Weg und Ziel, Heft 5/1997
Dezember
1997

Neoromantik oder Neomarxismus?

Strategien gegen den Neoliberalismus

An die zwei Jahrhunderte alt sind die Schulen der ökonomischen Romantik (u.a. Sismondi) mit ihrer vormarxistischen Kapitalismuskritik.

Der Liberalismus ist auch nicht jünger, und sein mit „Neo“ versehener Sprößling wird bald sechzig.

Aber was ist „neo“ an marxistischen Theorien, die sich organisch aus dem Kapitalismus entwickeln? Sie haben ein elementares Problem: Nur wenn sie sich auf die Gestaltung einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsform orientieren, sind und bleiben sie „marxistisch“. „Neo“ müßte sich hier auf die äußeren Formen beziehen, wie ja der Kapitalismus sein Erscheinungsbild stets ändert, ohne dabei seinen Charakter zu verlieren. Als „neoromantisch“ wäre somit Kapitalismuskritik zu verstehen, die das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell im Gegensatz zu marxistischen Positionen nicht prinzipiell in Frage stellt. Hinter uns liegen die EU-Reform von Amsterdam und der Luxemburger „Beschäftigungsgipfel“ vom November (auf den dieser im August entstandene Beitrag nicht eingehen kann). Den Ergebnissen dieser beiden Ereignisse wurde vorgegriffen: Im Juli wandten sich 100 europäische Wirtschaftswissenschafter und Wissenschafterinnen in einem umfangreichen Memorandum [1] an die Öffentlichkeit: „Die angeblich wissenschaftliche Rechtfertigung des Marktradikalismus ist in Wirklichkeit eine Karikatur der Wirtschaftswissenschaft“, heißt es in der Einführung.

Österreichische Neoromantik gegen Arbeitslosigkeit

Bleiben wir vorerst auf vertrautem österreichischem Boden. Die sozialökonomische Handlungsfähigkeit stand neben der Neutralität im Mittelpunkt des Widerstands gegen den EG-Anschluß. Zudem bewegten sich kritische Kräfte innerhalb der Anschlußbefürworter, unter anderem zum Thema Industrie- und Beschäftigungspolitik. War doch offensichtlich, daß sich die Situation verschlimmern werde. 1993/94 veröffentlichte eine Wissenschaftergruppe (Beirat für Gesellschafts-, Wirtschafts- und Umweltpolitische Alternativen, kurz BEIGEWUM) ein „Memorandum gegen Arbeitslosigkeit“. Unter den darin vorgeschlagenen Maßnahmen überwiegen jene, die an der Arbeitskraft bzw. am Arbeits„markt“ ansetzen (Flexibilisierung, Qualifikation, Lohnpolitik u.a.). Übrigens hat der BEIGEWUM drei Jahre später, Ende 1996, mit einer Studie „Was hat der Euro mit den Arbeitslosen zu tun?“ eine Neuauflage seiner Kritik hervorgebracht und nach präziser Analyse des Übels fünf Gebote zur europäischen Beschäftigungspolitik formuliert:

  • Stabile monetäre Rahmenbedingungen, „um Produktionsinteressen der Realwirtschaft gegenüber Spekulationsinteressen der Vermögensbesitzer zu begünstigen“ (als ob hier keine Verflechtung bestünde!);
  • Geldpolitik muß Wachstums- und Beschäftigungseffekte schon im Zielkatalog berücksichtigen und eine moderne Geldpolitik „verlangt demokratische Verantwortlichkeit“ (statt oberstherrschaftlicher Kompetenzen einer „unabhängigen“ Europäischen Zentralbank);
  • Fiskalpolitik muß auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene Spielraum für Investitions-, Verteilungs- und Konjunkturpolitik bekommen;
  • gerechte (?) Einkommens- und Vermögensverteilung als Voraussetzung für Beschäftigungspolitik und sozialen Frieden;
  • Verankerung der Beschäftigungspolitik im Unionsvertrag einschließlich Schaffung von Institutionen zur Koordinierung der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik.

