FORVM, No. 230/231
März
1973
Kritisches Lexikon

Oswald Wiener

Geb. 1935 in Wien. Lebt seit 1969 in Berlin (West). das literarische cabaret der wiener gruppe, in: Gerhard Rühm (Hrsg.), Die Wiener Gruppe, Hamburg 1967. — Gemeinschaftsarbeiten mit Achleitner, Bayer und Rühm. — die verbesserung von mitteleuropa, roman. Hamburg 1969. Neuauflage in Taschenbuchformat 1972. — Beiträge zur Adöologie des Wienerischen, in: Josefine Mutzenbacher, München o.J. — Stellungnahme gegen Humbert Fink u.a., in: Neues Forum, März/April 1968. — subjekt, semantik, abbildungsbeziehungen. ein promemoria, in: manuskripte, zeitschrift für literatur etc., Graz 1970. — Ein Verbrechen, das auf dem Papier begangen wird, in: Interfunktionen, Köln 1970. — Einleitung zu: Hermann Nitsch, Orgien-Mysterientheater, Frankfurt 1971. — Ein merkwürdiges Urteil (zum Prozeß Brus), in: Neues Forum, April 1972.

In Österreich, das seine Avantgarde erfolgreich exportiert, vermischt sich der alte Haß auf Neutöner mit dem Respekt vor Propheten, die es im Ausland zu etwas gebracht haben. Alle Gegensätze der Nachkriegsliteratur — experimentelle Sekten auf der Linken, monarchistische Mythologen auf der Rechten — werden in einer opportunistischen Synthese aufgehoben, die jeden kritischen Standard überflüssig macht. Virtuosen des show business verkaufen sich unter der Spitzmarke „Wiener Gruppe“ ebenso wie die Repräsentanten progressiver Heimatliteratur. Jene heroischen Figuren der Avantgarde dienen heute als Reliquien einer korrupten Subkultur, die sich von den offiziellen ORF- und PEN-Kulturen nur durch Nuancen unterscheidet. Was hat die Bluthunde im österreichischen Pressewesen auf die Fährte Rühms, Bayers und Wieners gesetzt? Es fehlte diesen Autoren eben der feine haut gout des Musealen, wie er in Wien das Kunstwerk vor der Kulturschande auszeichnet. Die Zeit jedoch hat ihr Werk getan; außerdem haben periphere Kreationen, wie die Dialektgedichte oder das „Donauweibchen“, schon damals dem Konformismus eine Hand gereicht, die er jetzt freundschaftlich schüttelt.

Die Bezeichnung „Wiener Gruppe“ scheint eine kulturhistorische Vereinfachung zu sein, um eine Mehrzahl an Autoren, Stilen und produktiven Phasen für den journalistischen Gebrauch zusammenzufassen. Mit dem Buch Oswald Wieners „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ haben oberflächliche Bewunderer und Epigonen eine pragmatische Doppelformel erhalten: Sprachkritik und Anarchismus. Die jüngeren Bestseller der deutschen Avantgarde profitieren davon, und ein Claqueur hat wohl nicht allzuweit daneben gegriffen, als er den „Kaspar“ Handkes eine Bühnenversion von Wieners Roman und seiner Philosophie nannte. Die Polemik gegen Sprache und Staat korrespondiert glücklich mit einer internationalen Tendenz, in der semantischen Aphasie eine Wunderwaffe des literarischen Anarchismus zu begrüßen; erst recht verquickt sich Wieners (allerdings reservierte) Agitation für die Droge mit einem akuten Trend. Der Erfolg des Buches, vom Autor durch geschickten Aufbau seines persönlichen Prestiges begründet, hat jedoch wenig mit den philosophischen, ästhetischen und politischen Positionen zu tun, in denen Wiener die Kontroversen seiner literarischen Genossen während der fünfziger und sechziger Jahre resümiert.

