FORVM, No. 321/322
September
1980

Naturrevolution

Mit der KPI ins Grüne

Nach der gelungenen Übersiedlung aus dem DDR-Gefängnis Bautzen in die BRD-Freiheit erhielt Rudolf Bahro einen Forschungsauftrag der progressiven Muster-Uni-Bremen für 1980/82 über die „Allgemeine Theorie des Historischen Kompromisses“.

Mein Ausgangspunkt ist ein positives und — aufgrund einer bestimmten theoretisch-politischen Absicht — bewußt idealisierendes Aufgreifen der von der Italienischen Kommunistischen Partei entwickelten Strategie des „historischen Kompromisses“.

Diese Formel ist pragmatisch entworfen und zumindest teilweise in opportunistischer Form angewandt worden. Ihr Gehalt ist tatsächlich reformistisch, dies jedoch auf eine Weise, daß sie bei konsequenter Ausarbeitung auf eine ideologische Massenmobilisierung für Reformen revolutionären Inhalts, für Reformen großen, systemüberwindenden Stils orientieren kann.

Mit dem „historischen Kompromiß“ hat sich, gegen manchen Anschein, die aktivste, offensivste, realisierungsfähigste Konzeption zur Transformation der „westlichen“ bürgerlichen Gesellschaft seit der Russischen Revolution herausgebildet. Aufgrund dieser Auffassung habe ich bereits in Bautzen über das Thema „Hintergrund und Horizont des historischen Kompromisses“ gearbeitet.

Nach meiner Überzeugung bietet dieser Denkansatz, der zunächst „nur“ den Dreh- und Angelpunkt eurokommunistischer Orientierung ausmacht, die Möglichkeit einer verallgemeinernden Theoriebildung, die sowohl über die spezifisch italienische Konstellation und die dortige Parteipraxis als auch über den Rahmen des Eurokommunismus überhaupt hinausführt.

Zum erstenmal seit der Zeit des Erfurter Programms der deutschen Sozialdemokratie, auf das hin es am Ende des 19. Jahrhunderts einen annähernden Konsens aller Sozialisten gab, zeichnet sich mit dieser Formel wieder die Aussicht auf eine programmatische Weg-und-Ziel-Konvergenz in der weltweiten Bewegung für Sozialismus ab. Es bedarf eines Theorieschubs, um diese Chance zu nutzen.

Eine allgemeine Theorie des historischen Kompromisses könnte zur ideologischen Grundlage für einen Prozeß der Annäherung, wachsenden Aktionseinheit und schließlich Wiedervereinigung aller sozialistischen Strömungen in den hoch- und selbst den mittelentwickelten Industriestaaten werden (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien, wesentliche Länder Lateinamerikas, einige Länder auch in anderen Regionen).

Notwendig für eine solche Theorie ist zunächst eine Rezeption der tiefgreifenden Veränderungen, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb und — im Gegenzug zu ihrer globalen Kolonialexpansion — außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen haben. Ebenso notwendig ist das Studium der aktuellen sozialen und politischen Situation in allen ökonomisch-geographischen Zonen, das natürlich nur zum geringsten Teil unmittelbar erfolgen kann. Dabei wird von etwa der folgenden Grundeinstellung ausgegangen:

Nach Marx sollte die Zuspitzung der antagonistischen Klassenwidersprüche in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern dort zu jener endgültigen sozialen Revolution führen, in deren Folge durch internationale Solidarität und Hilfe zugleich die Probleme der weniger entwickelten und kolonialisierten Völker ihre Lösung finden würden.

Nun hat die im „Kapital“ analysierte Polarisierung der bürgerlichen Gesellschaft jedenfalls nicht zur Umsetzung in das rationalistisch zu erwartende psychologische und politische Kräfteverhältnis geführt. Es ist nicht mehr wahrscheinlich, daß die Krise der bürgerlichen Gesellschaft eine Lösung im Sinne der überlieferten Erwartungsperspektive einer proletarischen Revolution finden wird.

Ausschlaggebende Tatsache der Gegenwart scheint vielmehr die eindeutige Dominanz der äußeren über die inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft. Der Ost-West- und vor allem der Nord-Süd-Gegensatz greifen über. Der innere Klassenkampf um den Reallohn, um die Arbeits- und Lebensbedingungen zeigt die Tendenz, zu einer Unterfunktion der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Konfrontationen mit der Zweiten, Dritten und Vierten Welt zu werden, in denen weit mehr als durch die inneren Auseinandersetzungen das künftige nationale wie internationale Schicksal entschieden wird.

Unter solchen Bedingungen wäre es anachronistisch und gefährlich, weiter Lösungen auf dem Wege der Forçierung innerer Klassenwidersprüche anzustreben. Es wird vielmehr darauf ankommen, sie in einer solchen Richtung zum relativen Ausgleich zu bringen, daß zugleich der äußere Ausgleich in Gestalt einer radikal erneuerten Weltwirtschaftsordnung möglich wird.

Endgültig unterstrichen wird die Notwendigkeit einer umfassenden und konvergenten Neuorientierung aller sozialistischen Kräfte durch die unmittelbar aus der kapitalistischen Produktionsweise erwachsene ökologische Krise. Es genügt, der herrschenden und immer noch global übergreifenden Tendenz zur schrankenlosen Expansion des Material- und Energieverbrauchs sowie zur Störung des Naturgleichgewichts durch die verschiedensten Endauswirkungen unserer Technologie den normalen freien Lauf zu lassen. Dann werden wir im Verlauf weniger Jahrzehnte die gesamte menschliche Zivilisation zugrunde richten, die Existenz des Menschen als Gattung in Frage stellen und schwerste antagonistische Zusammenstöße heraufbeschwören.

Dies ist eine im klassischen Marxismus weitgehend unvorhergesehene reale Katastrophenperspektive. Sie abzuwenden ist undenkbar ohne eine Politik rechtzeitigen historischen Kompromisses auf breitester Basis, d.h. zwischen allen Kräften, die an der Bewahrung und qualitativen Höherentwicklung unserer eigenen wie der Weltzivilisation interessiert sind.

In summa finden wir die Bedingungen für jene allgemeine Emanzipation des Menschen, die das unaufgebbare Ziel aller sozialistischen Bewegung war und ist, so grundlegend verändert, daß es einer konsequenten und kohärenten Revision unseres gesamten Theoriefundaments bedarf. Moderne revolutionäre Theorie wird sich ähnlich zum klassischen Marxismus zu verhalten haben wie seinerzeit die relativistische zur klassischen Physik.

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