FORVM, No. 169-170
Januar
1968

Mutmaßungen über Marcuse

I.

Soziologie als empirische Einzelwissenschaft, „die nichts als Soziologie ist“, versteht sich auf dem heute erreichten Niveau als „wissenschaftlich-systematische Behandlung der allgemeinen Ordnungen des Gesellschaftslebens, ihrer Bewegungs- und Entwicklungsgesetze, ihrer Beziehungen zur natürlichen Umwelt, zur Kultur im allgemeinen und zu den Einzelgebieten des Lebens und schließlich zur sozialkulturellen Person des Menschen“. René König, von dem diese allgemein gehaltene Definition stammt, postuliert dementsprechend, daß „viele Disziplinen, Denksysteme und Doktrinen, die häufig ziemlich wahllos in engster Verbindung mit der Soziologie auftreten, sorgsam von ihr getrennt“, ja „ausgemerzt“ werden müssen, wobei er „insbesondere die Geschichts- und Sozialphilosophie“ meint. [1]

Ein solches rigoroses Postulat wäre überflüssig, wenn die moderne Soziologie bereits als wissenschaftstheoretisch geläuterte und ausgereifte Disziplin der Geistesgeschichte entsprungen wäre. König weiß, daß dies nicht der Fall ist. Gerade die von ihm ausdrücklich als „Begründer der Soziologie“ apostrophierten Franzosen Claude-Henri de Saint-Simon und Auguste Comte fallen unter Königs herbes Verdikt über gewisse „Doktrinengebäude“ und „ideologische Systeme“: „Sie verallgemeinern durchgehend in unkritischer Weise und bewegen sich überhaupt in einer Ebene, in der Erfahrungsbestandteile und Wünsche, aber auch Animositäten und Idiosynkrasien, utopische Programme, gute Absichten und fromme Wünsche munter durcheinanderlaufen.“ [2]

Soziologie und Utopie

Nicht nur dem Worte nach, sondern auch historisch bestand einmal eine intime Verbindung von Soziologie und einem Sozialismus, der seit Marx gerne als „utopisch“ bezeichnet wird. Saint-Simons Vision einer industriellen Gesellschaft ohne Ausbeutung und Gewalt, Comtes „Dreistadiengesetz“ und Vorstellung vom „état final“ sowie der Menschheit als höchstem Wesen sind nur innerhalb eines geschichts- und sozialphilosophischen Systems oder als soziale Utopie legitim. [3]

Die Soziologie untersucht bestehende, die Utopie schildert mögliche Gesellschaften. Seit dem fingierten Insel-Bericht des Thomas Morus, der einer ganzen literarischen Gattung den Namen gegeben hat, kennzeichnet alle Utopien ein eminent sozialer oder — wie man, der antiken Theorie folgend, sagen könnte — politischer Zug. Utopia ist von allem Anfang an „polis“, „res publica“, Stadt und Staat, ein unter idealen Bedingungen funktionierendes Gemeinwesen.

Die abgrundtiefe Verschiedenheit der Utopie von jeglicher wissenschaftlicher Soziologie ist ebenso evident wie problematisch. Denn auch die Utopie bezieht sich auf empirische Tatbestände, mit denen sie gleichsam experimentiert: gerade die insulare Isoliertheit der meisten Utopien ist nicht nur eine Konzession an exotisches Fernweh, sondern ein Indiz für ihren experimentell-konstruktiven Charakter. Ihre „Autarkie“, die Ralf Dahrendorf als totalitäres Merkmal denunziert, [4] unterscheidet sich nur graduell von den bewußt abstrahierenden und artifiziellen Bedingungen, die für moderne wissenschaftliche Forschung überhaupt typisch sind. Utopien sind insofern soziologische Gedankenexperimente, Produkte dessen, was ein Soziologe unserer Zeit, der Amerikaner Charles Wright Mills, mit einem glücklichen Ausdruck „sociological imagination“ genannt hat. [5]

Sind also Utopien gleichsam soziologisch durchtränkt, so liegt die umgekehrte Frage nahe, ob nicht der Soziologie, auch abgesehen von den universalistischen Systemen Saint-Simons und Comtes, ein utopisches Element inhärent, ob sozialwissenschaftliches Denken ohne utopisches überhaupt möglich sei.

Vico hat als erster betont, daß „die Welt der Nationen oder historische Welt“ — zum Unterschied von der „Welt der Natur“ — von den Menschen erkannt werden könne, „weil die Menschen sie gemacht haben“. [6] Jedes Machen ist jedoch teleologisch bestimmt, setzt ein Machenwollen voraus. Vicos zentrale Maxime könnte derart umformuliert werden, daß, im Hinblick auf die gesellschaftliche Welt, das Machenwollen notwendige Bedingung des Erkennens wird. Wo aber anders als im utopischen Denken findet die Idee des Machenwollens ihren reinsten Ausdruck?

So daß also Utopie nicht — wie bei den Stiftern der Soziologie — abschließende Krönung und Synthese sozialwissenschaftlichen Forschens wäre, sondern dessen Voraussetzung? Utopie und Soziologie blieben nach wie vor zwei getrennte Gebiete, jedoch in einem komplementären Verhältnis zueinander. Es ist klar, daß diese Reziprozität um so ausgeprägter sich darstellt, je mehr die Forschung von isolierten soziologischen Daten fortschreitet zur Rekonstruktion der gesellschaftlichen Totalität, oder, um eine allerdings polemisch gemeinte Antithese von René König aufzugreifen, von der „soziologischen Theorie“ zur „Theorie der Gesellschaft“. [7] Von den zeitgenössischen Sozialphilosophen hat — nach Ansätzen bei Karl Mannheim [8] und Hans Freyer [9] — diese Zusammenhänge wohl niemand intensiver reflektiert als Herbert Marcuse, der, lange Zeit im Schatten Walter Benjamins, Ernst Blochs, Th. W. Adornos und Max Horkheimers stehend, erst in jüngster Zeit auf ebenso plötzliche wie problematische Weise einer weiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Im Hinblick auf die Interpretation der Arbeit bei Marx schreibt Marcuse:

Hier liegt mehr als eine Quaestio facti vor, da die entfremdete Arbeit nur im Licht ihrer Abschaffung als Tatsache erscheint. Die Analyse der herrschenden Form von Arbeit ist gleichzeitig eine Analyse der Voraussetzungen ihrer Abschaffung. [10]

Zurückkommend auf diese Bestimmungen charakterisiert Marcuse das gesamte Lebenswerk von Marx:

