FORVM, No. 101
Mai
1962

Nicht Philosoph, sondern Moralist

Im gesund übertreibenden Widerspruch zu den oberflächlichen, ahnungslosen Urteilern, die — ob entrüstete Sittenrichter oder zimperliche Pseudo-Ästheten, ob beifallgrunzende Spaßfreunde — Nestroy nur als den zynischen Komödianten und als den erfolgreichen Fabrikanten Wiener Possen kannten, hat der österreichische Kulturhistoriker und Schauspieler Egon Friedell, trotz der Unterschiede der Herkunft, der Weltanschauung und des Abstands im sprachkünstlerischen Rang in vielem an den genialen Satiriker und Bühnendichter gemahnend, ihn als „den größten, ja den einzigen Philosophen“ gerühmt, den „der deutschösterreichische Stamm hervorgebracht hat“. Friedell nannte ihn

einen sokratischen Dialektiker und kantisch analysierenden Geist von höchster Feinheit und Schärfe, eine shakespearisch ringende Seele, die mit einer wahrhaft kosmischen Phantasie die Maßstäbe aller menschlichen Dinge verzerrte und verrückte, um sie eben dadurch erst in ihren wahren Dimensionen aufleuchten zu lassen. Nestroy ist von einer kristallenen Nüchternheit, einer brennenden Luzidität, die die Menschen und Dinge förmlich zerleuchtet und dabei doch voll heimlicher Sehnsucht nach all den verwirrenden, narkotischen Dingen, die das Leben erst begehrenswert und interessant machen, ein starker, wissender und weltkundiger Geist und dabei umwittert von dem Aroma der problematischen Natur.

Nestroy, von dessen Furcht vor dem Tod wir zahlreiche Zeugnisse haben, ist entschieden der Ansicht, das Leben sei der Güter, wenn nicht höchstes, so kostbarstes. Sehr poetisch heißt es bei ihm:

Da fliegt ein Johanniskäfer? Er leuchtet in der finstern Nacht, denn er lebt. Während ein Krondiamant in der Dunkelheit glanzlos ist, wie gar nichts ausschaut. Es is, beinah, als ob die Natur uns zeigen wollt’, daß das miserabelste Leben mehr wert ist als der brillanteste Tod.

(„Der Schützling“)

Im seltsamen Gegensatz zu diesem Sich-Klammern ans Dasein steht ein Kokettieren mit dem Tode, ein schwärmerischer Lebensüberdruß, der irgendwie in der Trunkenheit der Seele oder des Leibes anhebt und im heulenden Elend endet:

Mich wird die Welt bald gar nix mehr kümmern
— Das kann nur der sagen, der sehr hoch steht
Oder der, der sehr tief liegt.
— Ja, im Grab.

(„Zu ebener Erde und erster Stock“)

Ich zieh mich ins Grab, ’s is zwar ein klein’s, ein feucht’s Quartier, aber ruhig, recht a stille Nachbarschaft, und man riskiert nicht, daß ei’m aufg’sagt wird.

(„Glück, Mißbrauch und Rückkehr“)

Diese Elegien und das Sprachwunder aus dem ,„Talisman“, vom Toten, der Verweser seiner selbst ist, drücken jedoch keineswegs eine düstere, vom Gespenst der Vergänglichkeit geschreckte Gesamt-Weltanschauung aus.

Auch die Randbemerkungen zur Ordnung im Kosmos sollen wir nicht tragisch nehmen. Weder die um ihrer Kalauer willen verfertigte Rede des Willibald über die Natur und über das Tierreich („Die Schlimmen Buben in der Schule“), noch die Definition des Seins als eines „Begriffsaggregats mit markierten elektromagnetisch-psychologisch-galvanoplastischen Momenten“ („Freiheit in Krähwinkel“) sind Bekenntnisse zum Vulgärmaterialismus.

Der Religion stand er mit der skeptischen Kühle gegenüber, die den josefinischen, franziszäischen Hofrat, Advokaten, Arzt und Professor wie die Industriellen und Bankleute des Vormärz auszeichnete. Sie waren allesamt keine kämpferischen Kirchenfeinde, wieviel Vergnügen sie auch am Spott über beschränkten Fanatismus, über Klerisei und bigotte alte Weiber beiderlei Geschlechts empfinden mochten. Sie kümmerten sich wenig um Metaphysik, deren Tatsachen sie weder bestritten noch bejahten und von der sie im irdischen Lebenslauf wenig beirrt wurden.

