Grundrisse, Nummer 40
Dezember
2011

Pascal Jurt im Gespräch mit Diedrich Diederichsen

Vor gut einem Jahr erschien das gerade mal hundertseitige Pamphlet „Der kommende Aufstand“ vom “Unsichtbaren Komitee”. Kaum ein Buch sorgte in jüngster Zeit für so einen Wirbel. Der Bestseller war innerhalb kürzester Zeit vergriffen und wurde im deutschsprachigen Feuilleton erstaunlich wohlwollend rezensiert. Die “FAZ” erklärte es zum wichtigsten linksradikalen Statement unserer Zeit erklärt, der “Spiegel” brachte einen dreiseitigen Abdruck aus dem Manifest, und auch in der linksradikalen Szene und im Feld der Kunst wurde es breit rezipiert.

Pascal Jurt: Nun hat es das Büchlein „Der kommende Aufstand“ sogar schon unter die Bestseller der Wiener Filiale einer großen Buchhandelskette geschafft und liegt da ein wenig verloren zwischen Elfriede Vavriks „Nacktbadestrand“ und Giovanni di Lorenzos „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“ herum.

Diedrich Diederichsen: Ich habe in Berlin-Schöneberg in einer Buchhandlung die Szene erlebt, dass ein älteres Mütterchen in die Buchhandlung stapfte, das Buch haben wollte und es dann bereits vergriffen war. Die hatte darüber gelesen oder vielleicht ein Radio-Feature gehört. Die war, wie dann im Gespräch mit dem Buchhändler klar wurde, im Grunde genommen eine Stuttgart 21-Mobilisierte, die dachte, dass sie da ihr Buch findet.

Wofür steht dieses Manifest und worauf reagiert es?

Ich denke, der entscheidende Punkt ist, dass das Manifest die politische Kritik – oder wie immer man es nennen will – wieder anbindet an Lebensformen und zudem zwischen „richtiger“ und „falscher“ Lebensform unterscheidet. Im Grunde genommen geht es um das, was ich als Jugendlicher in den 1970er Jahren gemacht habe, wenn ich mit meinen Freunden, auf irgendwelchen Psychedelika, durch die Straßen gegangen bin, und wir höhnisch auf die Spießer gezeigt haben und sie ’Plastikmenschen’ genannt haben. Frank Zappa hat in den 1960er Jahren von den „Plastic People“ gesungen: Leute, die sozusagen manipuliert und stumpfsinnig und als Konsumidioten durch die Welt trotten. Daneben gibt es die Anderen, die versuchen, ein ’richtiges’ Leben zu leben und gründen Kommunen. Und auch damals haben sie Kommunen gegründet! Es ist ja auch was dran. Für jemanden, der in einem bestimmten Alter die Möglichkeit hat, auf verschiedene Weise Lebenserfahrungen zu machen, ist das vielleicht eine sehr evidente Zuspitzung, eine Form des Gefühls, dass wirklich alles falsch ist. Dies ist wieder möglich, seit sich in den empfindsamen Schichten wieder herumgesprochen hat, dass ein kreativer Beruf eben nicht die Lösung ist. Das ist das, wonach es sich am meisten für mich anhört: Man kann wieder existenzialistisch – betroffen - über Politik schreiben und ist sich qua Stil zugleich für Betroffenheit natürlich viel zu fein. Aber: Man hat eine Wahl zwischen verschiedenen Lebensformen und man wählt die richtige. Man kann in seiner Art zu leben, etwas politisch richtig machen.

Dem Versprechen, praktische Vorschläge für Subversion anzubieten, begegnet man heute ja eher selten. Ist es nicht erstaunlich, dass ein radikales Buch sich so gut verkauft?