Der Karikatur-Begriff des Memorandums

Hier ist es an der Zeit, nach der angesprochenen „Karikatur der Wissenschaft“ zu suchen. Leider verbreiten auch Arbeiterkammern und Gewerkschaften fleißig jene Lehren, die Neoliberalismus und radikale Marktdiktatur als einzige Doktrin anerkennen oder die zumindest den ungeschriebenen Normen des Systems der Sozialpartnerschaft angepaßt sind. (Siehe auch »Weg und Ziel« 1/1997, „Industriepolitik? Arbeitsplätze schaffen?“) Um zu illustrieren, unter welchen Umständen von welchen Leuten sich u.a. ÖGB und AK in Sachen Industriepolitik und Arbeitslosigkeit beraten lassen, sind hier einige Beiträge zusammengefaßt, die von einer wissenschaftlichen Tagung im November 1992 (!) stammen und das Thema „Wandel des wirtschaftspolitischen Leitbildes seit den siebziger Jahren“ behandelten. Hier geht es um Ansätze aus der Zeit der Vorbereitungen für den EU-Anschluß Österreichs. „Des hobn ma net gwußt“ oder die Ausrede auf die verschärften Wettbewerbsbedingungen gelten nicht, wenn man sich vor Augen hält, was diese Wissenschafter zum Thema Industrie- und Beschäftigungspolitik damals zu sagen hatten.

  • Prof. Drs. Dr. G. Zalm (Niederlande) kommt bei der Untersuchung der Antriebskräfte für langfristige wirtschaftliche Entwicklungen zur Schlußfolgerung: „Vom Eingreifen der Regierungen wird kein Vorteil erwartet.“ Die Neubewertung der Marktwirtschaft bringe eine kritischere Einstellung zu Interventionen der Regierungen. Zugleich erschwere die Internationalisierung ein Abweichen von Tendenzen in Nachbarländern und für kleine Länder sei es ohnehin schwierig, noch eine eigene Industriepolitik zu betreiben. Schließlich malt er das Gespenst zunehmender internationaler Spannungen und Konflikte an die Wand, sollten Länder und Regionen selbständig eigene Ziele erstreben.
  • Dr. Peter Sturm (OECD, Paris) untersucht den Einfluß der Wirtschaftspolitik in der Entwicklung seit den sechziger Jahren und faßt zusammen: Die Konjunkturpolitik hat mehr reagiert als agiert und wo wirtschaftspolitische Ereignisse mitbestimmt wurden, war dies oft mehr unerwartetes Nebenprodukt als gezielte Absicht. Die Politiker teilen kurzfristige Erwartungen im privaten Sektor, folgen leichter dem Ruf nach expansiver als nach restriktiver Politik mit dem Resultat des Anstiegs von Staatsverschuldung und Preisniveau. Durch Eingriffe ins Wirtschaftsgeschehen — Geld-, Fiskal- und Strukturpolitik — kann die Politik nach wie vor Einfluß ausüben, die Kunst bestehe in der Entscheidung, wann Eingriffe notwendig seien. In vielen Fällen sei der Einfluß durch Unterlassen größer als durch Aktionen.
  • Prof. Dr. Wolfgang Franz (Konstanz) versucht Vollbeschäftigung als Ziel einer Stabilisierungspolitik vorzugeben. Aber: In der geplanten Währungsunion steht die nationalstaatliche Wechselkursmanipulation als „SchockAbsorber“ nicht mehr zur Verfügung, daher bleibe nur mehr die „unmittelbare Korrektur des Reallohnes nach unten“. Je stärker der Nominallohn auf die Erhöhung der Arbeitslosigkeit reagiert, um so geringer seien die Beschäftigungsverluste, schildert Prof. Franz die Ziele der EU-Politik und zitiert quasi zur