Ganz so einfach war Nestroys Beziehung zu den letzten Dingen nicht beschaffen. Er stimmte zwar in der Skepsis und in einer gefühlsmäßigen Ablehnung der kirchlichen Disziplin mit den Josefinern-Voltairianern überein, doch damit waren für ihn die großen Probleme nicht abgetan. Der leichtlebige Zweifler Nestroy, dessen Alltag unaufhörlich gegen den Katechismus verstieß, war von einem heimlichen, unheimlichen Hunger nach den Geheimnissen der Natur und der Übernatur besessen. Ihn quälten vor allem die Fragen der Unsterblichkeit, der ausgleichenden Gerechtigkeit, der Existenz des Bösen. Er kannte sich in der Dogmatik vortrefflich aus, und er war mit ihr wie mit dem Widerspruch zwischen theoretischer christlicher Moral einerseits und höchst bedenkenloser Wirklichkeit anderseits in nie erlahmendem Gespräch.

Gottes Name durfte aus Zensurrücksichten nicht genannt werden, und das war Nestroy wie seinen Wiener Zeitgenossen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er sogar in den nur für seine Schublade bestimmten, nie der Polizei unterbreiteten, geschweige denn auf die Bühne gelangten, als Monologe oder als Dialogstellen gedachten Äußerungen zu diesen metaphysischen Grundproblemen nur vom „Schicksal“ sprach. Mit Bitterkeit und doch mit einem Grimm, aus dem die nicht erloschene Sehnsucht, die Unruhe zu Gott hervorleuchtet:

’s Schicksal hat alles, was die von ihm beherrschten Menschen empören muß. Es gibt wohl viele, die’s mit Geduld ertragen, das sind eigentlich recht die G’scheiten, die einsehen, daß es umsonst, und daß die ohnmächtige Empörung immer lächerlich ist.

(Paralipomena zu „Höllenangst“)

Es ist etwas Prächtiges, das Schicksal zu sein, man tut rein gar nichts und am Ende heißt es bei allem, was geschieht, das Schicksal hat es getan.

(„Familien Zwirn, Knieriem und Leim“)

Wie man sieht, bedient sich Nestroy bei seinem Sinnen über die erhabensten Probleme der sogenannten argumenta ad hominem. Der Rationalist holt seine Zweifel aus den Tiefen des aufgerüttelten Sentiments und nicht aus der Rüstkammer kalter, wissenschaftlicher Erwägungen. Er gelangt zu einem grundsätzlichen Pessimismus, dem er jedoch sowohl in der Praxis des täglichen Daseins ebenso wie im Verborgensten seines Intellekts widerstrebt. Er verspottet die unter einem Wust gelehrt klingenden Aufklärichts den Geist erstickenden Allwisser und die Vorläufer der heutigen Managerkultur. Oder ist das nicht ein umgekehrter kybernetischer Hymnus auf die Maschinenwelt?:

Sag’ mir ein Land, wo ich was Neues seh’; wo der Wasserfall einen andern Brauser, der Waldbach einen andern Murmler, die Wiesenquelle einen andern Schlängler hat, als ich schon hundertmal g’sehn und gehört hab’ — führ mich auf einen Gletscher mit schwarzem Schnee und glühenden Eiszapfen — segeln wir in einen Weltteil, wo das Waldesgrün lilafarb, wo die Morgenröte paperlgrün is! — Laßt’s mich aus, die Natur kränkelt auch an einer unerträglichen Stereotypigkeit.

(„Der Zerrissene“)

Nestroys Skepsis galt auch der Skepsis, sein Spott dem allzu selbstsicheren Spott über alles Übernatürliche. Epikuräer, doch Freund einer stabilen Ordnung, hat er die angestammte Religionszugehörigkeit niemals aufgegeben, zunächst aus Gründen, die ein — an sich nicht einwandfrei bezeugter, doch den Kern der Sache treffender — Einfall Nestroys in dieser Weise zusammenfaßt: „Ich bin Katholik deshalb so gern, weil ich keinen Gebrauch davon machen muß.“