Autoren wie Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener teilten vermutlich eine instrumentalistische Auffassung des Ästhetischen. Das Kunstprodukt sollte, ohne jeglichen Anspruch auf Autonomie, als ein Instrument konstruiert werden, das bestimmte psychische Wirkungen im Zuseher oder Leser hervorbringt. Gerhard Rühm hat dafür die Devise ausgegeben: „eindruckskunst“ statt „ausdruckskunst“ — „das heißt, das psychologische wird nicht beschrieben oder ausgedrückt, sondern im hinblick auf den konsumenten, sozusagen als dimension, kalkuliert.“ [1] Diese Technik hat Schule gemacht. An den Platz der Einfühlung ins Kunstwerk tritt souveräne Manipulation durch die Kunst.

Das (angeblich verlorengegangene) „coole manifest“ Wieners aus dem Jahr 1954 programmierte eine artistische Haltung, die ihr Publikum stimuliert, ohne sich selbst zu engagieren. Die Aktionen im „literarischen cabaret“ (1958/59) mündeten in die Konsequenz, die Zuseher nicht mehr (wie im klassischen Theater) als kontemplative Betrachter oder (im Sinne Brechts) als Richter des Bühnengeschehens vorauszusetzen — das Publikum wird vielmehr als ein Objekt behandelt, dessen Reflexe wie im behavioristischen Experiment konditioniert werden. „der kollektiv-masochismus des publikums“, berichtet Rühm, „war eine nicht zu übersehende entdeckung.“ [2]

Einwände gegen diesen hemmungslosen Psychologismus liegen auf der Hand. Kein Kunstwerk (schon gar nicht das exzentrische) summiert sich aus den seelischen Dispositionen seines Urhebers oder seiner Rezipienten. Die „Eindruckskunst“ wäre lediglich das szientistische Gegenstück zur wilhelminischen Ästhetik, die das Artefakt als „Ausdruck“ genialer Persönlichkeiten und ihrer Gemütszustände mystifiziert hat. Ein genereller Fehler, ästhetische Wirkungen aus psychologischen Ursachen zu erklären.

Dieses Argument geht aber am Wesentlichen vorbei, nämlich an der epochalen Krise im Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion des Ästhetischen. Die verständlichen Kunstformen werden gebilligt, weil man an ihnen das Vertraute, Routinierte und sattsam Bekannte goutieren darf — in Wahrheit sind sie also unverständlich. Seit hundert Jahren spaltet: sich deshalb die ernst zu nehmende Kunstproduktion in zwei konträre Methoden. Mit dem „l’art pour l’art“ zieht sie sich in eine intelligible Sphäre zurück, ostentativ auf Verständlichkeit verzichtend. Der trainierte Primitivismus der Avantgardisten stürzt sich dagegen auf die Leute, schlägt sie in die Magengrube — und alles nur, um sie aus der Reserve zu locken. (Hier besteht tatsächlich jene, meist nur denunzierend festgestellte, Affinität gerade der „linken“, Kunst zur Reklame.) Im „literarischen cabaret“, dessen Aktionen nicht mit akademischen happenings zu verwechseln sind, wurde diese zweite Methode bis zum Exzeß getrieben. Wiener schreibt, „daß wir den kalauer als kunstform schätzten und eine plumpe, schreiende ablehnung einer geschniegelten und wählerischen polemik stets vorgezogen hatten.“ [3]

Viele „experimentelle“ Versuche Rühms, Wieners und Konrad Bayers fingieren, die Konsumtion des Ästhetischen wäre auch schon seine Produktion. Im Genuß wird produziert, und was ästhetisch konsumiert werden kann, gilt ipso facto als ein Kunstprodukt: Es gibt natürlich nichts, was dafür nicht in Frage käme — man muß es nur finden. Solche Generosität trifft sich gut mit dem positivistischen Grundsatz, daß jedes Werturteil einen bloß subjektiven, rein willkürlichen Charakter habe. Dergestalt definiert Wiener in seinem Roman: „die schönheit ist das korrelat der zustimmung.“ (CI) [4] Das surrealistische objet trouvé verliert dadurch seine geheimniskrämerischen Attribute. Ein Gegenstand ist einfach schön, wenn er die Sinne reizt. Von Hegels Begriff der Schönheit („das sinnliche Scheinen der Idee“) bleibt nur der sinnliche Schein übrig.