Die sozialen Tatsachen, die Marx analysierte (beispielsweise die Entfremdung der Arbeit, den Fetischismus der Warenwelt, den Mehrwert, die Ausbeutung) sind solchen soziologischen Tatsachen wie Scheidungen, Verbrechen, Verschiebungen innerhalb der Bevölkerung und Konjunkturzyklen nicht verwandt ... Sie werden nur einer Theorie als Tatsachen sich darstellen, die sie von vornherein im Hinblick auf ihre Negation betrachtet. Marx zufolge besteht die richtige Theorie im Bewußtsein einer Praxis, die auf die Veränderung der Welt abzielt. [11]

An anderer Stelle gibt Marcuse zu verstehen, daß dieses Element utopischen Transzendierens aller großen Philosophie eigentümlich sei. [12] Diesen „überschießenden“ Gehalt“ gelte es auch dann zu bewahren, wenn die philosophischen Systeme, in denen er sich manifestierte, „widerlegt“ worden seien. Anders als ein realitätsgerechter Positivismus habe die kritische Theorie

keine Angst vor der Utopie, als die man die neue Ordnung denunziert ... Das utopische Element war in der Philosophie lange Zeit das einzig fortschrittliche Element: so die Konstruktion des besten Staates, der höchsten Lust, der vollkommenen Glückseligkeit, des ewigen Friedens. [13]

Diese Formulierungen aus dem Jahre 1937, die geradezu programmatisch Marcuses eigene Intentionen zusammenfassen, seien ergänzt durch einen Abschnitt aus dem Jahre 1960, in dem der deutsch-amerikanische Philosoph den kognitiven Charakter des utopischen — Marcuse schreibt, etwas mißverständlich: „eschatologischen“ — Denkens noch präziser herausarbeitet:

Freilich werden unter den gegebenen Bedingungen im Osten und im Westen, insbesondere bei dem Zustand einer Welt, in der Elend, Hungersnot und Knappheit noch immer das Los der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung sind, solche Spekulationen leicht als unverantwortlich oder ‚eschatologisch‘ abgetan. Ich gebe wiederum zu bedenken, daß es historische Situationen geben könnte, in denen die sogenannte eschatologische Ansicht nicht nur die realistischen Möglichkeiten der gegebenen Periode erhellt, sondern auch das Ausmaß, in dem diese Periode die Verwirklichung jener Möglichkeiten hinauszögert, verzerrt und hemmt. [14]

Daß Herbert Marcuse nach wie vor als Utopiker angesprochen werden muß — wie wir ihn nennen wollen, weil das Wort „Utopist“ wohl unheilbar diskreditiert ist —, bezeugen seine jüngsten Veröffentlichungen. 1964 stellte er im Vorwort zu seinen neu herausgegebenen Aufsätzen aus den Dreißigerjahren die lapidare These auf: „Das Denken im Widerspruch muß dem Bestehenden gegenüber negativer und utopischer werden.“ [15]

Sein im gleichen Jahr erschienener ideologiekritischer Traktat „One-Dimensional Man“, [16] auf den wir noch näher eingehen werden, enthält diese Forderung in radikalisierter Form: Denken im Widerspruch, d.h. Dialektik, Negation und Utopie sind für Marcuse zu Momenten ein und derselben Haltung geworden, die er, eine Formel von Alfred North Whitehead aufgreifend, als „große Weigerung“ bezeichnet. [16a]

Utopie und Wirklichkeit

Bevor wir den utopischen Impetus, wie er in den angeführten Zitaten zum Ausdruck kommt, aus dem sozial- und kulturphilosophischen Œuvre Herbert Marcuses näher entwickeln, ist es notwendig, ihn wenigstens in vorläufiger Allgemeinheit zu umschreiben. Utopisch bedeutet im Rahmen unserer Bemerkungen keineswegs illusorisch, wirklichkeitsfremd, wunschtraumhaft oder wie sonst alle die abwertenden Synonyma lauten, mit denen Marx und Engels konkurrierende sozialistische Gruppen und Schulen abgestempelt haben, um davon ihren eigenen Sozialismus als „wissenschaftlichen“ abzuheben, was in einem so wissenschaftsgläubigen Jahrhundert wie dem 19. wohl unvermeidbar war. [17] Gegenüber dem marxistischen Sprachgebrauch, der weitgehend auch von Nichtmarxisten gepflegt wird, hat Marcuses Utopie-Begriff, obwohl er die gegebene Gesellschaft transzendiert, einen empirischen Kern. Er umfaßt die ungenutzten, gehemmten und mißbrauchten Kapazitäten der modernen technisch-industriellen Zivilisation im Hinblick auf einen Zustand, der dem Marx’schen „Reich der Freiheit“ entspricht und den Marcuse als „befriedetes Dasein“ bezeichnet.

Dieser utopische Zielbegriff ist realistisch genug, um nicht als chiliastische Verheißung oder närrischer Wunschtraum abgetan werden zu können, so wenig deshalb geleugnet werden soll, daß in seine explizite Formulierung auch außerwissenschaftliche Überlieferungen mythischer, ästhetischer und philosophischer Art eingegangen sind. Negation, Denken im Widerspruch, Vernunft, befriedetes Dasein usw. sind Formeln und Chiffren, mit denen Marcuse jenen archimedischen Punkt umschreibt, von dem aus er in immer neuen Ansätzen die etablierte Gesellschaft im Lichte ihrer Verneinung, ihrer radikalen Veränderung analysiert.

„Das, was ist, kann nicht wahr sein.“ Zustimmend zitiert Marcuse im „Eindimensionalen Menschen“ diese Sentenz von Ernst Bloch. Doch schon Jahrzehnte früher, als Faschismus und Stalinismus Europa verdüsterten, hatte Marcuse geschrieben: „Wissenschaftlichkeit als solche ist niemals schon eine Garantie für die Wahrheit, und erst recht nicht in einer Situation, wo die Wahrheit so sehr gegen die Tatsachen spricht und hinter den Tatsachen liegt wie heute.“ [18]

Im erkenntnistheoretischen Gegensatz von „Wahrheit“ und „Tatsache“ begegnet uns wiederum das antithetische Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit. Nun hat die Trennung und Kontrastierung von Wahrheit und Faktizität eine lange Tradition: sie findet sich bei so verschiedenen Denkern wie Heraklit, Parmenides, Platon, Hegel, Marx und Heidegger und ist so alt wie die Philosophie selbst. [19] Wahrheit in diesem emphatischen Sinne bedeutet mehr als richtige Tatsachenerkenntnis; ihr eignet vielmehr ein normativer Charakter, wie er vor allem bei Hegel offenkundig ist, den Marcuse deshalb sowohl gegenüber dem Positivismus als auch dem Irrationalismus vehement verteidigt hat. In seinem großen Hegel-Buch heißt es dementsprechend:

Der wirkliche Erkenntnisbereich besteht nicht in der gegebenen Tatsache, hat es nicht mit den Dingen, wie sie sind, zu tun, sondern mit deren kritischer Einschätzung, die das Vorspiel eines Hinausgehens über ihre gegebene Form ist. Die Erkenntnis beschäftigt sich mit den Erscheinungen, um über sie hinauszugelangen ... Tatsachen sind nur dann Tatsachen, wenn sie auf das bezogen sind, was noch keine Tatsache ist und sich dennoch in den gegebenen Tatsachen als reale Möglichkeit manifestiert. Anders gesagt, Tatsachen sind das, was sie sind, nur als Momente eines Prozesses, der über sie hinausführt, hin zu dem, was im Tatsächlichen noch nicht erfüllt ist. [20]

So wird die Dialektik zum Organon utopischen Denkens, der dialektische Begriff der realen Möglichkeit zum vermittelnden Prinzip zwischen Wirklichkeit und Utopie, Tatsache und Wahrheit. Deren Differenz wird von Marcuse nicht ontologisch als metaphysische Verfassung des Seins interpretiert, sondern gesellschaftlich-geschichtlich, d.h. als veränderlich und veränderbar. Das ihr angemessene Gebiet findet daher die dialektische Methode als utopische „Logik des Protests“ in der Sphäre der Praxis, in der Totalität der gesellschaftlich-geschichtlichen Auseinandersetzung des Menschen mit dem Menschen und der Natur.

Marcuse akzentuiert den kritischen, „negativen“, sich mit keinem Gegebenen abfindenden Charakter der Dialektik, wobei ihm entgeht, daß nicht der in seinem letzten Buch so herb verurteilte Positivismus, sondern die dialektische Methode von Hegel bis zum Sowjetmarxismus und zur faschistischen Staatsideologie willfährig den verschiedensten autoritären und totalitären Regimen als apologetische ancilla gedient hat. Während Ludwig Wittgenstein, Karl R. Popper, Rudolf Carnap, Philipp Frank, Friedrich Waismann, Otto Neurath und andere Vertreter des modernen antimetaphysischen Positivismus im Exil wirkten, brachten es dialektische Denker in den faschistischen Staaten zu hohen Ehren. Man denke nur an Giovanni Gentile, den hegelianischen Bewunderer Mussolinis, welcher seinerseits Öffentlich erklärt hat: „Wir sind Hegelianer“, oder an Max Wundt, Julius Binder, Karl Larenz, Christoph Steding, Wolfgang Schmidt und andere deutsche Gelehrte, die den Hitler-Staat mit Hilfe der Dialektik philosophisch gerechtfertigt haben.

Auch die Rolle der Dialektik innerhalb des kommunistischen Machtbereichs hätte Marcuse zu denken geben können. Angesichts dieser massiven geistesgeschichtlichen Tatsachen, auf die der österreichische Philosoph Ernst Topitsch kürzlich hingewiesen hat, ist es nicht mehr gut möglich, dialektisches Denken so ohne weiteres als freiheitlich, kritisch und humanistisch anzupreisen. [21] Gibt es objektive Kriterien für jene „reale Möglichkeit“, auf die alle Tatsachen dialektisch bezogen werden sollen, oder ist ihre Bestimmung einzig dezisionistischer Willkür überantwortet?

Realistische Utopie

Marcuse bemerkte einmal im Anschluß an Marx, daß es die kritische Theorie „nicht mit der Verwirklichung von Idealen zu tun (hat), die an die gesellschaftlichen Kämpfe herangetragen werden.“ [22] Ihre Utopie ist dem gesellschaftlichen Status quo nicht als unvermitteltes Gegen-Bild kontrastiert. Gegeben ist vielmehr ein konkretes soziales Universum mit seiner technisch-industriellen Ausstattung, seinem institutionellen Rahmen, mit kulturellen Mustern, politischen Symbolen usw. Mit allen diesen Aspekten des Systems befassen sich empirische Sozialforschung, Politikwissenschaft, Statistik, Jurisprudenz, Sozialpsychologie, Sozialökonomie und andere Disziplinen, wie sie sich im Laufe der wissenschaftlichen Arbeitsteilung kristallisiert haben. Doch zugleich enthält dieses soziale Universum historische Alternativen, Möglichkeiten eines humaneren Daseins, ein utopisches Potential, das über den erreichten Zustand hinausweist, ihn „negiert“.

Diese Möglichkeiten, die in dem Maße größer werden, in dem sich die Menschheit von den primitiven Zuständen der Lebensnot und des Mangels entfernt, bilden den empirisch verifizierbaren Kern des Marcuse’schen Utopie-Begriffs. [23] Sie können selbstverständlich nur dann apperzipiert werden, wenn man davon ausgeht, „daß das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte“. [24] Von diesen Voraussetzungen her lassen sich immerhin objektive Kriterien für die „Wahrheit“ verschiedener historischer Alternativen formulieren. [25] So wären Entwürfe, die für eine Rückkehr zu vorindustriell-agrarischen Sozialverhältnissen plädieren (wie etwa ein großer Teil christlich-ständischer Sozialromantik von Adam Müller über Carl von Vogelsang bis zu Anton Orel), angesichts der vorhandenen Kapazitäten ebenso „unwahr“ wie der faschistische Totalitarismus. Theologisch gesprochen, sind die verschiedenen gesellschaftlichen Formationen sowie deren utopische Möglichkeiten keineswegs gleich unmittelbar zu Gott.

Selbst wenn man mit gutem Recht bezweifelt, daß die heute mögliche Verwirklichung der Vernunft im Medium der Polis zur „Aufhebung der Philosophie“ führen würde, [26] so ist Marcuse doch zweierlei zu konzedieren: es ist ihm gelungen, einen Utopie-Begriff mit realistischem Gehalt zu konzipieren und mit seiner Hilfe soziale Tatsachen ins Bewußtsein zu heben, die sonst unreflektiert geblieben wären. [27] Unterdrückung, Ausbeutung, Versagung und Irrationalität können nur im Lichte ihrer Negation, also von einem utopischen Standort aus, als Tatsachen begriffen werden.