Radikalität ist doch etwas sehr Attraktives, allein schon weil das Radikale im wirklichen Leben selten ist. Zudem ist es ein simpler, leicht einleuchtender Gedanke, dass man tiefer ansetzen muss, nicht an den Symptomen doktern, das ist intellektuelle Folklore. Das Radikale ist aber nicht zwingend politisch. Wenn es sich nur auf der Ebene der Lebensformen abspielt, ist Otto Mühls Kommune sicher sehr radikal, politisch konntest Du sie eher in der Pfeife rauchen. Ich möchte jetzt nicht nur in überlebten Schmähkategorien reden, aber man kann es fast nicht anders ausdrücken: es ist fast schon kleinbürgerlich, das politische Denken darauf hin zu schneidern, wie man damit bei sich selbst anfangen kann. Das sagt es zwar an keiner Stelle explizit, aber das ist die Attraktivität. Und das klappt oft direkt in einen reaktionären Moralismus um – ganz abgesehen davon, dass es politisch nicht hinhaut. Andererseits aber kann eine Auseinandersetzung, ein Gespräch, das zu Einstellungswechseln führen soll, gar nicht anders geführt werden als über eine solche existenzielle Ansprache. Auf irgendeiner Ebene muss das sowieso passieren. Das wäre dann aber eher Agitation oder Propaganda oder auch Pop als Analyse oder Kritik.

Aber ist das Politische des Buches nicht gerade, dass es sich jeder politischen Beteiligung zwecks Verbesserung der Zustände enthält? Geht es nicht stattdessen um Feindbestimmung?

Ja, das sehe ich auch so. Aber Feindschaft ist ja so eine individuell kleinbürgerliche Lösung des Problems, dass ich nicht weiß wohin mit meinen politischen Leidenschaften. Ich denke mir beim Fahrradfahren auch immer Schauprozesse und Standgerichte gegen SUV-Fahrer aus.

Der Protest findet wieder auf die Straße zurück, Soziale Bewegungs- und ProtestforscherInnen konstatierten für 2010 mehr Aufstände und Unruhen als 1968. Griechenland, die nordafrikanischen Ländern und jüngst auch Spanien wurden von heftigen Revolten erschüttert. Selbst in der schwäbischen Hauptstadt Stuttgart wüteten BürgerInnen angesichts eines Bahnhofabrisses. Der kommende Aufstand bezieht sich zum einen direkt auf die Aufstände in Griechenland, in Oaxaca und in Argentinien, repräsentiert aber zum anderen auch die widersprüchlichen Erfahrungen der Linken, die man auch als Krise der Linken lesen könnte.

Die Tatsache, dass es eine Fülle von Aufständen gibt und diese auch als eine Fülle und Vielfalt von Aufständen wahrgenommen werden, hat meiner Meinung auch damit zu tun, dass diese gerade nicht leicht zu vereinheitlichen sind. Das einzig Gemeinsame ist vielleicht, dass man überall auf der Welt seit 30 Jahren mit der gleichen posthistorischen Propaganda lebt; dass allen – ganz egal, was die wollen oder für Interessen haben – vielleicht nunmehr endgültig lang genug gesagt wurde, dass es keine Alternative gäbe. Das will wirklich niemand mehr hören. Die Alternativen, die die Leute je und je hören wollen, sind aber sehr verschiedene.

Ein Begriff für diese Vielheit reicht nicht aus, um der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass unterschiedliche Entwicklungsstadien, auch innerhalb einer globalen Situation, Ausdruck und Anlass für alle Arten von Aufständen liefern. Das ist wirklich ein neues Phänomen, das auch eine andere Vorstellung der Geschichtlichkeit von Aufständen verlangt. Man sollte den Aufstand also nicht mehr gut altmarxistisch als Zuspitzung einer bestimmten Widerspruchssituation sehen, sondern die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Aufständen, von historischen Entwicklungsphasen in Betracht ziehen. Man muss nicht nur die Gleichzeitigkeit einer Welt wahrnehmen, in der es eine Erste und eine Dritte Welt gibt, sondern auch die Gegensätze, die im selben Stadtraum aufeinander prallen. Das ist gar nicht hoch genug einzuschätzen als Herausforderung der Beschreibung: die Simultaneität unterschiedlicher Zeitinseln, die ich nicht in eine lineare Entwicklung eintragen will.

Das finde ich einen wichtigen Punkt. Slavoj Zizek wies in einem Gespräch kurz nach dem Rücktritt Mubaraks auf Aljazeera darauf hin, dass die Bilder und Interviews aus Kairo zeigten, dass wir im Moment des Kampfs gegen die Tyrannei unmittelbar solidarisch sind, dass der Kampf um die Freiheit praktischer Universalismus ist.

Ja klar, aber der Gedanke hat auch was Tautologisches. Freiheit ist halt ein Name für erwünschte politische Verhältnisse, auf die sich sogenannte Universalismen einigen können – auf was, wenn nicht auf die Freiheit. Das Problem, dass das schon für Männer und Frauen in Ägypten etwas sehr Unterschiedliches bedeutet, ist dann das Problem dieses Universalismus.

