FORVM, No. 478/479
November
1993

Mythen mit Fußnoten

Die Probleme der katholischen Kirche mit der modernen Welt niedergelegt in einem neuen Katechismus.

Des FORVM █████████ [*] Herausgeber meinte, als ich ihm einen Artikel über den neuen Katechismus antrug, er gehe den aktuellen Themen gemeinhin lieber aus dem Weg. Und er hat recht. Die Diskussionen, die die neue Festlegung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre auslöste, rankten sich — im Interesse der Aktualität — um einzelne Paragraphen aus dem Abschnitte »Das Leben in Christus«: um die Todesstrafe etwa, mit der sich die Kirche anzufreunden versteht, oder um das katholische Leibthema, die Sexualität. Gewiß, derlei ist es wert, daß man sich ihm widme; wir wollen’s nachholen, wenn der Katechismus nicht mehr allzu aktuell ist. Fürs erste scheint, um dem Opus gerecht zu werden, eine viel grundsätzlichere Betrachtung angebracht. Man halte sich dabei an den ersten Teil: »Das Glaubensbekenntnis«. Er nimmt keinen Bezug auf unsere Zeit und unser Leben, er ist so unaktuell wie erhellend. In ihm offenbart sich nämlich das Hauptproblem des Katechismus: Man geniert sich, Mythen Mythen sein zu lassen. Natürlich ohne es einzugestehen, hat man erkannt, daß selbst die schönsten Legenden nach zweitausend Jahren nicht mehr viel besagen; und man versucht, sie zu retten, indem man sie in ein rationales Korsett preßt, das ihnen nicht im mindesten paßt. Zugleich mußte man, um keinen Katechismus des Freidenkertums zu schreiben, der Ratio straffe Zügel anlegen; so wird sie zu einer Karikatur ihrer selbst. Die Autoren sind beim angestrengten Versuch eines Spagats zwischen Glauben und Vernunft auf die Nase gefallen.

Ich gestehe, daß ich, zum Beispiel, die Idee von der jungfräulichen Empfängnis Jesu für eine gelungene halte. Gewiß, sie hat sich heute, sagen wir, überlebt; aber für einen religionsstiftenden Mythos war die Idee gut. Was wird im Katechismus daraus gemacht? — In § 499 heißt es:

Ein vertieftes Verständnis ihres Glaubens an die jungfräuliche Mutterschaft Marias führte die Kirche zum Bekenntnis, daß Maria stets wirklich Jungfrau geblieben ist, auch bei der Geburt des menschgewordenen Gottessohnes. Durch seine Geburt hat ihr Sohn »ihre jungfräuliche Unversehrtheit nicht gemindert, sondern geheiligt«.

Das Zitat im Zitat entstammt einer Konstitution des gepriesenen 2. Vaticanums. In § 500 keimen leise Bedenken auf:

Man wendet manchmal dagegen ein, in der Schrift sei von Brüdern und Schwestern Jesu die Rede. Die Kirche hat diese Stellen immer in dem Sinn verstanden, daß sie nicht weitere Kinder der Jungfrau Maria betreffen. In der Tat sind Jakobus und Josef, die als »Brüder Jesu« bezeichnet werden (Mt 13,55), die Söhne einer Maria, welche Jüngerin Jesu war und bezeichnenderweise »die andere Maria« genannt wird (Mt 28,1). Gemäß einer bekannten Ausdrucksweise des Alten Testamentes handelt es sich dabei um nahe Verwandte Jesu.

Die Jungfräulichkeit ist also gerettet. Freilich um den Preis, daß die Kirche vorgibt, das Markusevangelium nicht zu kennen: Jesus begann zu predigen und Jünger um sich zu scharen.

Als nun seine Angehörigen es hörten, machten sie sich auf, um ihn zurückzuhalten. Sie sagten: Er ist von Sinnen. [...] Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben draußen stehen und ließen ihn zu sich herausrufen. Eine große Menge Leute lagerte nämlich um ihn herum. Man sagte ihm nun: Deine Mutter und Deine Brüder sind draußen und suchen dich. Er erwiderte jedoch: Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder? Dann ließ er seine Blicke über die in einem Kreis um ihn Sitzenden schweifen und sprach: Seht da, meine Mutter, seht da, meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter.

(Mk 3,21 und 31 - 35)

Abgesehen davon, wie hier die Mutter-Kind-Idylle des Katholizismus vernichtet wird; über die Verwandtschaftsverhältnisse läßt uns Markus kaum im Unklaren. Noch deutlicher wird er, als er die Reaktion der Nazarener auf eine Predigt Jesu in seiner Heimatstadt schildert:

Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria? Der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns? Sie nahmen also gewaltigen Anstoß an ihm.