II.

Nach den vorangegangenen relativ abstrakten Bemerkungen über das für Marcuses sozialtheoretisches Denken konstitutive utopische Moment sei der Versuch gewagt, aus den uns zugänglichen Äußerungen des Denkers sowohl die Umrisse der von ihm intendierten utopischen Gesellschaft als auch den Weg zu ihr zu rekonstruieren. Vorwegnehmend können wir sagen, daß das utopische Bild einer neuen Kultur, eines neuen Menschen sowie eines neuen Realitätsprinzips am deutlichsten in dem Buch „Triebstruktur und Gesellschaft“, [28] einer kritischen Diskussion der Resultate Freuds, gezeichnet wird. Über die historischen Kräfte, die diese utopische Gesellschaft verwirklichen sollen, finden sich bei Marcuse nur spärliche und verstreute Hinweise, aus denen eindeutig hervorgeht, daß er zu keiner Zeit der vulgär-marxistischen Auffassung gehuldigt hat, das „Reich der Freiheit“ würde sich mit „historischer Notwendigkeit“, gleichsam in einem lückenlos determinierten Naturprozeß, realisieren. [29]

Während Marcuses „Vernunft und Revolution“ eine Apologie des klassischen Idealismus einschließlich seiner revolutionären „Aufhebung“ durch Marx darstellt, erfolgt in „Triebstruktur und Gesellschaft“ eine geradezu antithetische Akzentverschiebung: Vernunft selbst wird kritisiert; Freud — statt Hegel — tritt als Kronzeuge auf und seine Psychoanalyse wird von Marcuse ähnlich modifiziert wie seinerzeit die Hegel’sche Dialektik von Marx.

Marcuse unternimmt hier nichts weniger als eine Konkretisierung dessen, was der junge Marx visionär „Naturalismus des Menschen“ und „Humanismus der Natur“ genannt hat und in der nachstalinistischen Ära als fragwürdige „Wiederentdeckung des Menschen“ [30] zur klingelnden Schelle geworden ist.

Wir kennen die wohlwollenden Aufforderungen zur Resignation: Sozialismus, klassenlose Gesellschaft, Freiheit und Gleichheit, das seien ja schöne Dinge, nur eben utopisch, nicht für Menschen, sondern für Engel.

Aus guten Gründen — vor allem als Reaktion auf die allzu überschwenglichen Gemälde des Frühsozialismus — hat Marx darauf verzichtet, das Reich der Freiheit näher zu bestimmen. „Triebstruktur und Gesellschaft“ versucht dagegen auf anspruchsvolle und delikate Weise, Marx durch Freud zu verifizieren. Sind Herrschaft, Unterdrückung und Triebverzicht in jeder Kultur notwendig, stellen sie die einzige Alternative zum Chaos regressiver Verwilderung dar?

Marcuse führt hier den Schlüsselbegriff „Repression“ ein. Er spielt in seinem Werk etwa die Rolle, die in der Marxschen Theorie den Begriffen „Ausbeutung“ und ‚„Mehrwert“ zukommt. Bekanntlich hat Freud Kultur und Unterdrückung identifiziert. Die Unterdrückung habe ökonomische Gründe: der Mangel an Lebensmitteln mache Einschränkung, Verzicht, Verdrängung, Arbeit, den Wandel vom Lust- zum Realitätsprinzip notwendig. Niemand hat den repressiven Gehalt aller Kultur nüchterner ausgesprochen und nach ihren Kosten deutlicher gefragt als der große Analytiker aus Wien.

Marcuse weicht der unerbittlichen Diagnose Freuds nicht aus, konfrontiert sie aber mit den technisch-wirtschaftlichen Möglichkeiten einer fortgeschrittenen industriellen Zivilisation sowie mit weniger beachteten Aspekten von Freuds Theorie, die beide auf eine nicht-repressive Kultur hinweisen. Er unterscheidet zwischen notwendiger (phylogenetischer) und „zusätzlicher“ Unterdrückung. Letztere ist nicht für den Bestand der menschlichen Rasse selbst, sondern nur für die Aufrechterhaltung von Herrschaft nötig. Diese „zusätzliche“ Unterdrückung im Zeichen des „Leistungsprinzips“ ist archaisches Erbe und reicht tief in die biologische sowie psychologische Struktur der Menschheit.

Die — wie auch immer fragwürdige — Domestizierung des Menschen, Ich- und Über-Ich-Bildung, Organisierung von Arbeit und Lust, Fortschritt in der Beherrschung der Natur haben hier ihren Grund. Fortschritt war immer mit Repression verbunden. Stets aber erhob sich auch Widerspruch dagegen: Phantasie, Kunst, Mythos und Religion transzendieren das etablierte Realitätsprinzip. Sie alle sind Momente jener „großen Weigerung“, von der A. N. Whitehead gesprochen hat, Formen der Wiederkehr verdrängter Urbilder von Glück und Freiheit. Wenn der zivilisatorische Fortschritt — unter dem Primat des Leistungsprinzips — ein Niveau erreicht, das die noch immer praktizierte Unterdrückung weitgehend überflüssig macht, kann diese „große Weigerung“ — aus dem Bereich des schönen Scheins, der Neurose, der Narrenfreiheit heraustretend — zur geschichtlichen Kraft werden: „Die Regression übernimmt eine progressive Funktion“, und: „Die ‚recherche du temps perdu‘ wird zum Vehikel zukünftiger Befreiung.“ [31]

Utopie und Pessimismus

Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß das Bild einer solchen Befreiung immer wieder diffamiert und verfolgt worden ist. In der Entwicklung des Christentums, der Marcuse einige aufschlußreiche Seiten widmet, sowie im Scheitern aller Revolutionen reproduziert sich die archaische Fessel. Geformt durch die jahrtausendelange Erbschaft von Gewalt und Identifikation reagieren die Individuen auf die Möglichkeit einer „vaterlosen Gesellschaft“ mit Angst und Schrecken. Von der Ermordung des mythischen Urvaters, wie sie Freud in „Totem und Tabu“ rekonstruiert hat, bis zu den Revolutionen der Neuzeit wächst die Schuld der Menschheit, ihre eigene Befreiung zu sabotieren:

Es scheint in jeder Revolution einen historischen Moment gegeben zu haben, wo der Kampf gegen die Herrschaft den Sieg hätte erringen können — aber der Moment ging vorüber. Es scheint, als spielte bei dieser Dynamik ein Element von Selbst-Vernichtung mit ... In diesem Sinne war jede Revolution auch eine verratene Revolution. [32]

Noch die sich Auflehnenden identifizierten sich mit der bekämpften Macht.

