FORVM, No. 333/334
September
1981

Nix Nomenklatura

Machtkampf im Betrieb

„In Polen wird eine Revolution vollzogen, deren Hauptkraft Solidarnosc ist“, heißt es mit Recht im Bericht des Landeskoordinierungsausschusses (KKP) von Solidarnosc an den ersten Kongreß der unabhängigen Gewerkschaft in Danzig, der am 6. September begann. Wenn der Gesetzentwurf verwirklicht wird, der hier abgedruckt ist, kann man nicht nur im politischen, sondern auch im sozialökonomischen Sinn von einer Revolution sprechen. Es wäre das erste konsequent syndikalistische Experiment. Volle Gewalt über den Betrieb haben die Arbeiter noch nirgendwo bekommen.

Der Gesetzentwurf wurde in einer Arbeitsgruppe von Solidarnosc erstellt, die „das führende Netz“ (Wiodaca siec) genannt wird. Es handelt sich dabei um Solidarnosc-Funktionäre aus Großbetrieben, die sich erstmals auf Initiative des Regionalverbands (MKZ) von Lodz im Frühjahr 1981 in Danzig trafen; das zweite Treffen fand am 11. Mai in der Leninhütte in Krakau statt („13 Thesen“), das dritte in Stettin, wo am 8. Juli dieser Gesetzentwurf über Arbeiterselbstverwaltung beschlossen wurde.

Beteiligt waren hauptsächlich Delegierte von Arbeiterräten, die in der ersten Jahreshälfte in den Betrieben gewählt wurden und die bisher noch der Kompetenzen mangeln. In der Praxis mischen sie sich bereits in die Geschäfte der Betriebe ein, z.B. bei der Bestellung von Direktoren, bei der Diskussion von Produktionsprogrammen usw. Dort sammeln sich auch die technisch interessierten Gewerkschafter, vor allem die Fraktion der „radikalen Ingenieure“, die aufgrund ihres Sachverstands und Produktionsinteresses immer wieder auf die eingebaute Anarchie der Planwirtschaft gestoßen werden und die die Sache endlich selber in ihre Hände nehmen wollen. Dem Typus nach bildet diese Gruppe auch den harten Kern der radikalen Fraktion in der Gewerkschaft (Rulewski und Gwiazda z.B. sind Ingenieure).

In jedem größeren Betrieb gibt es jetzt praktisch zwei Vertretungen der Basis: den Arbeiterrat und die Betriebsgewerkschaftskommission. Beide gehören zu Solidarnosc, haben aber verschiedene Interessensgebiete zu bearbeiten: der Arbeiterrat kümmert sich um die Seite der Produktion (wenn das Gesetz Wirklichkeit wird, übernimmt er praktisch „konstitutionell“ die Leitung der Fabrik, wie ein Aufsichtsrat in einem kapitalistischen Unternehmen), während die Betriebsgewerkschaftskommission für die sozialen Belange der Arbeiter einzutreten hat (Lohnforderungen etc.). Es gibt aus dieser unterschiedlichen Aufgabenstellung bereits die ersten Konflikte in den Betrieben.

„Das Hauptziel ist“, so sagte uns der Vorsitzende eines Arbeiterrats, „zu vermeiden, daß es wieder so kommt wie nach 1956, als von der Partei Arbeiterräte zugestanden wurden, die man aber dann binnen kurzem so ausgehöhlt hat, daß sie nichts zu reden hatten.“ Gomulka hatte den Arbeitern ursprünglich, als er 1956 an die Macht kam, große Konzessionen gemacht, das Gesetz über Arbeiterräte vom 10. Dezember 1958 nahm aber das meiste wieder zurück.

Diese Enttäuschung gehört mittlerweile zu den Grunderfahrungen der polnischen Arbeiter, sie wollen sich nicht noch einmal überfahren lassen. Am Parteitag Mitte Juli wurde zwar auf den Vorschlag des „Netzes“ insofern reagiert, als man in allgemeinen Worten eine verstärkte Mitbestimmung der Arbeiter versprach, den konkreten Gewerkschaftsentwurf aber scharf ablehnte.