Was die sogenannten arabischen Aufstände für mich als inspirierendes Moment haben — so blöde das klingt aus der Distanz — ist eher der Punkt, dass man eben nicht sagen kann, worum es geht. Aber deutlich sagen kann, dass es darum geht, die Bedingungen zu schaffen, um darüber streiten zu können, um was es geht. Das — finde ich — hat eine extrem utopische Note.

Im Sinne von Derridas „democratie à venir“?

Ich würde mich da nicht einmal auf Demokratie festlegen, aber „(à) venir“ auf jeden Fall. Man sollte den Rahmen offen halten, indem man einen neuen Rahmen schafft, in welchem man sagt, die Ebene, auf der bisher diskutiert wurde, ist völlig defizitär.

Eine kleine Ironie sehe ich auch noch im Titel: ist der kommende Aufstand nicht vielleicht auch eine Antwort auf, oder vielleicht eine sarkastische Antwort auf die kommende Demokratie, also auf Derridas kommende Demokratie?

Und auf die kommende Gemeinschaft von Agamben?

Mit Agamben sind sie wahrscheinlich sogar einverstanden, die kommende Gemeinschaft ist wahrscheinlich ein Endzweck des kommenden Aufstandes, während die kommende Demokratie von Derrida wahrscheinlich ein Problem ist, weil die kommende Demokratie von Derrida — was ich an der kommenden Demokratie ja schätze — eben immanentistisch vorgeht, davon dass, was immer auch passiert, was immer auch sich zum Guten oder Schlechten wendet, sozusagen aus dem Material gemacht ist, das es schon gibt. Und dass es keine Aufstände oder Ereignisse ex machina geben wird. Aber ich glaube, dass das genau der Gegensatz zwischen Agamben und Derrida ist. Jedenfalls kommt — glaube ich — auch das Kommende ein bisschen her. Man kann es ja auch so wenden, dass sie ganz punkig sagen wollen, ob Demokratie oder Gemeinschaft ist völlig egal, uns geht es nur um den Aufstand, nicht um irgendeine Teleologie.

Die Verschränkung der weltweiten Aufstände mit der Diagnose einer entfremdeten Welt ist doch aber eine interessanter Punkt?

Ich finde, das hat das nichts zu tun mit der Diagnose dieses Textes, der eine bestimmte Art von Entfremdung und Sinnverlust, Stumpfsinn und Unterworfenheit beschreibt. Die ist zwar nicht immer komplett falsch, aber sie hat nichts damit zu tun, was zwei U-Bahn-Stationen weiter passiert z.B. in den Banlieues. Ich will da nicht einfach nur auf Bürgerkinder oder Nicht-Bürgerkinder hinaus, das hat auch noch ganz andere Seiten der Unterschiedlichkeit, die nicht mit einem gemeinsam kapitalistisch entfremdeten Leben zu beschreiben sind. Mir wäre doch unter bestimmten Umständen mehr „Entfremdung“, wenn man darunter z.B. eine Versachlichung von Arbeitsverhältnissen verstehen würde, durchaus lieber als die Newspeak der sozialen Kompetenz, der soft skills und des Teamgeistes. Auch wer gegen primär patriarchal begründete Verhältnisse aufbegehrt, also u.a. mit der Analogie von Staat und Familie, möchte doch eher mehr Fremdheit – natürlich ist das nicht die Entfremdung im marxistischen Sinne, aber ob Fremdheit für dieses Verhältnis immer noch die richtige Metapher ist, wäre vielleicht auch zu bezweifeln.

Ich denke, auch der Punkt des Selbstverwirklichungs-Elends ist wichtig. Ich glaube, was jetzt auch weitestgehend allen dämmert, ist, dass die Selbstverwirklichung im kreativen Beruf an gewisse Grenzen gestoßen ist. Zum einen fällt ihr die Maske herunter, aber auch da, wo ihr nicht die Maske herunterfällt, ist sie ein knappes Gut geworden und wird durch Risiko und Stress erkauft, durch Selbst-Unternehmertum und so weiter. Das ist also einfach nicht mehr erstrebenswert und das ist natürlich eine Voraussetzung für dieses Buch, dass viele gebildete, etwas auf ihre Coolness haltende Leute sich nicht mehr wie in den letzten 25 Jahren nach dem Ende der großen politischen Hoffnung darauf freuen können, als Künstler und Künstlerinnen ihr Auskommen zu haben – oder als Designer.