Heute ist die Diskrepanz zwischen möglich gewordener Befreiung und faktischer Repression größer denn je. Selbst zunehmende Rationalisierung, Mechanisierung und Automatisierung, die den Menschen in einem bisher unerreichten Maße befreien könnten von Arbeit und Entsagung, werden im Rahmen des bestehenden Systems zu Mitteln erneuter Repression. Der tendenziell totalitäre Charakter der modernen Zivilisation — selbst wo sie sich demokratisch-pluralistisch gibt — hat in dieser Verkehrung seinen Grund: „Die Zivilisation muß sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte“ — gegen ihre eigenen humanen Möglichkeiten, die in der Tat das ganze System von Grund auf bedrohen. „Diesmal darf es keinen Mord am Vater geben — nicht einmal einen symbolischen —, weil er unter Umständen keinen Nachfolger finden würde.“ [33]

Es bedarf heute keiner platonischen Philosophen-Könige mehr, um das Problem einer den menschlichen Möglichkeiten und dem erreichten Reifegrad der Produktivkräfte angemessenen Gesellschaft zu lösen. Die Antwort ist so offenbar, daß sie jeder finden könnte. Es wäre die — heute nicht mehr „utopische“ — Antwort der „großen Weigerung“. Um sie zu verhindern, tritt an die Stelle des weitgehend gelockerten Sexualtabus eine gesteigerte Kontrolle des Bewußtseins.

An dieser Stelle verbindet sich der historische Materialismus bewußt mit dem Wahrheitsanspruch der Phantasie, wie er vor allem von Aristoteles und Kant hervorgehoben worden ist: „Kraft ihrer einzigartigen Fähigkeit, einen Gegenstand auch ohne dessen Vorhandensein ‚anzuschauen‘, auf Grund des gegebenen Materials der Erkenntnis doch etwas Neues zu schaffen, bezeichnet die Einbildungskraft einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der Freiheit inmitten einer Welt von Unfreiheit ... Ohne sie bleibt alle philosophische Erkenntnis immer nur der Gegenwart oder der Vergangenheit verhaftet, abgeschnitten von der Zukunft, die allein die Philosophie mit der wirklichen Geschichte der Menschheit verbindet.“ [34]

Der Zweite Teil des Buches ‚„Triebstruktur und Gesellschaft“, in dem Marcuse, ausgehend von mythischen Archetypen wie Narziß und Orpheus sowie von ästhetischen Erfahrungen, eine Chemie der Triebe unter den Bedingungen einer nicht-repressiven Kultur und eine neue „libidinöse Vernünftigkeit“ entwirft, ist — in diesem Sinne — phantastisch. Es finden sich hier Stellen von einer so blendenden, gleichsam platonischen Höhe der Imagination, daß eine direkte Rückanwendung seiner Gedanken fast absurd erscheinen mag.

Was Marcuse vorschwebt, ist eine Kultur, in der das apollinische und das dionysische Element — um Nietzsches Unterscheidung zu verwenden [35] — in einer geglückten Synthese zusammengefunden haben. Vor allem künstlerische Attitüden sowohl rezeptiver als kreativer Art, insbesondere dichterische Aussagen, werden zum Modell einer künftigen Gesellschaft. Marcuse beruft sich auf Platons Vision vom kultur- und gesellschaftsbildenden Eros, auf Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“, Heinrich von Kleists Gespräch „Über das Marionettentheater“, auf Baudelaire, Rilke, Proust, Paul Valéry und die Surrealisten.

Aus all dem geht hervor, daß es ihm nicht nur um soziale Veränderungen — etwa Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Selbstverwaltung, Abbau repressiver Herrschaft — geht, sondern um einen „neuen Menschen“, gleichsam eine Wiederherstellung des Zustandes vor dem Sündenfall — allerdings nicht durch eine eskapistische Rückkehr in vorgeschichtliche Mentalität, wie sie in unserem Jahrhundert Ludwig Klages, Alfred Schuler, John Cowper Powys und andere Irrationalisten verkündet haben, [36] sondern auf der Grundlage der fortgeschrittensten technisch-industriellen Errungenschaften.

Wenn wir von den handgreiflicheren zu den sublimeren Merkmalen fortschreiten, dann präsentiert sich Marcuses Utopia etwa wie folgt:

  1. Verminderung der Arbeitszeit auf das für eine ausreichende Befriedigung der individuellen Bedürfnisse nötige Minimum wobei sogar ein (zeitweiliges?) Absinken des heute in den hochindustrialisierten Ländern erreichten Lebensstandards in Kauf zu nehmen wäre;
  2. Abbau der „zusätzlichen“ Unterdrückung und Herrschaft bis auf die funktionell notwendigen Autoritäten (etwa Techniker, Lehrer, Verkehrsschutzpersonal usw.);
  3. Geburtenkontrolle und Bevölkerungsbegrenzung; [37]
  4. Entwicklungshilfe für rückständige vorindustrielle Länder, die unter besonders günstigen Umständen im Rahmen traditioneller Formen einen eigenen Weg des Fortschritts finden könnten;
  5. Einbeziehung auch der vor- und außermenschlichen Natur in den Prozeß der Befreiung und Befriedung:

    Leiden, Gewalt und Zerstörung sind ebenso Kategorien der natürlichen wie der menschlichen Realität, Kategorien eines hilflosen und herzlosen Universums ... Die Zivilisation bringt die Mittel hervor, die Natur von ihrer eigenen Brutalität, ihrer eigenen Unzulänglichkeit, ihrer eigenen Blindheit zu befreien — vermöge der erkennenden und verändernden Macht der Vernunft. Und die Vernunft kann diese Funktion nur als nach-technologische Rationalität erfüllen, bei der die Technik selbst das Mittel der Befriedung ist, das Organon der ‚Kunst des Lebens‘. [38]

  6. Entwicklung einer neuen libidinösen Moral; Freisetzung des Eros; neue nicht-repressive Formen der Sublimierung („Selbstsublimierung“); spielerisch-ästhetische Selbstverwirklichung des Menschen; [39]
  7. Verwirklichung des „utopischen Überschusses“ der großen Philosophie:

    Nun ist aber eine gesellschaftliche Situation erreicht worden, in der die Verwirklichung der Vernunft nicht mehr auf das reine Denken und Wollen beschränkt zu werden braucht ... Die philosophische Konstruktion der Vernunft wird durch die Schaffung der vernünftigen Gesellschaft erledigt. [40]