Der Delegierte Jonkisz sprach von „anarchosyndikalistischen Tendenzen“, der Delegierte Karp warnte, die Produktionsmittel müßten „in Staatsbesitz“ bleiben, der Delegierte Szyszka sah sogar eine „Rückkehr zum Privatkapitalismus“ im Gewerkschaftsvorschlag. Warschaus Sekretär Kociolek wehrte „einen lautstarken Versuch des Griffs nach der Macht“ ab. Regierungschef General Jaruzelski qualifizierte es als Versuch, das „Staatseigentum in die Hände von Gruppeninteressen zu legen“.

Ist die Überführung der Fabriken vom bloßen Staatseigentum in das Gruppeneigentum der Arbeiter ein Schritt in Richtung Kapitalismus? So könnte man argumentieren, würde das Eigentum im Sinne von „Volksaktien“ parzelliert. Der angestrebte Syndikalismus ist stets in Gefahr, nach einem der beiden Pole abzurutschen, dem privat- oder dem staatskapitalistischen. Die Gewerkschaft hat sich jedoch in ihren generellen „Richtlinien“ bereits festgelegt (erschienen in Solidarnosc vom 17. April 1981): daß nämlich die Zentralplanung nicht abgeschafft werden möge, sie soll aber „einen strategischen und keinen operativen Charakter haben“. Die Regierung greift nach diesem Modell, das Jugoslawien abgeschaut ist, in die Wirtschaft durch Finanzgesetze und Kreditvergabe über die Banken ein, ähnlich (noch stärker) wie in den „gemischten“ Wirtschaften des Westens, z.B. Österreichs.

Privatbesitz wird von Solidarnosc in der Landwirtschaft, bei Handwerkern und Kleinhändlern befürwortet. Das entspricht auch langjährigen Meinungskonstanten der Bevölkerung, wie sie polnische Soziologen schon seit den fünfziger Jahren erheben. Die Skala verläuft etwa so: praktisch alle Befragten sprechen sich für privaten Einzelhandel aus (nur zwei Prozent dagegen), mehr als zwei Drittel für privaten Einzelhandel, aber mehr als die Hälfte bis zwei Drittel gegen Privatgroßhandel; bei kleinen Industriebetrieben (Werkstätten) ist ein knappe Mehrheit für Privatisierung, bei mittleren Betrieben sind zwei Drittel bis drei Viertel dagegen und bei der Schwerindustrie sind bis auf zwei, drei Prozent alle gegen Privatbesitz; ähnlich liegt das Meinungsspektrum beim Außenhandel (höchstens jeder Sechste ist hier für Privatbesitz) und bei den großen Landgütern (höchstens jeder Vierte will sie privatisieren). Alle Ziffern nach dem Präsidenten der polnischen Soziologengesellschaft Prof. Stefan Nowak (in Spektrum der Wissenschaft, September 1981).

Während die Regierung im August wichtige Lebensmiittelpreise erheblich anhob, schien die Gewerkschaft Solidarnosc durch ihr Stillhalten anzudeuten, daß sie mit einem Gegengeschäft einverstanden wäre: wir tolerieren die Preiserhöhungen, ihr gebt uns dafür Arbeiterselbstverwaltung. Parteichef Kania lehnte das in seiner Rede auf der ersten Vollsitzung des neu gewählten Zentralkomitees am 2. September ausdrücklich ab. Betriebsleiter könnten nicht von der Belegschaft gewählt werden, bekräftigte er den Anspruch der Partei auf die Nomenklatura, also die Ernennung der Funktionäre auf allen Ebenen.

Das ist aber auch ein Kernpunkt der Arbeiterselbstverwaltung. Schon im Juli hatte es bei der Fluglinie LOT einen Streik um die Ernennung eines neuen Direktors gegeben, ein zweiter Konflikt bereitete sich Anfang September mit der Urwahl eines neuen Direktors durch die Arbeiter in der Hütte Kattowitz vor. Walesa versuchte der Partei ein Nachgeben mit dem Argument schmackhaft zu machen, in selbstverwalteten Betrieben gäbe es wahrscheinlich weniger Streiks, weil die Arbeiter ja kaum „gegen die eigenen Interessen“ streiken würden.