Als Schüler Kants, des allgehörten Lehrmeisters des österreichischen Biedermeier, leugnet Nestroy die Möglichkeit absoluter Erkenntnis, daher auch die Gewißheit des absoluten Nichts. „Ich hab’ bereits eine Ahnung“, heißt es im „Mädl aus der Vorstadt“. — „Dann haben Sie auch alles, denn die größten Gelehrten haben von der Wahrheit nit mehr als eine Ahnung gehabt.“ Die verwickeltsten Wege geleiten Nestroy schließlich zu dem Stoßseufzer: „I laß mir mein Aberglaubn’ durch ka Aufklärung raub’n. ’s is jetzt schön überhaupt, wenn m’r an etwas doch glaubt“ („Höllenangst“). Durch verschämte und in Ironie eingehüllte Glaubenssehnsucht und Glaubensbereitschaft unterscheidet sich der jedem Überschwang abholde, vorsichtige Denker vom platten Rationalismus, der das Übersinnliche mit ein paar Federstrichen erledigt, und der nur an eine Legende unverbrüchlich glaubt, an die vom endlosen Fortschritt der vergotteten Menschheit. Dieser Fortschritt aber hat es laut Nestroy „an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist“. „Drum i schau’ mir den Fortschritt ruhig an und find’, ’s is gar nicht gar so viel dran.“ So geschrieben in einem Stück, das — im heutigen politischen Jargon zu reden — um den Aufstieg der Arbeiterklasse und um den Fortschritt der Produktionsmethoden kreist, im „Schützling“.

Der Fortschritt ist für Nestroy zwar kein Idol, doch ein schätzenswertes Gut. Er scheint ihm durch Evolution im Rahmen einer langsam zu reformierenden Gesellschaftsordnung ebenso unausbleiblich wie wünschenswert. Auf die romantische Begeisterung für ein in rosigen Farben gemaltes Mittelalter schreibt er eine die Gegenwart rühmende Satire „Die Zauberreise in die Ritterzeit“, in der man ein wichtiges Zeugnis für Nestroys jeder Reaktion ferne Gesinnung und zugleich ein repräsentatives Werk des österreichischen Biedermeier erblicken darf. Dazu noch die grundgescheite „Kleine Rede an die Arbeiter“, die jeden Versuch, das Rad der Geschichte aufzuhalten, als Torheit brandmarkt und die weit gewichtiger ist als die Konjunkturrevoluzzerei von „Freiheit in Krähwinkel“, denn sie stammt aus dem Vormärz:

Käm’ euch das nicht lächerlich vor, wenn einer einen Besenstiel über Quer haltet und zu einer Armee saget: ‚Bis hieher und nicht weiter!‘ Und weit lächerlicher is es noch, wenn einer mit morschen Ansichten sich der Zeit entgegenstemmt, dieser gewaltigsten Macht, die unaufhaltsam vorwärtsschreitet und sich von dem Gefolge zahlloser Veränderungen auf ihrem Triumphzug durch die Welt begleiten läßt.

(„Der Schützling“)

Allerdings sieht Nestroy als Träger des gesunden Fortschritts nicht das Proletariat, das Volk oder sogar die umstürzlerischen Intellektuellen. Jedes Bemühen, den Autor des „Unbedeutenden“, des „Schützling“ und der „Freiheit in Krähwinkel“ auf Grund dieser Bühnenwerke oder anderer aus dem Zusammenhang gerissener Stellen als Demokraten oder gar als „progressiven“ Autor, als grand ancêtre des Sozialismus abzustempeln, wird durch ungezählte gegenteilige Aussprüche vereitelt. Er liebt das Volk, er hat Verständnis, doch er gibt ihm keine führende Rolle, er spricht ihm keine wertvolle Initiative zu. Das Volk ist

ein Ries’ in der Wiegen, der erwacht, aufsteht, herumtargelt, alles z’sammentritt und am End’ wo hinfallt, wo er noch viel schlechter liegt als in der Wiegen.

(„Lady und Schneider“)

Wenn das Volk nur fressen kann! Wie s’ den Speisenduft wittern, da erwacht die Eßlust und wie die erwacht, legen sich alle Leidenschaften schlafen; sie haben keinen Zorn, keine Rührung, keine Wut, keinen Gram, keine Lieb’, keinen Haß, nicht einmal eine Seel’ haben s’. Nix haben s’ als ein’ Appetit.

(„Weder Lorbeerbaum, noch Bettelstab“)

Bei die Wahlen durch Stimmen is der Fehler auch das: Es gibt mancher sein’ Stimm ab und er weiß nicht, für was. Gar mancher is als Wähler für Frankfurt nein g’rennt, der auß’r d’Frankfurterwürsteln von Frankfurt nix kennt.