    In seinem jüngsten Werk gibt Marcuse diesem marxianisch formulierten Gedanken einen mehr positivistischen Akzent. Aber im Gegensatz zum Positivismus, der die Metaphysik als sinnlos ächtet, wendet Marcuse dessen Verifikationsprinzip in der Weise an, daß er nicht den manifesten Sinn metaphysischer Sätze, sondern deren geschichtsphilosophische „Übersetzung“ diskutiert. Ursprünglich metaphysische Spekulationen wie die vom höchsten Gut, von der Eudaimonia, von Freiheit und Gleichheit, vom ewigen Frieden, ja selbst der aristotelische Nous theos, der Hegel’sche absolute Geist, die ewige Wiederkehr Nietzsches gewinnen im Laufe der Geschichte einen immer realistischer werdenden Inhalt: „Aus technologischen Gründen tendiert das Metaphysische dazu, physisch zu werden.“ [40a]

  8. Dies gilt auch für die Phantasie, deren Befreiung umwälzende Wirkungen in Richtung auf ein befriedetes Dasein haben könnte. Marcuse schreibt ihr ausdrücklich eine Erkenntnisfunktion zu — sie hütet die tabuierten Bilder einer Welt der Erfüllung, des Spiels und des Glücks:

    Die Freiheit der Einbildung verschwindet in dem Maße, wie die wirkliche Freiheit zur realen Möglichkeit gemacht wird. Die Grenzen der Phantasie sind ... in striktem Sinne technische Grenzen: sie sind durch den Stand der technischen Entwicklung vorgeschrieben. [41]

  9. Überwindung der Zeit und des Todes als jener nihilistischen Mächte, die bisher am tiefsten mit Herrschaft, Unterdrückung und Versagung verbunden waren: „ewige Wiederkehr“ an Stelle hektischen „Fortschritts“; ein neues Realitätsprinzip, das einer „neuen Grunderfahrung des Daseins“ entspricht und „die menschliche Existenz in ihrer Gänze verwandeln“ würde. Aspekte dieses neuen Realitätsprinzips heißen bei Marcuse: „Tilgung der Ursünde“ (Baudelaire), „Freiheit von Schuld und Angst“, „Ordnung der Fülle“, „Ruhe, Nachsicht, rezeptives Sein“, „Befreiung des Eros“, Brechung der „Tyrannei des Werdens über das Sein“, „Sinnlichkeit, Spiel und Sang“, „Ordnung ohne Unterdrückung“. [42]

Es bedarf keiner langen Nachweise, daß Marcuse mit den zuletzt aufgezählten Zielen den realistischen Ausgangspunkt seiner utopischen Soziologie verlassen hat. Marcuse verschweigt, wie diese arkadische Welt des goldenen Zeitalters, von dem auch manche Helden Dostojewskis (Stawrogin in den „Dämonen“, Wersiloff im „Jüngling“ und der „lächerliche Mensch“ im „Tagebuch eines Schriftstellers“) geträumt haben, auf der Grundlage der technisch-industriellen Errungenschaften realisiert werden soll.

Utopie und Revolution

Parallelen zu Marcuses Vision von der Befriedung der Natur und dem Tod des Todes sind nicht bei Marx, sondern bei Charles Fourier zu finden. [43] Nicht die Internationale, sondern die Gesänge der Fourier’schen Phalangen tönen uns aus Marcuses gewagtesten Antizipationen entgegen, wie auch seine Verbindung von Vernunft, Eros und Politik, von Rationalismus und Hedonismus, von Dialektik und Lustprinzip, von Phantasie und Konstruktion an den utopischen Sozialismus gemahnt.

Während sich in der Sowjetunion nach einer kurzen Ära der Libertinage die puritanisch-asketischen Moralauffassungen des Frühkapitalismus reproduziert haben, erinnert der eigenwillige deutsch-amerikanische Denker daran, daß Erotik und Revolution, Sozialismus und Emanzipation des Fleisches, Bett und Barrikade ein genuin linkes Motiv bilden. [44]

Es wäre leicht, gegen Marcuse, der den Weg von der „Kritik der politischen Ökonomie“ zurück zu den Idyllen des „utopischen Sozialismus“ und weiter noch bis zum Mythos beschritten hat, den Vorwurf zu erheben, er „säkularisiere“ eschatologische Verheißungen. Marcuse würde wohl diesen Einwand akzeptieren, jedoch die Gegenfrage stellen, ob es nicht denkbar wäre, daß Mythos, Religion, Eschatologie der mystifizierte Ausdruck realer („säkularer“) Probleme sind, die unter den gegebenen historischen Bedingungen einer rationalen Lösung, theoretisch und praktisch, immer zugänglicher werden. Soweit dies — wie im Falle der Besiegung des Todes — (noch) nicht möglich ist, käme den von Marcuse aufgegriffenen Überlieferungen die Funktion des Sorel’schen Mythos zu, wobei er immerhin geltend machen könnte, was einmal Thomas Mann gegenüber Karl Kerényi gefordert hat: „Man muß dem intellektuellen Faschismus den Mythos wegnehmen und ihn ins Humane umfunktionieren.“ [44a]

Schwerer wiegt dagegen der Einwand, ob nicht ein „negatives Denken“, das so anspruchsvolle Ziele wie die Aufhebung der Zeit und des Todes intendiert, von der Macht des Bestehenden ebenso leicht integriert werden kann wie die einst avantgardistische Kunst und die Religion; wogegen der prosaischere Positivismus nach wie vor akademisch weniger akzeptiert wird als etwa die Dialektik aller Spielarten.

Mit diesen Überlegungen gelangen wir bereits zu der abschließenden Frage nach den historischen Kräften, die für die Verwirklichung von Herbert Marcuses Utopie in Frage kommen, wobei auch seine Einstellung zur Revolution zu berücksichtigen ist.