Schön war folglich auch der Vortrag eines Spezialisten für Entomologie, den Gerhard Rühm unter seinem eigenen Namen für die Literatur reklamiert haben soll. Am konsequentesten hat Konrad Bayer auf die Funktion des selbsttätigen Erfinders und „Sprachschöpfers“ verzichtet; seine Prosa akzeptiert das angeschwemmte Sprachgut, um es in magischen Konstellationen zu montieren. Der Dichter spricht in Sätzen, die nicht ihm gehören.

So irreführend diese Konsumtionsästhetik auch sein mag, so nützlich ist sie der literarischen Produktion gewesen. Vor allem hat sie den vier Autoren eine scholastische Askese erspart, wie sie so viele andere Avantgardeschulen verunstaltet. Von direkten sinnlichen Erfahrungen ist der verzweifelte Exhibitionismus der „kinderoper“ ebenso provoziert wie die Aktionen des „literarischen cabarets. Für den aktuellen Gebrauch geschaffen, sind diese Arbeiten keine Ewigkeitswerte einer hungrigen Theaterindustrie, sie ließen sich einmal oder nie realisieren; um so bedauerlicher die Intransigenz des österreichischen Kulturlebens. Ihm hat Wieners Roman die letzte Aktion bestimmt, ein kleines Marstheater, doch immer noch zu groß für irdische Bühnen — „purim, ein fest“, die Conclusio einer reichen Lebenserfahrung. Die vorgefundenen Objekte reizen hier allein Spott, Verachtung und den halluzinierten Karateschlag.

Dieser wilde Hedonismus, ein surrealistisches Erbstück, verbindet sich allerdings mit seinem extremen Gegenteil: der futuristischen Proskynese vor Technik und Wissenschaft. Jedes Mittel ist recht, um die Isolierung der literarischen Produktion von ihrer öffentlichen Konsumtion zu beseitigen. Ästhetik wird, wenigstens der Absicht nach, auf Psychotechnik reduziert. Während das entzauberte objet trouvé die Einheit von Produktion und Konsumtion von der Seite der Konsumtion her zu garantieren hat, soll die Verwissenschäftlichung der Poesie diese Einheit von der Seite der Produktion her bewirken.

Das Kunstprodukt will — eben wie ein wissenschaftliches Instrument — die Reaktionen seiner entfremdeten Adressaten steuern, um sie, jenseits des Bildungsrespektes, überhaupt noch erreichen zu können. Futuristische Motive scheinen vor allem im musikalischen und lyrischen Werk Gerhard Rühms von Anfang an mitgespielt zu haben; seine „geräuschsymphonie“ aus dem Jahr 1951 hat, sicherlich unwissentlich, das Programm der Geräuschmusik verwirklicht, das 1913 vom italienischen Futuristen Luigi Russolo konzipiert worden war. Rühms Produktion wird vom Widerspruch zwischen dem anarchischen Subjektivismus des objet trouvé und dem streng objektivistischen Kalkül einer Montage getragen, die alle privaten Gefühle ihres Autors ausschaltet.

Die ästhetische Anstrengung, sich wahrhaft verständlich zu machen, hat jene charakteristische Beschäftigung besonders Bayers und Wieners mit Sprachphilosophie veranlaßt, die den Inhalt der „verbesserung von mitteleuropa“ beherrscht. Der Sprache wird die Schuld an der sozialen Indifferenz in die Schuhe geschoben; Kunst entpuppt sich als Spezialfall der Kommunikation.

Rühm hat an der konkreten Poesie hervorgehoben, daß sie „dem bedürfnis nach einer vereinfachten weltsprache, wenn auch nur im ästhetischen bereich, entgegenkommt. ihre anschaulichkeit entspricht der zeitgemäßen forderung nach konzentrierter information“. Die Mischung informationstheoretischer mit spezifisch literarischen Erwägungen zeigt sich in Rühms Bemerkung, es sei doch irreführend, daß ein Verbum wie „laufen“, obzwar semantisch mit „gehen“ verwandt, phonetisch ausgerechnet an das Wort „Haufen“ erinnere. „warum sollte eine weltsprache nicht gleich vollkommen funktionell entwickelt werden?“ [5] Ein solcher Schluß ist unvermeidlich, wenn das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Konsumtion und Produktion auf die Sprache, und Sprache auf die kybernetische Information zurückgeführt wird. Dann resultiert aus der verbesserten Information eine exaktere Sprache, und aus der verbesserten Sprache eine rationalisierte Gesellschaftsordnung.