Unterstreichung seinen Kollegen O. Sievert, der die Währungsunion ausdrücklich begrüßt, „denn die das Niveau der Güterpreise bestimmenden monetären Bedingungen können nicht länger in Abhängigkeit davon verändert werden, welche Geldlöhne (diese) kollektiv verlangen“. Wechselkursverhalten geht angeblich auf Fehlverhalten in der nationalen Lohnpolitik (!) zurück. „Das kartellartige Ritual nationaler Lohnrunden als Streit um die Einkommensverteilung wird mehr und mehr geprägt sein vom Wettbewerb der Länder und Regionen um Arbeitsplätze. Und dieser Wettbewerb wird härter werden.“
  • Univ.Doz. Dr. Manfred Prisching (Uni Graz) untersucht die neuen Tendenzen im Bereich von Interessenvertretung und Sozialpartnerschaft. Er entwickelt zehn Thesen, u.a.: Die EU ist kein sozialpartnerschaftlich gesteuerter Keynesianismus, sondern ein „Markt-Europa“ mit begrenztem Einfluß etablierter Verbände, in dem das traditionelle korporatistische Procedere nicht mehr zugelassen wird und sich die Politik von sozialpartnerschaftlichen Verfahrensweisen abkoppelt.
  • Prof. Helmut Frisch (TU Wien) untersucht den „Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik“, stellt nach Verschwinden des Keynesianischen Konsens die Konzentration auf die Frage fest, ob und in welcher Weise Wirtschaftspolitik überhaupt möglich ist. Er stellt verschiedene theoretische Modelle vor, die auf einen gemeinsamen Nenner hinauslaufen, etwa laut Friedman: Staatliche Wirtschaftspolitik ist eher das Problem als die Lösung. Systematische Wirtschaftspolitik ist unmöglich, es gibt keinen Grundkonsens für ein neues makroökonomisches Paradigma. Und welche Alternativen leitet der Staatsschuldenprofessor Frisch aus seiner passiven Sicht ab? Er hat keine als die Berufung auf das Modell der Neuen Klassik, in dem Arbeitslosenraten von zehn bis zwanzig Prozent als „freiwillige“ Arbeitslosigkeit gelten und „kein soziales oder wirtschaftliches Problem“ bilden. Zum Problem, daß Realzinsen die Wachstumsrate übertreffen, sieht Frisch nur die Alternative „notwendiger finanzieller Disziplin zur Kontrolle der Schuldendynamik“ und den „Aufbau von Überschüssen im Primär-Haushalt“. Das haben wir ja alles schon längst dank des Reagierens statt Agierens der Wirtschaftspolitik ...
  • Martin Bartenstein, damals noch nicht Minister, beschränkt die industriepolitische Rolle des Staates darauf, Standorte zu fördern. „Wo Infrastruktur nicht vom Markt bereitgestellt werden kann, muß der Staat einspringen“, meint er bescheiden und wiederholt die unternehmerischen Forderungen an den Staat: Senkung der Lohnnebenkosten, Deregulierung und Privatisierung, flexible Arbeitszeiten.
  • Helmut Peter, Hotelier und von der FP zum LIF konvertierter (Neo)Liberalisierer sieht sein Hauptziel in der Verdrängung des Staates aus der Wirtschaft: Es bestehe eine Interessenkollision zwischen politischen Zielsetzungen und betriebswirtschaftlichen Zwängen. Privatisierung unter 50 Prozent sei Verstaatlichung von Privatkapital (!), das betreffe auch alles Eigentum von Ländern, Gemeinden, Sozialversicherungen, Kammern. „Mehr privat, weniger Staat ist ein politisch-ideologischer Auftrag.“