(„Die Anverwandten“)

Nestroy war im Grund nicht so weit von der Ansicht seines Bürgermeisters aus „Freiheit in Krähwinkel“ entfernt: „Der Regent is der Vater, der Untertan is a kleins Kind und die Freiheit is a scharfs Messer.“ Wer ist nun zur Regierung berufen? Nicht die professionellen Volksführer, die ganze Völker vertreten möchten, obwohl sie außer den Stiefeln nichts zu vertreten haben. Die Intellektuellen — das weiß Nestroy aus eigener Erfahrung an seinen nächsten Bekannten — wollen ein parlamentarisches System dazu benutzen, um auf den Schultern des törichten Volkes emporzusteigen. Sie drehen die Fahne nach dem Wind. Geht der Umsturz schief, wechseln sie schnell zu den vorher herrschenden Mächten hinüber.

Nur ein G’schäft tut z’kurz kommen, was metaphorisch g’nommen g’rad zu tun hat am meisten, das sind d’Sattler, die leisten Enorms in der Zeit, wo von gestern auf heut’ Hunderttausend von Leut’ hab’n umg’sattelt so g’scheit.

(„Lady und Schneider“)

Als die besten Inhaber der Staatsgewalt, oder mindestens als die am wenigsten schlechten, gelten Nestroy die geborenen Politiker, die reich genug sind, um nicht am Regieren verdienen zu müssen, und die von vornherein auch ohne Vermehrung ihres Wohlstands das nötige Ansehen genießen; die vor allem hoch genug stehen, um nicht auf die Niedrigeren herabzublicken. Denn „mit zehn Fürsten und Grafen red’t man leichter ganz g’wiß, als mit ein’ Flecksieder, der Millionär worden is“ („Lady und Schneider“). Lieber noch die Hochgeborenen als die nur Hochbemittelten. Was Karl Kraus später auf die Formel gebracht hat: lieber Habsburger als Habsbürger.

Konservativ in der Vorstellungswelt der ständisch gegliederten Gesellschaft aufgewachsen und dieser Konzeption nie wirklich entwachsen, weiß der Bürger Nestroy zwar den Wert des Geldes sehr zu schätzen; er empfindet es aber als häßlich, als unpassend, ja als gefährlich und verderblich, wenn Einfluß und Rang im Staat durch das bewegliche Eigentum, durch das Kapital bestimmt werden. Die Neureichen sind stets lächerlich und zumeist odios. Zwischen Vornehmen und Geringgeborenen kann es eine herzliche, auf gegenseitige Achtung und Sympathie beruhende Beziehung geben, nicht aber zwischen überheblichen Reichgewordenen und ausgebeuteten Armen. „Zu ebener Erde und erster Stock“ ist bei aller Possenhaftigkeit ein Problemstück, das recht ernsthaft an diese aktuell werdende Frage herangeht. Nestroy entrüstet sich zwar über die Proletarier — oder noch ärger über deren demagogische Verführer — die,

was man braucht, dem wegnehmen, der’s hat. ‚Wir sind arm‘, sagen s’, ‚der is reich, der muß uns sein Geld geb’n. Zu was braucht er’s? A Reicher hat a so’s beste Leb’n.‘

(„Lady und Schneider“)

Er begreift es aber, daß mancherlei die Proletarier zu ihrem — von ihm als unsinnig und unbillig verspotteten — Begehren aufstachelt:

Wenn man die Nachsicht des gereizten Armen braucht, soll man ihn am wenigsten erinnern an die angeborne Feindschaft zwischen arm und reich.

(„Der Unbedeutende“)

Das klingt nach der Theorie vom naturnotwendigen Klassenkampf. Und mit bitterer Ironie läßt Nestroy einen Armen sagen:

Ich bin einer von die, die man arme Teufeln heißt. Warum man die Armen unter die Teufeln classificiert, das weiß ich nicht, offenbar muß es unter die Reichen gar so viele Engeln geben ... Man nennt uns auch häufig arme Narren; warum der Arme nun ein Narr is, das weiß ich auch noch nicht, offenbar muß es unter die Reichen lauter G’scheite geben ... Nach den neuesten Ansichten nennt man uns Proletarier und verbindet damit die zarten Nebenbegriffe von Communist, Aufrührer, staatsgefährlicher Mensch ... Allerdings is der Arme geborner Revolutionär, aber so staatsgefährlich is nix an ihm.

(Paralipomena zu „Höllenangst“)

Nestroy war zu nüchtern und zu scharfsichtig, um nicht die Herrschaft der Habsbürger, die von ihm verabscheut wurden, nahen zu wissen; er ahnte, was folgen würde. Doch er hielt es mit den Habsburgern. „Als legitimistischer Patriot“ (Brief an Stainhauser vom 2. Mai 1861) ging er mit dem kaiserlichen Österreich durch dick und dünn, wo immer es auf äußere oder innere Feinde stieß.