Offensichtlich haben diese futuristischen Neigungen ein kulturelles Tabu verletzt. Die Paränesen österreichischer Dichterfürsten gegen Bayer und Rühm kulminierten in dem Vorwurf einer seelenlosen Literatur für Computer. Die technokratischen Theoreme der Wiener Gruppe sind jedoch mit ihrer literarischen Praxis keineswegs identisch gewesen. „SUPER REKORD EXTRA 100“, eine Gemeinschaftsarbeit von Friedrich Achleitner und Rühm, in der die Prozesse der Stahlerzeugung teils verhöhnt, teils dramaturgisch verwertet werden, verhält sich durchaus sensibel gegen den technisch-kommerziellen Jargon.

Dennoch drängt sich die Hypothese auf, die aufgeputschten technokratischen Phantasien dieser Literatur seien durch den industriellen Rückstand Österreichs (welcher natürlich die Intellektuellen zur Glorifizierung des Technologischen, zumal seiner utopischen Aspekte innerhalb der Kybernetik, verführen mußte) bedingt gewesen. Im Laufe der sechziger Jahre, als ein intensiver Industrialisierungsschub die dichterische Antizipation in staatskapitalistische Wirklichkeit übersetzte, haben die technokratischen Traumbilder einiges von ihrer Suggestionskraft eingebüßt.

Die Polemik der „verbesserung von mitteleuropa“ (dieser Romantitel spielt auf verlorene Jugendillusionen an) richtet sich gerade gegen den Positivismus, in dessen Zeichen einst Wittgensteins Tractatus von Wiener und Bayer rezipiert worden war. Eine Rezeption freilich, die von vornherein mit Mißverständnissen belastet gewesen ist. Wittgenstein wollte nachweisen, „daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind“. Und daraus versteht sich die benachbarte These: „Alle Philosophie ist Sprachkritik“ — an der Sinnleere von metaphysischen Scheinsätzen nämlich.

Was den jungen Dichtern aber am Herzen lag, war ihre funktionalistische Sprachreform. Die Irregularitäten und Zweideutigkeiten der historischen Sprache wollten sie aus der Welt schaffen, um ein glasklares Medium der Kommunikation zu erhalten. So mußten sie zwangsläufig Wittgensteins resignierende Feststellung — „Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert“ — als einen Aufruf zum Attentat interpretieren und die Absichten der damals taufrischen Informationstheorie den melancholischen Meditationen des Tractatus unterstellen. Ihre Sprachkritik war politisch, die Wittgensteins bloß erkenntnistheoretisch gemeint.

Klar, daß die Lektüre der Philosophischen Untersuchungen, Wittgensteins Alterswerk, den Tractatus für Wiener — wie er sich mit einer bezeichnenden Wendung ausdrückt — vom Tisch fegen mußte. Sie provozierte den Bruch mit den technokratischen Phantasmagorien seiner Jugend. Im Roman spottet er über „die sehnsucht nach dem verstandenwerden, diese unkeuschheit des gemüts“ (XXX) — keinem anderen Laster haben er und seine Freunde in frühen Jahren so ausgiebig gefrönt. Jetzt spricht Wiener kategorisch: „sollen wir einander verstehen? / dies ist nicht erforderlich.“ (IC) Begreifliche Übertreibungen eines Konvertiten.

Wittgenstein klagt in den Philosophischen Untersuchungen, „du siehst es für viel zu selbstverständlich an, daß man Einem etwas mitteilen kann.“ [6] Wenn im Tractatus die Sprache unter dem Vorsitz der Logik abgeurteilt wurde (und dabei die Umgangssprache in ein schiefes Licht geriet), so wird in den Philosophischen Untersuchungen ein üppiger Reichtum an sprachlichen Gebrauchsweisen beschrieben, der sich aus dem dürren Formelschatz der propositionalen Logik keinesfalls ableiten läßt; die Logik darf nicht länger über die Sprache regieren. „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen“, heißt es in dem bekannten Paragraphen 25 der Philosophischen Untersuchungen.