So also das Lied des Neoliberalismus über Wirtschaft, Staat, Beschäftigung und das möglichst unumschränkte Recht des Privatkapitals, die Privatisierung gesellschaftlicher Wertschöpfung als Ideologie und Gesetz festzuschreiben.

„Sozialpartner“ 1997: Kurs bleibt neoliberal

Der österreichische Sozialpartner-Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen hat erst kürzlich Empfehlungen für eine Beschäftigungspolitik veröffentlicht, mit der die im EU-Vergleich noch geringe heimische Arbeitslosigkeit bewältigt werden könne. (Sie wird nicht lange so gering bleiben, wenn erst die „Alten“ statt in Pension zu gehen noch ein paar Jährchen arbeiten oder arbeitslos sein dürfen.) Hier einige Stichworte aus den Empfehlungen: „Einen quantitativen Ausgleich für die schwindenden Arbeitsplätze in der Industrie könnten ... wirtschaftsnahe, soziale und persönliche Dienstleistungen bieten. In Österreich ist vor allem der Anteil wirtschaftsnaher Dienstleistungen relativ niedrig.“ Da die sozialen und persönlichen Dienstleistungen aufgrund der Sparpakete weder vom Lohneinkommen noch von den Sozialbudgets her finanziert werden können, ist an der Seriosität solcher Vorschläge zu zweifeln. Und die wirtschaftsnahen Dienstleistungen entstehen u.a. durch die Ausgliederung bisher in den Betrieben abgedeckter Tätigkeiten wie Lohnbuchhaltung, Reinigung, Transporte, Marketing usw. Woher also soll der nötige Schub an neuen Arbeitsplätzen kommen? Eine der Theorien für die hohe Arbeitslosigkeit will nachweisen, daß es an der Ausbildung liege, weil Unqualifizierte den Großteil des Arbeitslosenheeres bilden. Der Zynismus über die „Qualifikationsmängel“ — bei gleichzeitigem Rückzug der Unternehmer von der Ausbildung beruflichen Nachwuchses — wird deutlich durch eine weit massiver vorgebrachte Klage, die eher qualifizierte Arbeitskräfte im Auge hat: „Die nationale Einkommenspolitik muß auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit Rücksicht nehmen“, heißt es im Sozialpartner-Papier, das — wohlgemerkt — als »ÖGB-Rednerdienst« 2/1997 an alle Gewerkschaftsvertrauensleute und Betriebsräte gegangen ist. „Die flexible Lohn- und Einkommenspolitik war in Österreich in der Vergangenheit ein wichtiger Eckpfeiler in der Verhinderung von Arbeitslosigkeit.“ Na klar, wie sonst will man die Theorie von der angeblich notwendigen „Reallohnflexibilität“ verkaufen, die bei wachsender Produktivität stagnierende oder sinkende Reallöhne zum Ziel hat. Kein Sozialpartner-Konzept ohne Bezug auf die Arbeitszeit. Es sei nur die Frage erlaubt, was es mit der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit zu tun hat, wenn „Betriebszeiten und Arbeitszeiten entkoppelt“ werden, wenn die „Anpassung der Arbeitszeit an Produktionsschwankungen“ verlangt wird, wenn statt Überstundenzuschlägen „der Zeitausgleich in geblockter Form erfolgt“ — Bauarbeiter oder Tourismus-Beschäftigte erleben bereits diese Art von Lohnsenkung, ohne daß zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Nicht zu vergessen alle Formen von Teilzeitarbeit, die in erster Linie sozialen und materiellen Abstieg bedeuten. Schließlich verweisen die „Sozialpartner“ noch auf „neue Beschäftigungsfelder“ und erwähnen allen Ernstes die Postreform. Die kostet aber mindestens 10.000 Arbeitsplätze und bringt verschlechterte, dafür aber verteuerte Dienstleistungen. Wir haben es in diesem „Sozialpartner“- Papier nicht mit Wirtschaftstheorien zu tun, sondern mit nackter kapitalistischer Ausbeutung und der beschämenden Kapitulation von Gewerkschaftern und Arbeiterkämmerern vor dem Neoliberalismus.