Der andere Punkt, die Enttäuschung der Linken, finde ich wiederum eine größere Sache, weil die Generation, die jetzt unmittelbar davon angesprochen ist, nicht mehr — über generelle Gesinnungsfragen hinaus — erlebt hat, dass die Linke eine realpolitische Option ist – anders als der ältere Herr, mit dem ich heute im Wartezimmer ins Gespräch kam, der mir erzählte, wie in seinem Leben die Gewerkschaften bis 1969 jedes Jahr etwas Neues erkämpften, dann bis in die mittleren 80er noch ganz gut im Geschäft waren und seitdem jedes Jahr eine Errungenschaft preisgeben. Diese Enttäuschungen kennt die aktuelle 20 bis 35jährige Generation gar nicht. Und die, die eine linke Vergangenheit haben, die an irgendwelchen linken Niederlagen lebensgeschichtlich und auch existentiell beteiligt sind, werden – glaube ich – von dem Buch nicht angesprochen.

Das Manifest ist doch für junge Menschen, die trotz ihres akkumulierten kulturellen Kapitals weit von den Privilegien entfernt sind, in deren Genuss ihre Eltern im goldenen Zeitalter der immerwährenden Prosperität noch kamen, sehr attraktiv.

Diese Analyse ist mir fast schon zu triftig, sie stellt das Ganze auf eine zu breite Basis. Attraktiv ist dieser Text doch nur für einen wiederum doch sehr kleinen Teil von Leuten. Nämlich da, wo ein bestimmtes künstlerisches Wissen und eine bestimmte künstlerische Sensibilität in Verbindung mit dem Moralisch-im-Recht-Sein wichtig genommen werden. Also, wo ganz dandyistisch das Recht-Haben ein ganz bestimmtes sprachliches Kleid trägt. Das ist natürlich den meisten politisierten jungen Leuten relativ egal, um nicht zu sagen hinderlich. Das würde sie abstoßen und irritieren, wenn plötzlich jemand auf Stil Wert legte. Wenn sich Studierende an einer Hochschule über den Bologna-Prozess aufregen und zusammentun, gibt es zunächst niemanden, der Stilkritik übt.

Wen adressiert also das Buch letztendlich? Ist das Offene das Erfolgsrezept des Buches?

Wenn man versucht, den Nutzwert zu beschreiben, dann sind es wenige Leute, die so etwas wie dandyistische Linksradikale sind. Ich kann mich in deren Position gut einfühlen, aber das ist eine verschwindende Minderheit und es sind zumeist auch noch Leute, die stolz darauf sind, sich selbst etwas ausgedacht zu haben und sich nicht anderer Leute Aufstände anschließen. Ich glaube, dass eben dieses existenzialistische Denken, das davon ausgeht, dass sich durch Lebensstil oder Lebensformen etwas lösen lässt, einfach so ein wahnsinnig geiles Versprechen ist, dass da sozusagen alle Schranken fallen. Das finden auch Leute gut, die gar nicht unbedingt Revolutionäre werden wollen. Das finden Leute gut, die noch vor zwei Tagen beim Yoga oder beim Kieser-Training ihre Probleme gelöst haben und die auch jetzt nicht Linksradikale oder Revolutionäre werden wollen. Aber die einfach aus dieser Verbindung heraus die Inspiration nehmen, „Ja, da kann man vielleicht auch andere Verbindungen herstellen“. So funktioniert auch die Hermann-Hesse-Lektüre. Man bekommt irgendwie gesagt, wenn man nur auf seine innere Stimme höre und das übertrüge ... So funktioniert das, glaube ich. Und außerdem kommt noch dazu, dass diese Art von Linksradikalismus nicht so angstbesetzt ist. Niemand bekommt das Gefühl, morgen muss ich mit einer Kiste Molotow-Cocktails in meinem Transporter irgendwo vorfahren. Sondern, dass es eben eine Sache der Einstellung, der Lebensformen sei. Und das ist einfach jenseits der Zielgruppe „Linke“ attraktiv.

Es gibt aber inzwischen in Frankreich und Italien, aber auch in der französichsprachigen Schweiz eine beträchtliche Szene des Insurrektionalismus, die starken Einfluss auf die Szenen in den Krisenländer Portugal, Spanien und Griechenland hat.