Während die klassische marxistische Doktrin im Proletariat das Subjekt der Revolution erblickt hat, steht seit der Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg, spätestens seit der Ost-West-Polarisierung nach 1945 im Zentrum von Marcuses sozialtheoretischen Analysen eine Gesellschaft, die immer mehr ihre eigene Negation integriert: „Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.“ [45]

In immer neuen Umschreibungen entwirft Marcuse vor allem in seinem letzten Buch „Der eindimensionale Mensch“ das düstere Bild einer Zivilisation, die alle oppositionellen, „seinstranszendenten“ Kräfte absorbiert und gleichschaltet. Nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch Kunst, Religion und Philosophie, die früher trotz ihrer Ohnmacht wenigstens eine utopisch-idealische Distanz zur Gesellschaft gewahrt hätten, seien inzwischen zu bloßen Sparten repressiver Verwaltung abgesunken. Die von Karl Mannheim nur hypothetisch erwogene Gesellschaft, „die gleichsam mit sich fertig geworden ist und sich stets nur reproduziert“, [46] wird von Marcuse, zumindest im Hinblick auf die etablierten Industrieländer, als Tatsache unterstellt. [47] Die kritische Theorie ist deshalb nicht imstande, „die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen“.

Das Versprechen der Utopie wird dadurch nicht widerlegt: „Die Tatsachen und Alternativen liegen vor wie Bruchstücke, die sich nicht zusammenfügen lassen, oder wie eine Welt stummer Objekte ohne Subjekt, ohne die Praxis, die diese Objekte in eine neue Richtung bewegen würde.“ [48]

Das proletarische Erstgeburtsrecht sei auf die Opposition „außerhalb des demokratischen Prozesses“, auf das „Substrat der Geächteten und Außenseiter“ übergegangen. Zu ihnen zählt Marcuse „die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen“, ferner „die Insassen von Strafanstalten und Irrenhäusern“ [49] und die rebellierende amerikanische Jugend. [50] Zur Veränderung des Bestehenden sei auch Gewalt kein illegitimes Mittel, denn „die gewaltlose Gesellschaft bleibt die Möglichkeit einer geschichtlichen Stufe, die erst zu erkämpfen ist“. [51]

Der Revolution müsse allerdings eine historische Alternative „hinsichtlich der Entwicklung der Humanitas“ zugrunde liegen, wie wir sie am Beispiel von Marcuses Utopie-Begriff dargelegt haben.

Auch die Möglichkeit und Legitimität einer „erzieherischen Diktatur“ schließt Marcuse konsequenterweise nicht aus; [52] ihre theoretische Basis liegt in der Unterscheidung zwischen „wahrem“ und „falschem Bewußtsein“, „wahren“ und „falschen Bedürfnissen“. Unüberhörbar bleibt allerdings neben diesem Zug utopischer Gewalttätigkeit ein Ton von Trauer, Resignation und apokalyptischem Weltschmerz, durch den die Verheißung eines „befriedeten Daseins“ verdüstert, ja beinahe zurückgenommen wird:

Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewußtsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die Änderung herbeiführen ... Aus theoretischen wie empirischen Gründen spricht der dialektische Begriff seine eigene Hoffnungslosigkeit aus ... Nichts deutet darauf hin, daß es ein gutes Ende sein wird. [53]

Verfällt Marcuse hier nicht in jene Stimmung des Zweifels und der Resignation, wie er sie einmal dem alten Hegel zugeschrieben hat? Der verzweifelte Rekurs auf die Idee einer „erzieherischen Diktatur“ sowie auf Gruppen, die Marx, mit Verlaub, eher zum „Lumpenproletariat“ gerechnet hätte, erwiese sich demgemäß als ein angestrengter, jedoch kaum überzeugender Versuch unseres Denkers, einer utopielosen und eindimensionalen Welt einen Ausweg zu zeigen.

Kann man nach den Erfahrungen unseres Jahrhunderts, nach Stalin, Mao und ihren Nachfolgern, noch mit dem Gedanken einer Erziehungsdiktatur spielen? Wer erzieht die Erzieher und wer unterscheidet zwischen „wahren“ und „falschen“ Bedürfnissen ? Ist es wahrscheinlich, daß Sträflinge, Irre, Arbeitslose und Arbeitsunfähige, aber auch die aus ihren Gettos ausbrechenden amerikanischen Neger das „befriedete Dasein“ anbahnen werden? Und wer garantiert, daß nicht auch in einer utopischen Gesellschaft jenseits des bisherigen Realitätsprinzips neue Formen von Knechtschaft und Wahnsinn entstehen?

Das sind nur einige Fragen, die Marcuse bis heute unbeantwortet gelassen hat, obwohl sie ihm sicher nicht fremd sind. Wir fragen einen, der auszog, die Kunst des Lebens und das Wohlbefinden in der Welt zu befördern, in utopischer Résistance gegen alle, die uns um das Privileg des Fragens und Infragestellens bringen wollen.

[1René König (Hg.): Soziologie. Fischer Lexikon, Frankfurt am Main 1958, S. 7, vgl.a.S. 9 ff.

[2Ebd., S. 9.

[3Vgl. Albert Salomon: Fortschritt als Schicksal und Verhängnis, Stuttgart 1957; Hanno Kesting: Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, S. 32 ff.; Nicolaus Sombart: Krise und Planung. Studien zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Selbstverständnisses in der globalen Ära, Wien 1965, S. 11 ff.; Oskar Negt: Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels, Frankfurt am Main 1964.

[4Vgl. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 85 ff.

[5C. Wright Mills: The Sociological Imagination, New York 1959.

[6Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Rowohlts Klassiker, Bd. 196/197, Hamburg 1966, S. 51f.

[7Vgl. René König (Hg.): op.cit., Anm. 1, S. 10.

[8Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 1965, insbes. S. 223 ff.

[9Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig-Berlin 1930, insbes. S. 304 f.

[10Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied 1962, S. 260 (Originalausgabe: New York 1941).

[11Ebd., S. 281 f.

[12Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft I, edition suhrkamp, Bd. 101, Frankfurt am Main 1965, S. 116.

[13Ebd., S. 111.

[14Herbert Marcuse: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied 1964, S. 18 f.

[15Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 12, S. 16.

[16Herbert Marcuse: One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Boston 1964. Deutsch: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1967.

[16aVgl. Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, Zürich 1949, S. 206.

[17Vgl. Karl Marx—Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848; Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), Leipzig 1878; vgl.a. Martin Buber: Pfade in Utopia, in: Werke, Bd. I (Schriften zur Philosophie), München-Heidelberg 1962, S. 83 ff., und Paul Kaegi: Genesis des historischen Materialismus. Karl Marx und die Dynamik der Gesellschaft, Wien 1965, S. 149 ff., 371 f., 375 ff., 382 ff.

[18Herbert Marcuse, op.cit. Anm. 12, S. 124 f.

[19Vgl. Karel Kosík: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt. Frankfurt am Main 1967, S. 7 ff., 21 f., 36 ff.

[20Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 10, S, 134, 140.