Kritik und Alternativen des Memorandums der 100

Vorerst noch ein Blick auf den Amsterdamer EU-Vertrag. Die neoliberalen Marktfreiheiten werden in keiner Weise angetastet. Aber ohne solche Eingriffe keine wirksame Beschäftigungspolitik, meint das Memorandum der 100 WissenschafterInnen. Was also haben sie zu sagen? Grundsätzlich bekennt sich das Memorandum zur europäischen Einigung und leitet aus seiner Analyse ab, daß die Weiterführung der neoliberalen radikalen Marktwirtschaft eben diese Einigung gefährdet oder gar rückgängig machen könnte. Woran liegt es? Es fehlt eine Beschäftigungspolitik, die herrschende wirtschaftspolitische Strategie wird als einzig mögliche ausgegeben. Solche Grundlagen wie „wirtschaftliche Stabilität ist gleich Preisstabilität“ — der Kern des Maastricht-Vertrages und der Auftrag für EU-Geldpolitik durch eine demokratisch nicht beeinflußbare Zentralbank — sind zurückzuweisen. Unter der Behandlung der Hauptelemente neoliberaler Strategie findet sich die Auseinandersetzung mit dem Ziel der gemeinsamen Währung, und das Memorandum stellt fest: „Zunächst gibt es keinen soliden ökonomischen Beleg für die Position, daß eine Einheitswährung absolut notwendig ist, um das europäische Projekt voranzubringen ... Zweitens gibt es noch weniger wissenschaftliche Unterstützung für den rein nominalen Charakter der Konvergenzkriterien, die den Einfluß von Bestimmungen wie Beschäftigung, Wachstumsrate, Zahlungsbilanz usw. auf die realen Größen völlig vernachlässigen, von strukturellen Faktoren wie Produktivität, Pro-Kopf-Einkommen und regionalem oder sektoralem Gleichgewicht ganz zu schweigen.“ Die Maastricht-Politik führt statt zur Senkung letztendlich zur steigenden Spirale der Arbeitslosigkeit und zur steigenden Spirale der öffentlichen Defizite. Verwiesen wird darauf, daß nicht einmal die bescheidenen Ansätze des Weißbuchs von 1993 mehr eine Rolle spielen. „In unseren Augen trägt die vorherrschende Wirtschaftspolitik mehr zur weiteren Polarisierung als zur europäischen Einigung bei. Sie beruht auf theoretisch falschen Grundlagen, die den Interessen einer Minderheit dienen, jedoch schädlich für die Mehrheit der Menschen sind. Daher schlagen wir eine andere wirtschaftspolitische Strategie für Europa vor“, heißt es im Memorandum. Und dann zur gegenwärtigen EU-Konzeption: „Gegen die Doktrin des Neoliberalismus argumentieren wir prinzipiell. Sie enthält einen extremen Individualismus, der jede Art von Solidarität und gesellschaftlicher Verantwortung untergräbt. Sie behandelt Privateigentum als die Basis der gesellschaftlichen Ordnung, sie ignoriert die Grenzen von Eigentumsrechten, die in jeder demokratischen Gesellschaft gezogen werden müssen, sie übertreibt die Fähigkeit von Marktprozessen, wirtschaftliche Beziehungen vernünftig zu organisieren ... und schließlich enthält sie im Widerspruch zu ihrer öffentlich erklärten Opposition gegenüber staatlicher Kontrolle das Konzept eines repressiven Staates, denn nur ein starker Staat kann die erforderliche Marktdisziplin durchsetzen und die sozialen Konflikte, die daraus folgen, in Grenzen halten.“ Das Konzept von Maastricht ist für die 100 AutorInnen nicht die einzige Möglichkeit der Einigung Europas. „Wir weisen die fundamentalistische Doktrin zurück, daß Marktprozesse ohne Anleitung ein zusammenhängendes Muster wirtschaftlicher Entwicklung bilden können ... Wenn die Entwicklung den Märkten überlassen wird, heißt dies daher, daß sie dem Privateigentum und dem Gesetz von Profit und Konkurrenz ausgeliefert wird, was den gesellschaftlichen Gehalt der Wirtschaft untergräbt.“ Diese grundsätzliche Einschätzung leitet sich aus der jüngeren Wirtschaftsgeschichte ab: Auch das Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg habe nicht ausschließlich auf Marktprozessen beruht.

Notwendig waren staatliche Aktivitäten, massive öffentliche Investitionen und eine mobilisierte Arbeiterbewegung. Nach dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods haben Instabilität, Unordnung und Neoliberalismus als beherrschende Wirtschaftsstrategie bewiesen, daß rein marktorientierte Reformen die Bedingungen für einen tragfähigen Prozeß nicht herstellen können. Die Erneuerung müsse auf zusätzlichen Faktoren beruhen: aktive Bewegungen, politische Kräfte und soziale Gruppen, die bereits in verschiedenen Ländern Widerstand gegen den Sozialabbau leisten und die von der Wirtschaftswissenschaft unterstützt werden müssen. „Wir setzen Vollbeschäftigung an die Spitze unseres alternativen wirtschaftspolitischen Programms, weil wir der Ansicht sind, daß sie — ganz abgesehen von ihrem Zielcharakter an sich — der wichtigste politische Hebel ist, um eine umfassende Veränderung der wirtschaftspolitischen Ausrichtung in Europa zu erreichen ... Daher sollte der Kampf um Vollbeschäftigung nach unserer Ansicht die Führung im Kampf für eine umfassende Änderung der Wirtschaftspolitik einnehmen.“ Geldpolitik, Fiskalpolitik, Arbeitszeitverkürzung, das europäische Sozialmodell, Strukturpolitiken zur Korrektur innereuropäischer Ungleichgewichte und schließlich die weltwirtschaftliche Kooperation der EU sind die Felder, auf denen die alternativen WirtschaftswissenschafterInnen ihre Vorstellungen von einer umfassenden Änderung der Wirtschaftspolitik entwickeln.

