-Aufführung der Staatsoper demonstrativ gefeiert. Am 4. Dezember erklärte er, da alles vergeblich gewesen war, seinen Rücktritt.

nächster Teil: Musik unter Hitler (II)
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