Unter dem Eindruck der Principia Mathematica hatte sich der logische Positivismus für eine wissenschaftliche Einheits- und Universalsprache erhitzt, die aus einfachen Behauptungssätzen, deren Konjunktionen und Negationen, zusammengesetzt sei. Doch Wittgenstein, die Irrtümer seines Tractatus im Alter korrigierend, verteidigt die Konkurrenzfähigkeit der mannigfaltigen, auch der offensichtlich alogischen, Sprachverwendungen gegen den Monopolismus der Logiker. Er verwirft in den Philosophischen Untersuchungen die Möglichkeit „einer künftigen Reglementierung der Sprache“, [7] also der technokratisch genormten Kommunikation.

Sprache wäre demnach etwas ganz anderes als bloße Information. Wiener scheint aus den Philosophischen Untersuchungen herauszulesen, daß sich die Menschen keineswegs mit Hilfe der Sprache untereinander verständigen können, weil Verständigung nur ein Bestandteil der Sprache, gewissermaßen ihr unwichtiger Nebeneffekt, sei. Genauer gesagt: in der sprachlichen Verständigung werden die Sprechenden über das Fehlen von Verständigung getäuscht. Nicht die Sprache dient der Kommunikation, die Kommunikation dient vielmehr der Sprache. Die Menschen sind unfähig, ihre Sprache zu kontrollieren, deshalb werden sie — dies ist die Message der „verbesserung von mitteleuropa“ — von der Sprache kontrolliert.

Wiener sieht, anders als seine sozialkritisch eingefärbten Nachläufer, in der Sprache kein Herrschaftsinstrument, denn das Subjekt der Herrschaft ist ausschließlich die Sprache selbst. Er distanziert sich von jeder marxistisch orientierten Sprachkritik, [8] die ja einen Standpunkt außerhalb und jenseits der Sprache voraussetzen würde, wie ihn Wiener gerade strikt leugnet. „fasziniert von unseren halluzinationen machen wir uns nicht leicht klar, daß die sprache film, medium, leinwand und sinnesorgan zugleich ist.“ (CLII) Dagegen wollte Wittgenstein keine Theorie der Sprache — und schon gar nicht diese! — begründen; er wünschte lediglich, die Sprache von philosophischen Mißverständnissen zu befreien, im Tractatus von den Scheinsätzen der Metaphysik, in den Philosophischen Untersuchungen von den Ansprüchen des logischen Positivismus (der dadurch freilich, insofern er das abstrakte Denken überschätzt, ebenfalls als „metaphysisch“ entlarvt wird.)

Wiener laboriert in der „verbesserung von mitteleuropa“ immer noch an den Folgen des Schocks, der durch Wittgensteins Enthüllungen den Agitatoren der Sprachrevolution versetzt wurde. Sie sahen sich der Chance beraubt, durch eine präzisierte Information — die durch Vokabeln wie Redundanz und Entropie nahegelegt wird — die Kommunikation und damit auch Wirklichkeit und Gesellschaft in den Griff’zu bekommen: Rückblickend konstatiert Wiener, er und seine Genossen hätten sich in ihrer positivistischen Phase die Aufgabe gestellt, „die sprache zu einer optimalen annäherung an die wirklichkeit zu zwingen“ — „in diesem sinne nannten wir uns ja schließlich dichter.“ [9] Im Roman wendet er sich von der Informationstheorie und „ihrem sorgfältigen überspringen aller eigentlich sprachlichen probleme“ (CXLI) definitiv ab. An der optimalen Annäherung der Sprache an die Wirklichkeit verzweifelnd, eliminiert Wiener den Begriff Wirklichkelt; der Rest ist Sprache.

In Bayers und Wieners Gemeinschaftsarbeit „die folgen geistiger ausschweifung“ aus den Jahren 1960—1964 (also nach der Lektüre der Philosophischen Untersuchungen) vollzieht sich die Kritik — und Selbsikritik — an den positivistischen Positionen paradoxer- und auffälligerweise gänzlich mit der Terminologie und im Stile des bereits überholten Tractatus; die Geistesschlacht wird mit verkehrten Fronten geschlagen.