Maastricht-Kriterien sind ein Hindernis

Aller Anfang liegt bei den Maastricht-Kriterien, die zu restriktiv und in so kurzer Zeit unerreichbar seien und die öffentlichen wie die privaten Finanzverhältnisse nur weiter destabilisieren. Die willkürlichen und schädlichen finanzpolitischen Ziele für die WWU seien durch einen Plan für Wachstum und Stabilität zu ersetzen, der die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Regionen berücksichtigt. Als einen von vier geldpolitischen Aspekten sieht das Memorandum die Wiedereinführung der Besteuerung von Kapital und Kapitaleinkommen, um das Gleichgewicht zwischen Allgemeininteresse und den Ansprüchen privater Akteure wiederherzustellen. Besondere Aufmerksamkeit widmet das Memorandum einer alternativen Fiskalpolitik als Hebel für eine europäische Geldpolitik, wobei von Zentralisierung der EU-Haushaltspolitik und Harmonisierung der nationalen Haushaltspolitiken ausgegangen wird. Wichtigste kurzfristige Aufgabe hinsichtlich Beschäftigungsziel sei es, „den rigiden Austeritätskurs zu beenden und zu einer expansiven Fiskalpolitik überzugehen. Mehr öffentliche Ausgaben sind wesentlich für einen Aufschwung der öffentlichen Nachfrage, ohne die es keine Aussicht auf eine nachhaltige Verminderung der Arbeitslosigkeit zu sozial akzeptablen Bedingungen gibt.“ Es gelte, die öffentlichen Ausgaben auf beschäftigungsintensive Sektoren umzustrukturieren — das Memorandum führt eine Reihe von Beispielen an —, die Steuern zu erhöhen — auf hohe Einkommen, Luxusgüter, nicht investierte Gewinne, kurzfristige Kapitalbewegungen. Die in den letzten beiden Jahrzehnten vor sich gegangene drastische Umverteilung von den Masseneinkommen zu den Unternehmerprofiten und oberen Einkommensklassen sei in allen Mitgliedsländern umzukehren. Ausführlich befaßt sich das Papier mit der Umschichtung von Steuern von den Staaten in den europäischen Haushalt, um Mittel zum Ausgleich ungleicher Entwicklungen bzw. für nationale Beschäftigungsprogramme rasch einsetzen zu können. Als „unverzichtbares Instrument“ auf dem Weg zur Vollbeschäftigung wird die Arbeitszeitverkürzung bezeichnet. Dies sei nicht nur Angelegenheit von Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, sondern die Regierungen sollten diese Schritte anregen und begleiten — immerhin sind zwischen 15 und 30 Prozent der Beschäftigten in den EU-Ländern im öffentlichen Dienst, in staatlichen oder Gemeindeunternehmen beschäftigt. Ausdrücklich wird die Arbeitszeitverkürzung mit der Erhaltung des Einkommensniveaus verbunden.

Theoretische und politische Herausforderung

„Der Neoliberalismus hat kein Gesellschaftsprojekt, das für die Mehrheit der Menschen irgendwo akzeptabel wäre ... Wir lehnen die Idee ab, daß diese Entwicklungen unausweichlich und nicht aufzuhalten sind. Tatsächlich beweisen die jüngsten sozialen Bewegungen in verschiedenen EU-Mitgliedsländern, daß die neoliberale Strategie von immer mehr Menschen als untragbar betrachtet wird. Dies macht die Suche nach wohlbegründeten und glaubwürdigen Alternativen zu einer Angelegenheit höchster Dringlichkeit ... Eine einfache Rückkehr zu keynesianischen Politiken (wäre) keine angemessene Antwort auf den Zusammenhang der neoliberalen Politiken und auf die mächtigen Interessen, die hinter ihnen stehen. Eine umfassende Gegenstrategie erfordert groß angelegte theoretische Arbeit und Forschung ...“ Das Memorandum führt einige Gebiete für die theoretische Arbeit an: eine europäische Beschäftigungsinitiative mit koordinierten Investitionsprogrammen; eine Veränderung der Zwecke und Methoden des europäischen Hauses mit der Beschäftigung im Zentrum und der demokratischen Kontrolle des geldpolitischen Regimes (Zentralbank) als Voraussetzung; eine Reform der Regeln für die Finanzmärkte mit dem Vorrang demokratischer Politik vor kurzfristiger Spekulation. Ohne institutionelle und politische Neuerungen ist eine umfassende alternative Wirtschaftsstrategie nicht denkbar, regt das Memorandum die weitere Diskussion an: eine Debatte über Organisation und Management in Unternehmen; Neuformulierung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen; Reformen im Steuersystem — z.B. bei der Besteuerung von Einkommen aus Finanzvermögen oder bei der Steuerprogressivität; Neugestaltung und Verbesserung des Systems der sozialen Sicherheit; Wiederbelebung zivilisierter, gewerkschaftlicher und verbandlicher Lebensformen innerhalb und außerhalb des Arbeitsplatzes, z.B. durch die Verringerung der Arbeitszeit.