Mittlerweile sind die Preise von Butter, Brot, Zucker, Milch und Schinken verdrei- bis vervierfacht worden; Zdislaw Krasinski, Leiter der staatlichen Preiskommission, schätzt, daß dadurch die monatlichen Ausgaben der Familien für Nahrungsmittel von bisher 600 bis 2000 Zloty auf 1500 bis 4000 Zloty ansteigen. Arbeitsminister Rajkiewicz sieht für 1981 erstmals 180.000 „Berufswechsler“, also Arbeitslose voraus. Nach dem Sommer fanden 90.000 Schulabgänger keinen Job.

Die Leiterin des Warschauer Arbeitsamtes, Frau Kowalska, gab in der Zeitung Zycie Warszawy ihre Beobachtung wieder, daß viele Betriebsdirektoren noch keine Vorstellung vom Wirtschaftsplan in der zweiten Jahreshälfte 1981 hätten und ihre Entscheidungen vor sich her schöben; so käme es laufend zu Entlassungen (die polnischen Arbeitsämter zahlen übrigens keine Arbeitslosenunterstützung). Überhaupt bringt die Blockade der Wirtschaftsreform durch die Partei, die sich weigert, mit Solidarnosc Kompromisse einzugehen, Polen immer näher an den Rand eines Zusammenbruchs. Steckt eine Strategie des Durchgreifens dahinter?

Die Konfrontation eskalierte weiter, als der Referent des Politbüros auf der ZK-Tagung, Jan Glowczyk, am 2. September die Forderung nach einer, wie er es ausdrückte, „absoluten“ Selbstverwaltung der Arbeiter „anarchistisch“ nannte; sie sei für „antisozialistische Gruppen eine weitere Etappe in ihrem Kampf um die totale Macht“. Am nächsten Tag nannte die sowjetische Gewerkschaftszeitung Trud die Namen „Konterrevolutionäre“ in der Führung der Solidarität: Rulewski, Bujak, Gwiazda, Lis wollten „die Kommunisten erledigen“, sie hätten Polen „an den Rand der Anarchie und des Zusammenbruchs“ getrieben (Lis ist übrigens Parteimitglied).

Die Drohung wurde am selben Tag durch Kanias Ankündigung verstärkt, die Parteiführung erwäge gegen Streiks im Rundfunk die Ausrufung des Ausnahmezustands. Am 4. September, dem Tag vor der Eröffnung des ersten freien Gewerkschaftskongresses Volkspolens, begannen in der Ostsee und in den an Polen angrenzenden Gebieten der Sowjetunion Militärmanöver von über 100.000 Mann unter der Leitung von Verteidigungsminister Ustinow, die am 8. September gemeinsam mit polnischen Truppen auf Südwestpolen ausgedehnt wurden. „Der Kampf hat erst begonnen“, sagte Walesa zur Kongreßeröffnung in Danzig.

Walesa hatte im polnischen Fernsehen am Vorabend des Gewerkschaftskongresses das Solidarnosc-Modell für Selbstverwaltung auch den Bruderländern empfohlen. Der Kongreß forderte die osteuropäischen Arbeiterklassen auf, ebenfalls freie Gewerkschaften zu gründen; Solidarnosc würde gerne Entwicklungshilfe leisten.

Als der Kongreß das alte Kirchenlied „Gott, der Du Polen ...“ anstimmte, sang man nicht den neueren Refrain, laut dem Gott das freie Vaterland segnen soll, sondern den alten, in dem Gott um die Gnade angefleht wird, „das freie Vaterland wiederherzustellen“.

Am 8. September beschloß der Solidarnosc-Kongreß die Forderung nach einer Volksabstimmung über den Gewerkschaftsvorschlag zur Arbeitermitbestimmung.

9. September 1981
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