Eine Institution allerdings hat der von ihr gepeinigte Bühnendichter uneingeschränkt verdammt: die Zensur. Suchen wir nicht nach weltanschaulichen Beweggründen, wo es sich um einen triebhaften Berufshaß dreht. Welcher Reisende liebte den Zollbeamten, welcher Automobilist den Verkehrspolizisten, welcher Mieter den Hausherrn, welcher Schuldner den Gläubiger, welcher Autor den Kritiker? Jeder Schriftsteller mußte eine Einrichtung verfluchen, die ihn in seinem Schaffen hemmte, selbst wenn sie von den besten und gescheitesten Beamten geleitet wurde und wenn sie, wie das in Österreich zumeist bei den Zentralstellen der Fall war, von guten und gescheiten Beamten geleitet wurde. Der Zensor bleibt immer

ein Mensch gewordener Bleistifter oder ein bleistiftgewordener Mensch, ein fleischgewordener Strich über die Erzeugnisse des Geistes, ein Krokodil, das an den Ufern des Ideenstroms lagert und den darin schwimmenden Literaten die Köpf’ abbeißt.

(„Freiheit in Krähwinkel“)

Nestroy wäre freilich nicht er selbst, hätte er die Schattenseiten einer hemmungslosen Pressefreiheit übersehen:

Für die Drucker schon gar, war’s ein goldenes Jahr: Flugschriften niederträchti, Plakate höchst verdächti, nix is z’dumm, nix z’schlecht g’wesen, d’Leut hab’n alles z’sammglesen.

(„Lady und Schneider“)

Es war eben alles Freiheitsrausch:

Wer kann bei der jetzigen Krisis in Europa sagen: ‚ich war nicht dabei!‘ — Die Revolution war in der Luft, jeder hat sie eingeatmet und folglich, was er ausg’haucht hat, war wieder Revolution. Da muß sich keiner schöner machen woll’n ... Nach Revolutionen kann’s kein ganz richtiges Strafausmaß geben. Dem Gesetz zufolge verdienen so viele Hunderttausende den Tod — natürlich, das geht nicht, also wird halt einer auf lebenslänglich erschossen, der andere auf fünfzehn Jahre eing’sperrt, der auf sechs Wochen, noch ein anderer kriegt a Medaille und im Grund haben s’alle das nämliche getan.

(„Der alte Mann mit der jungen Frau“)

Mit dieser Quintessenz der politischen Weltanschauung Nestroys, die er als Ergebnis seiner Erfahrungen aus Vormärz, heranbrandender Umsturzwelle, die ihn auf eine Weile mitgerissen hatte, Revolution und Reaktion geschöpft hatte, kehrt der Altösterreicher, der liberale, duldsame, doch nach Ruhe und Ordnung verlangende Humanist und Bourgeois zu seinem Ausgangspunkt zurück.

Nestroy als bedeutendsten oder auch nur als hervorragenden Philosophen seines Vaterlands zu feiern, das heißt von ihm ein portrait-chargé entwerfen, bei dem der Kopf — oder eher: das Hirn — überdimensional hervortritt, damit die Aufmerksamkeit auf einige besonders charakteristische Züge und Eigenheiten gelenkt werde. Der grundgescheite, tief veranlagte, kenntnisreiche und vielseitig gebildete Humanist war kein eigenständiger Denker mit neuen, wegeweisenden Einsichten. Nicht deshalb, weil er kein System entwickelt, kein Buch mit einer Doktrin veröffentlicht hat. Nein, der scharfsichtige Beobachter seiner Umwelt, der Kenner der Menschenseele, der treffsichere Kritiker politischer und sozialer Zustände war in allen Zweigen der Philosophie — diese Disziplin im weitesten Sinn verstanden — nur ein fühlsamer Dilettant, ein schnell den Wesenskern von Problemen erfassender Gast, doch zugleich ein Epigone, der eine in seinen Kreisen, in der liberalen, gebildeten, oberen und mittleren Bourgeoisie Österreichs, herrschende Weltanschauung teilte, ohne sich ihr völlig zu verschreiben. Wahrhaft groß und originell war er nur in einem Bezirk, wo Philosophie und Literatur einander begegnen: als Moralist.

Universitätsprofessor Dr. Otto Forst de Battaglia hat eine Neuausgabe seines Standardwerkes über Nestroy redigiert, welches rechtzeitig zu dessen Gedenktag im Verlag Langen-Müller, München, erscheinen soll. Obige, gekürzte Auszüge entstammen der vorläufigen neuen Textgestalt.

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