Neoromantik oder Klassenkampf?

Manche Abschnitte des Papiers enthalten Vorstellungen im Sinne neoromantischer Kritik des Wirtschafts- und Sozialsystems. Viele notwendige Denkansätze bleiben weiterer wissenschaftlicher Arbeit vorbehalten: das Ausmaß der Entwicklung der Produktivkräfte; die maßlose Vergeudung öffentlicher Mittel im Militärsektor; Fragen der Produktionsstruktur (Investitionslenkung); das Wertgesetz vor allem im Hinblick auf die Arbeitskraft (Wert und Preis bzw. Arbeitslohn); die Überwindung der übermächtigen Meinungsmanipulation durch die Massenmedien als Voraussetzung für soziale Bewegungen. Dem gegenwärtigen Kapitalismus (Neoliberalismus) ist nicht wirksam zu begegnen, wenn nicht der Charakter seiner Krisen untersucht wird. Für den Widerstand sind zur Zeit als einzige handlungsfähige organisierte Kraft die Gewerkschaften relevant — wo stehen sie und warum handeln sie nicht entsprechend, insbesondere auf grenzüberschreitender EU-Ebene? Ein besonders dringliches Forschungsgebiet ...

„Die neoliberale Konzeption in Europa entspricht den Interessen der stärksten und am meisten internationalisierten Unternehmen. Weil diese Interessen — obwohl sie nur eine kleine Minderheit von Menschen in allen Ländern darstellen — über starke Machtpositionen verfügen, ist es unwahrscheinlich, daß sie freiwillig auf dieses attraktive Entwicklungsmuster verzichten werden. Auf der anderen Seite werden sie auch unter anderen Regeln, die auf Vollbeschäftigung, ökologische Nachhaltigkeit und Wohlstand für die Mehrheit der Menschen gerichtet sind, nicht zugrunde gehen. Wenn daher genügend vernünftige Argumente und Vorschläge vorgebracht werden, genügend gesellschaftliche Mobilisierung stattfindet und genügend politischer Druck ausgeübt wird, wird der Albtraum der Massenarbeitslosigkeit zurückweichen und einer Entwicklung Platz machen, die mehr den Interessen der Mehrheit der Menschen entspricht“, schließt das Memorandum. Die theoretische und politische Herausforderung ist vielfältig. Ob Neoromantik oder „Neo“Marxismus, ob reformerische oder revolutionäre Position — es geht um die Zurückdrängung der gegenwärtigen inhumanen marktwirtschaftlichen Doktrin, um die Existenz von dutzenden Millionen Menschen allein in den Industrieländern. Die Gewerkschaftsführungen und andere Institutionen der Interessenvertretung sind herausgefordert, die Gefahr des Untergangs ihrer eigenen Organisationen abzuwenden und vollen Kurs auf Widerstand zu steuern. Nicht unerwähnt bleiben darf die den kommunistischen und anderen marxistischen Parteien zukommende Verantwortung. Ihre Rolle, eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu entwickeln, ist in der bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus unentbehrlich. Auf dieser Grundlage können und werden sie auch die Partner von Neoromantik und anderen Positionen des Widerstands sein.

[1Vollbeschäftigung, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit für Europa, Alternativen zum Austeritätswettlauf. — Memo-Forum, Zirkular der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Nr. 25, Bremen, Juli 1997.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)