FORVM, No. 305/306
Mai
1979

Nach Normalisierung hervorgeragt

Personalien aus dem Schattenreich
  • Jiri Grusa: Schriftsteller, im Frühsommer 1968 wegen seines Romans „Der Fragebogen“ verhaftet. Das Buch erscheint jetzt in Deutsch.
  • Jiri Hajek: Jahrgang 1913, in den dreißiger Jahren Funktionär der Sozialdemokratie, 1939-45 im deutschen Konzentrationslager, 1945-48 Funktionär der Sozialdemokratischen Partei, nach dem Zusammenschluß mit der KPC Professor für Geschichte und internationale Beziehungen. 1955-65 Diplomat, 1965-68 Minister für das Schulwesen, 1968 Außenminister, im August 1968 auf sowjetischen Druck seiner Funktionen enthoben, 1970 aus der Partei ausgeschlossen, 1977-78 Sprecher der „Charta 77“.
  • Vaclav Havel: Jahrgang 1908, tschechischer Schriftsteller und Dramatiker, war nie Mitglied der KPC. In den fünfziger Jahren durfte er wegen „schlechter Klassenherkunft“ nicht studieren, schlug sich als Laborant und Bühnentechniker durch, schrieb in den sechziger Jahren Theaterstücke, welche die Absurdität der gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln. 1968 Vorsitzender des Klubs unabhängiger Schriftsteller. Seit 1969 ist sein Werk auf dem Index verbotener Literatur. 1977 Sprecher der „Charta 77“. Jänner bis Mai 1977 wegen Weiterleitung von Literatur ins westliche Ausland in Haft.
  • Ladislav Hejdancek: Evangelischer Chartasprecher 1978/79.
  • Pavel Kohout: Jahrelang Parteimitglied und „Regime-Dichter“. Am Schriftstellerkongreß 1967 aus der KPC ausgeschlossen. 1968 wieder aufgenommen und aufs neue ausgeschlossen. Sein neuestes Buch: „Die Henkerin“ (Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 1978). Derzeit führt Kohout Regie am Wiener Burgtheater.
  • Frantisek Kriegel: Jahrgang 1908, emigrierte aus Rußland in die Tschechoslowakei, seit den dreißiger Jahren Funktionär der KPC, 1936-1939 Arzt bei den Internationalen Brigaden während des Bürgerkriegs in Spanien, 1940-1945 als Arzt Teilnehmer am Bürgerkrieg in China, 1945-49 Sekretär des Bezirkskomitees der KPC in Prag, 1949-1952 stellvertretender Minister für Gesundheitswesen, seit 1953 als Arzt und Forscher tätig. 1960-63 Berater für Gesundheitswesen im revolutionären Kuba, 1966 Mitglied des ZK der KPC, 1968 Mitglied des Präsidiums sowie Vorsitzender der Nationalen Front. Im August 1968 weigert er sich im Kreml, das sogenannte Moskauer Protokoll zu unterzeichnen, und wurde auf sowjetischen Druck aller Funktionen enthoben (Kossigyn wollte ohne Kriegel verhandeln: „Mit diesem galizischen Juden spreche ich nicht!“). Als Abgeordneter stimmte Kriegel im Parlament gegen den Truppenstationierungsvertrag und wurde als erster Angehöriger der Dubcek-Führung 1969 aus der Partei ausgeschlossen. Nach 1970 pensioniert. Steht unter ständiger Bewachung durch den Staatssicherheitsdienst.
  • Marta Kubisova: Populärste tschechische Chansonsängerin. Wegen eines Protestsongs 1968 Berufsverbot — bis heute. 1977 „Charta“-Sprecherin.
  • Pavel Landovsky: Populärer Theater- und Filmschauspieler, in den siebziger Jahren mehrmals im Gefängnis, seit 11. Jänner 1979 in Wien, spielt gegenwärtig im Burgtheater unter der Regie von Pavel Kohout in Gogols „Revisor“.
  • Zdenek Mlynar: Jahrgang 1930, schloß sich in den ersten Nachkriegsjahren der KPC an. Der nach Trotzki ranghöchste kommunistische Parteifunktionär, der je aus dem sowjetischen Einflußbereich in den Westen emigrierte. 1951-55 Studium der Rechtswissenschaft in Moskau, 1955-56 Mitarbeiter der Generalprokuratur und 1959-63 wissenschaftlicher Sekretär des Staatsrechtsinstituts der Akademie der Wissenschaften in Prag, 1964-68 Sekretär der Rechtskommission beim ZK der KPC, 1968 ZK-Sekretär, im November 1969 zurückgetreten, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter des Nationalmuseums. 1970 aus der Partei ausgeschlossen. Mitunterzeichner der „Charta 77“. Emigrierte 1977 aus der CSSR und lebt seither in Wien.
  • Jiri Müller: Der bekannteste Studentenführer während des Prager Frühlings, von 1972 bis Ende 1976 in Haft.
  • Jaroslav Sabata: Jahrgang 1927, war seit seinem 21. Lebensjahr Mitglied der Kommunistischen Partei. In den sechziger Jahren Sozialpsychologe an der Universität Brno, 1968 Parteisekretär von Brno und in das ZK der KPC gewählt. Eines der wenigen ZK-Mitglieder, die entschieden gegen die sowjetische Okkupation auftraten. 1969 aus der Partei ausgeschlossen, war er Anfang der siebziger Jahre einer der führenden Köpfe der sich formierenden Sozialistischen Opposition. 1972 wegen „Subversion“ zu 6½ Jahren Haft verurteilt. Nach fünf Jahren entlassen. Lagerarbeiter. Als „Charta 77“-Sprecher wurde er am 1. Oktober 1978 nach einem Treffen von Charta-Unterzeichnern mit polnischen Dissidenten des KOR (Arbeiterverteidigungskomitees) festgenommen und am 12. Januar 1979 wegen „Angriffs auf eine Amtsperson“ zu 9 Monaten Haft verurteilt. Sabata wurde bei seiner Verhaftung von der Polizei geschlagen (nach Aussage seiner Freunde ist es ganz unwahrscheinlich, daß er tätlich geworden sei — wie die Polizei behauptet). Eine Verlängerung seiner Strafe droht: Die Behörden könnten die bedingte Haftentlassung (12 Jahre Strafrest) aufheben. Sabatas Herzleiden hat sich in der Haft verschlimmert.
  • Petr Uhl: Jahrgang 1941, Studentenführer 1968, Ingenieur. Einer der ersten politisch Verfolgten in der Phase der „Normalisierung“. Im spektakulären „Trotzkistenprozeß“ 1970 zu langjähriger Haft verurteilt. Anklagegrund: Gründung einer „Revolutionär-Sozialistischen Partei“. 1977 Mitinitiator der „Charta 77“. Mitbegründer des „Ausschusses für die Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ (nach dem Vorbild des polnischen Arbeiterverteidigungskomitees KOR).
  • Ludvik Vaculik: Schriftsteller und Journalist. Wegen einer Rede am Schriftstellerkongreß 1967 aus der Partei ausgeschlossen, 1968 wieder aufgenommen, 1969 wieder ausgeschlossen. Populärer Publizist des Prager Frühlings. Verfasser des „Manifests der 2000 Worte“, das schon 1968 die Ziele der reformkommunistischen Führung in Frage stellte. Seine Veröffentlichungen stehen auf dem Index verbotener Bücher.
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