[21Vgl. Ernst Topitsch: Hegel und das Dritte Reich, in: Der Monat, H. 213, Berlin, Juni 1966, S. 36 ff. (jetzt auch erweitert in E. Topitsch: Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied 1967); ferner auch Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2 (Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen), Bern 1958; Robert Heiss: Wesen und Formen der Dialektik, Köln—Berlin 1959; T. D. Weldon: Kritik der politischen Sprache. Vom Sinn politischer Begriffe, Neuwied 1962, insbes. S. 121 ff., 138 ff. — Schon lange vor Topitsch und Popper gelangte Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919, S. 115, zu einem Marcuse entgegengesetzten Urteil über Hegel: „Und so wurde der deutsche ‚Idealismus‘ zu jenem Geheimkabinett, auf dessen Dach die Flagge der Vernunft und Aufklärung wehte, während im Innern ein Mystagoge seiner Nation eine Chloroformmaske übers Gesicht warf und das betäubte Objekt dem Sadismus der Herrscher auslieferte.“

[22Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 12, S. 114.

[23Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 13, 243, 231 ff.

[24Ebd., S. 12.

[25Ebd., S. 231 ff.

[26Herbert Marcuse, op.cit. Anm. 12, S. 109 f. — Zur Kritik an dieser These vgl. Karel Kosík, op.cit., Anm. 19, S. 161 ff.

[27Nur in diesem Zusammenhang kann die bisweilen allzu heftige Kritik Marcuses an der empirischen Sozialforschung sowie an der positivistischen Sozialphilosophie gerecht gewürdigt werden. Vgl. Herbert Marcuse, op.cit. Anm. 10, S. 283 ff., 298 ff., 327 ff., ferner Anm. 16, S. 124 ff.

[28Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1965. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Eros and Civilizations“, Boston 1955, die deutsche Übersetzung zuerst unter dem Titel „Eros und Kultur“, Stuttgart 1957.

[29Vgl. Herbert Marcuse, op cit., Anm. 10. S. 276 ff., bes. 278 ff., 352, 369 ff.; op.cit., Anm. 12, S. 110 ff., 125 f.; op.cit., Anm. 16, S. 14 ff., 42 ff., 54 ff., 232 ff., 261 ff.; op.cit., Anm. 14, S. 37 ff., 45 ff., 54 ff.

[30Kritisch dazu Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 57 f.

[31Herbert Marcuse, op.cit. Anm. 28, S. 24, 25. Vgl.a.S. 229 f.

[32Ebd., S. 92. Vgl.a.S. 69 f., 72 ff.

[33Ebd., S. 94, 95. Vgl.a.S. 70, 74.

[34Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 12, S. 122 f. Vgl.a.Anm. 28, S. 20, 54 f., 140 ff.

[35Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Leipzig 1872. — Leo Kofler, ein marxistischer Denker, der Marcuse in vielem zustimmt, antwortete bezeichnenderweise auf die Frage, was unter „klassenloser Gesellschaft“ zu verstehen sei, mit dem Aperçu: „Die harmonische Wiedervereinigung von Apollinischem und Dionysischem.“ Vgl. Leo Kofler: Das Apollinische und das Dionysische in der utopischen und antagonistischen Gesellschaft, in: Frank Benseler (Hg.): Festschrift zum 80. Geburtstag von Georg Lukács, Neuwied/Berlin 1965, S. 557, Anm. 4.

[36Vgl. dazu Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Ludwig Klages oder Vom Weltschmerz des technischen Zeitalters, München: Verlag „gestern und heute“ Kurt Hirsch 1967. (Zuerst u.d.T.: Vom geistigen Rang des Faschismus, Ludwig Klages und sein Mythos von der Seele, Neues FORVM H. 155/156 und 157.)

[37Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 254 ff.

[38Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 248 f. Vgl.a.Anm. 28, S. 164 ff., 213.

[39Herbert Marcuse, op.cit. Anm. 28, S. 158 ff., 171 ff., 195 ff., 219 ff. Vgl. jedoch a.Anm. 16, S. 91 ff., wo Marcuse die Möglichkeit „repressiver Entsublimierung“ behandelt.

[40Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 12, S. 109 f. Vgl.a. S. 111.

[40aHerbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 241 ff. Vgl.a. Anm. 12, S. 166 ff., und op.cit., Anm. 28, S. 112 ff., 129 f., 178 ff.

[41Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 12, S. 123.

[42Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 28, bes. S. 121 ff., 152 f., 155 ff., 160 ff., 168 ff., 190 ff., 227 f.

[43Vgl. Charles Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, Frankfurt am Main 1966. Vgl. dazu Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Utopie als Wunschtraum und Experiment, II, in: Neue Wege, H. 183, Wien, Februar 1963, S. 7 ff.

[44Man denke in diesem Zusammenhang an Ludwig Feuerbachs Akzentuierung der Sinnlichkeit und Leiblichkeit, die von den meisten Linkshegelianern aufgegriffen wurde; an die „Rehabilitation des Fleisches“ (B. P. Enfantin) der Saint-Simonisten, die auch von Heinrich Heine und dem „Jungen Deutschland“ propagiert wurde; an Fouriers Einsicht, daß der Maßstab für die Kulturhöhe der Grad der Emanzipation der Frau sei; an die Rezeption der Mutterrechtsspekulationen J. J. Bachofens durch Friedrich Engels; an August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ und noch an Karl Kautskys und Alexandra Kollontajs Propaganda für die „freie Liebe“. Eine gründliche und lesbare Arbeit zu diesem Thema wäre ein Desideratum.

[44aThomas Mann—Karl Kerényi: Gespräch in Briefen, Zürich 1960, S. 100.

[45Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 14.

[46Karl Mannheim, op.cit., Anm. 8, S. 224.

[47Zur Kritik vgl. Alasdair MacIntyre: Herbert Marcuse. From Marxism to Pessimism, in: Survey, Nr. 62, London, Jan. 1967, S. 38 ff.

[48Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 16.

[49Ebd., S. 267, 73.

[50Herbert Marcuse: Ist die Idee der Revolution eine Mystifikation? Interview mit Günther Busch, in: Kursbuch 9, Frankfurt am Main, Juni 1967, S. 6.

[51Herbert Marcuse: Ethik und Revolution, in: Kultur und Gesellschaft II, edition suhrkamp, Bd. 135, Frankfurt am Main 1965, S. 146.

[52Vgl. Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 26 f., 60 f., 261; Anm. 28, S. 222; Anm. 51, S. 135 f.

[53Herbert Marcuse, op.cit., Anm. 16, S. 17, 264, 267.

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