Der Glaube an den, vom Tractatus behaupteten, Parallelismus von Wirklichkeit und Sprache, von Satz und Sachverhalt, Kern der Abbildtheorie, beginnt hier sichtlich zu zerfallen. Gegen Wittgensteins Ansicht, es liege im Wesen des Satzes, daß er uns einen neuen Sinn mitteilen kann, argumentiert Wiener (noch) mit der informationstheoretischen Unterstellung, daß die Ausdrücke der Sprache von den gängigsten ünd statistisch häufigsten Gedankeninhalten ausgewählt werden: folglich ein neuer, seltener und unwahrscheinlicher Gedanke lediglich mit einem stereotypen Ausdruck ausgesprochen oder — in Wahrheit — nicht ausgesprochen werden kann. Bayer ergänzt: die Sprache ist „der friedhof meiner gedanken!“

Den Jüngern des Tractatus wird dabei klar, daß die sprachliche Darstellung der Wirklichkeit nicht mit der Wirklichkeit selbst verglichen werden kann, weil diese exklusiv in ihrer sprachlichen Darstellung gegeben ist. Also die Kohärenztheorie der Wahrheit, wie sie von Bertrand Russell dem Hegelianismus zugeschrieben wurde. Für Wiener allerdings eine Kohärenztheorie der Unwahrheit, denn gerade die Universalität der Sprache, die Unmöglichkeit, aus ihr in die Wirklichkeit zu entkommen, fungiert in der „verbesserung von mitteleuropa“ als das stärkste Argument. gegen sie. Sprache ist ein Gefängnis.

Wiener beruft sich, freilich mit Skrupeln, auf die sogenannte Whorf-Hypothese; sie lehrt, daß eine jede Sprache (oder Sprachfamilie) außer ihrer eigenen Grammatik auch ihre eigene, idiosynkratische Logik entwickle, wodurch Weltbild und Wahrnehmung der sie Sprechenden bis ins ‚Detail präformiert würden. An indianischen Dialekten hat Whorf die Beobachtung gemacht, daß in Sprachen, die keine Differenz zwischen Substantiv und Verbum (wenigstens nicht in unserem Sinn) haben, auch die fundamental abendländische Unterscheidung zwischen Substanz und Prozeß, zwischen Ding und Bewegung, unbekannt sei. Ähnliehes gilt auch für das Verständnis des zeitlichen Ablaufs, das Koordinatensystem von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; oder den Satz als eine Kopulation von Subjekt und Prädikat, diese Basis unserer Logik.

Weit entfernt davon, die Sätze mit realen Sachverhalten vergleichen zu können, werden wir durch den Versuch des Vergleichens, durch unsere Anstrengung, in die Realität einzudringen, nur um so aussichtsloser im Abyssos der Sprache irregeführt. Das Verifikationskriterium, die fixe Idee des logischen Positivismus, den Sinn eines Satzes mit seinen empirischen Beweisen gleichzusetzen, erscheint damit als eine besonders perfide Hinterlist der Grammatik.

Wenn Newtons Physik bloß ein indogermanischer Albtraum ist, dann erübrigt sich natürlich die Mühe, mit den Mitteln der exakten Wissenschaft die Sprache für eine reibungslose Kommunikation fit zu machen. „die naturgesetze sind oberflächen der sprache.“ (XXXIV)

nächster Teil: Ossi Wieners Putsch im Kaffeehaus

[1Gerhard Rühm, Vorwort zu dem Sammelband „Die Wiener Gruppe“, (Hamburg 1967), p. 14.

[2Rühm, loc.cit., p. 28

[3Oswald Wiener, das literarische cabaret der wiener gruppe, in: Rühm (Hrsg.), Die Wiener Gruppe, p. 407

[4Lateinisch paginierte Zitate im Text beziehen sich auf die 1. Auflage der „verbesserung von mitteleuropa“.

[5Rühm, loc.cit., p. 15 und p. 27

[6Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 1967, p. 143

[7Wittgenstein, loc.cit., p. 70

[8Oswald Wiener, subjekt, semantik, abbildungsbeziehungen. ein promemoria. manuskripte, Graz 1970. p. 46.

[9Oswald Wiener, das literarische cabaret, lit.cit., p. 402

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