(Mk 6,2-3)

Mit Markus hat der Katechismus überhaupt seine heilige Not. In Paragraph 498 steht:

Man war manchmal verunsichert, weil das Markusevangelium und die Briefe des Neuen Testamentes nichts von der jungfräulichen Empfängnis Marias sagen. Man hat auch gefragt, ob es sich hier nicht um Legenden oder um theologische Konstrukte handelt, die nicht Anspruch auf Geschichtlichkeit erheben. Darauf ist zu antworten: Der Glaube an die jungfräuliche Empfängnis ist bei Nichtchristen, Juden wie Heiden, auf lebhaften Widerspruch, Gespött oder Unverständnis gestoßen; er war also nicht durch die heidnische Mythologie oder irgendeine Angleichung an zeitgenössische Ideen motiviert.

Weil die Heiden darüber gespottet haben, muß es wahr sein. Logisch, nicht? Nein: sondern theologisch. Neben diesen eher rührenden Versuchen, die Religion eine Wissenschaft sein zu lassen, zeigt sich der Anachronismus dieses Katechismus vor allem in der Gewichtung. Nicht nur die (lebenslängliche!) Jungfräulichkeit der Mutter Gottes, auch die Engel und die gefallenen Engel, Himmel, Fegefeuer, Hölle und ähnlich Realitätsnahes werden in epischer Breite abgehandelt. Von jenen Themen, dererwegen die Kirche heut meist aktuelle (!) Beachtung findet, wird nur der Sexualität und der Abtreibung ähnliche Aufmerksamkeit geschenkt. Die Migration von armen in reiche Länder wird eines Paragraphen gewürdigt (Nr. 2241), der einfach den Status quo sanktioniert: Die wohlhabenden Staaten sollen Ausländer aufnehmen, dürfen die Zuwanderung aber auch beschränken. Die Ausbeutung der Dritten Welt ist sechs Paragraphen wert (Nr. 2437-2442), Himmel und Hölle fünfzehn (Nr. 1023-1037), Marias Unberührtheit vierundzwanzig (Nr. 484-507).

Nun soll aber nicht der Eindruck entstehen, ich machte der Kirche ihre Unzeitgemäßheit zum Vorwurf. Im Gegenteil. Ärgerlich ist keineswegs, wenn eine Institution keine Antworten auf die Probleme der Zeit mehr weiß. Ärgerlich ist nur, daß sie dennoch ständig nach solchen gefragt wird. Man soll — und damit meine ich durchaus auch einen nicht unbeträchtlichen Teil des Klerus — die katholische Religion endlich sein lassen, als was sie der Katechismus klar und deutlich ausweist: überholt.

Ein gutes Beispiel bot die erregte Debatte um Kurt Krenns Amtsverständnis. Der Katechismus legt fest:

Das Lehramt muß das Volk vor Verirrungen und Glaubensschwäche schützen und ihm die objektive Möglichkeit gewährleisten, den ursprünglichen Glauben irrtumsfrei zu bekennen. Der pastorale Auftrag des Lehramtes ist es, zu wachen, daß das Gottesvolk in der befreienden Wahrheit bleibt. Zur Erfüllung dieses Dienstes hat Christus den Hirten das Charisma der Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitten verliehen.

(890)

Und in Paragraph 896 wird abermals eine Konstitution des 2. Vaticanums zitiert: Der Bischof solle sich nicht weigern, seine Untergebenen zu hören.

Die Gläubigen aber müssen dem Bischof anhangen wie die Kirche Jesus Christus und wie Jesus Christus dem Vater.

Dergleichen hat Krenn nie gefordert; er hat also eine im katholischen Sinn moderate Position vertreten.

Trotzdem sind dafür inner- und außerhalb der Kirche zahllose Menschen über ihn als einen unerträglichen Reaktionär hergefallen, die offenbar nicht ahnten, wie unerträglich reaktionär der Katholizismus in Wahrheit sein kann. Sie klammern sich an eine Religion und eine Institution, die sie gar nicht kennen. Wenn einer ihnen vorführt, was katholisch ist, sprechen sie ihm die rechte katholische Gesinnung ab. Doch halt: Unversehens bin ich bei einem (latent) aktuellen Thema gelandet. Verzeih mir, lieber Gerhard.

[*Ein Wort vom Herausgeber zensuriert

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