Klar, das ist sozusagen der besser informierte Rand der aktuellen Wut. Allerdings reagieren diese Leute ja auf sehr viel massiver materiell spürbare Folgen einer kapitalistischen Großkrise als die eher auf die Verblödung der Plastikmenschen und die Warenförmigkeit des Junge-Mädchen-Verhältnisses reagierenden unsichtbaren Aufständler. Neu ist ja, dass im Moment wirklich angezeigt ist und auch erwartet werden kann, dass etwas Drittes an die Stelle der etablierten Künstler- und Sozialkritiken tritt, die man dann nicht mehr gegeneinander ausspielen können wird.

Das Buch lag auf englisch schon recht früh in den Kunst-und Theoriebuchhandlungen aus. Semiotext(e) brachte das Buch – nach der französischen Orginalausgabe – im August 2009 als erster Verlag auf englisch in einer Reihe des MIT heraus. Gibt es im Feld der Kunstproduktion nun wieder eine positive Bezugnahme auf Handlungsmöglichkeiten jenseits von Projektarbeit?

Kunst, die glaubt, unmittelbar Politik zu sein (statt: politisch zu sein), hat noch nie funktioniert. Wenn man überhaupt mit einer Ontologie der Kunst arbeitet, kauft man die Trennung der Sphären mit ein, was seine Vor- und Nachteile hat. Eine Zeit lang fand ich ja, dass Kunst so wahnsinnig sozialpragmatisch geworden ist, dass der reale Aktivismus keine andere Chance mehr hatte als sie an Radikalität zu überbieten. Manchmal denken Leute, die sich KünstlerInnen nennen, politisch pragmatischer als die AktivistInnen.

Die Tagung „The Idea of Communism“ in London und an der Berliner Volksbühne adressierte vor allem Künstlerinnen. Wird der Begriff Kommunismus neuerdings auch für dieses Milieu interessant?

Man hat wieder vergessen, wie tief dieser Name diskreditiert war, als 1989 in Bukarest gut aussehende RebellInnen riefen, sie wollten nie wieder Kommunismus. Als Denkmöglichkeit des Nicht-Privateigentums, der Nicht-Eigenschaften begrüße ich das, ich denke, es gibt eine reichhaltige intellektuelle Geschichte des Kommunismus, die das erlaubt. Mich stört allerdings an den prominentesten zeitgenössischen Autoren, die sich auf diesen Namen berufen, dass sie das eher um einer Liebe zur Poesie des Schroffen, des Unversöhnlichen heraus tun – als um etwas neues Altes zu denken.

Am Anfang des Manifests steht die fulminante Abrechnung mit dem Individuum, eine fast schon negativ anthropologisch Diagnose des Leidens des Ichs im Hier und Jetzt. Der Text argumentiert aber nicht klassisch kulturpessimistisch, sondern erinnert auch ein wenig an Alain Ehrenburgs Idee vom „erschöpften Selbst“.

Ja, wobei es im Fall Ehrenburgs Diagnosen sind, die er ganz sachlich vornimmt. Er macht das geradezu unpolitisch und manchmal erlaubt er sich einen Gedanken in Richtung Kulturpessimismus, aber das ist bei ihm kein zusammenhängendes Programm. Ich finde auch, dass das Manifest nicht klassisch kulturpessimistisch ist, sondern eben, dass es sozusagen die Untergangsvisionen sind, die eher Zappa 1966 hatte. Es kommt mir so vor wie die ersten beiden Alben der Mothers of Invention, was dort geredet wird, auch das in den Sarkasmus immer wieder hinein brechende Pathos. Das ist ein typisches Merkmal. Zappa lässt in der Anklage an die „Plastic People“ die Eltern, die unter Schminke ihrem Alkoholismus frönen, ihr falsches Leben leben. Der Ton ist sarkastisch, alles ist Satire und schrille Kleider. Und dann kommen dazwischen so Zeilen, wie „Ever told your kids you’re glad that they can think?“ Da gibt es dann plötzlich so ein unglaublich pathetisches Moment. Ich glaube, es handelt sich hier auch um diese Art der Verwünschung des Bestehenden. Das ist in der Tat kein klassischer Kulturpessimismus. Der klassische Kulturpessimismus sitzt ja eher in der Hotelbar und schaut sich das alles an, ist alleine und will keine Kommunen gründen.

Was meinst Du damit?

Ich finde, der klassische Kulturpessimist ist ein Hendrik de Man, ein Ernst Jünger nach ’45. Das ist so das Modell, das Lutz Niethammer sehr gut in seinem Posthistoire-Buch beschreibt. Der klassische Kulturpessimist ist jemand, der eine Hoffnung hatte in irgendeine Umwälzung und erlebt hat, wie diese gescheitert ist. Das gibt es bekanntlich auch reichlich bei alten Linken und 68ern. Dieses Wissen um das Scheitern hat er als seine Legitimationsstrategie für sein weiteres Leben entwickelt.

Sicher stand aber Debords Kulturpessimismus auch Pate beim Manifest?

Ja, der späte Debord ist ja auch verdammt kulturpessimistisch. Diesen Kulturpessimismus finde ich auch ein Problem bei diesem Text, vor allem ein stilistisches, da Debords Kulturpessimismus sich ja so in der Sprache widerspiegelt. Dieser Sprache des Imperfektes, dieses zurückschauenden Imperfektes — die imitieren sie ja ziemlich genau.

Man hört stark auch den mittleren Debord der Lukács-Phase.

Aber noch mehr — ich kenne ja die klandestinen Verhältnisse hinter diesem Buch nicht, ich kenne nur verschiedene Gerüchte — noch viel mehr in Reinkultur findet man das im Film „Get rid of yourself“ von der Bernadette Corporation. Da spricht ein Typ, von dem ich annehme, dass er dieses Buch geschrieben hat, weil er sehr, sehr ähnlich redet. Und der hat 2001 diesen Debord geradezu bauchrednerisch drauf. Das ist der reine Debord. In der Zwischenzeit — das ist meine These — hat er noch etwas erlebt und etwas gelesen und jetzt ist es nicht mehr ganz so nahe dran. Dieses 2001-Manifest ist totaler Debord und hat auch offen kulturpessimistische, über Debord hinaus gehende Passagen, wo von untergehender Zivilisation die Rede ist, wo es dann nicht mehr nur um den Kapitalismus geht, sondern um „das Abendland“, um „den Westen“ .

Dort sehe ich dann wieder eine Verbindung zu Alain Badiou. Der geht dann auch wieder zurück bis ins frühe Griechenland. Der Film bringt das miteinander in Verbindung. Auch damals ist schon vom Kommunen-Gründen die Rede. Das ist wirklich schon ziemlich ähnlich. Und der Film bringt dieses Kommune-Gründen in Verbindung mit so Dingen wie der Factory in New York oder eben auch Brandschatzen in Genua.

Das Buch besteht ja aus zwei Teilen. Einem zeitdiagnostischen Teil und einen sehr konkreten praktischen Teil. Was hälts Du vom zweiten Teil, der Anleitung zur Praxis?

Anleitungen zur Praxis werden eh nie gelesen wie Anleitungen zur Praxis. Das ist einfach eine Textform. „Do it! Scenarios of the Revolution“ von Jerry Rubin hat auch niemand nachgebaut. Das ist halt nur so eine Textform.

Ich finde, dass dieser Aspekt von Texten nicht uninteressant ist und nicht völlig falsch. Ich finde nur, das mit Politik zu verwechseln, ist ein Problem. Und ich finde auch die Empfehlung, wie man zu leben hat, anmaßend und Käse.

Woran ich mich auch erinnert fühlte, das war Seth Prices Text „How To Disappear in America“, diese Anleitung zu verschwinden. Also wie kann man sich sozusagen aus Datennetzen komplett befreien, wie kann man wirklich unsichtbar werden. Das ist ein toller Text, der das auch als praktische Anleitung beschreibt, aber dem natürlich kein Mensch folgt. 99 von 100 Lesern sind davon fasziniert, aber nicht, um es nachzumachen. Die Textform der Anweisung, die Textform des praktischen Vorschlages ist einfach ein forciertes realistisches Schreiben. Das ist ein weiterer literarischer Trick.

Während im bürgerlichen Feuilleton der glänzende Stil, die poetische Qualität und die konzise Gegenwarts-Beschreibung gerühmt wurde, attestierte die linksliberale (taz) und linke Presse (Jungle World) dem Buch teilweise reaktionäres Gedankengut und ordnete den Kommenden Aufstand als antimoderne Hetzschrift ein.

Es gibt elitäre und aktionistische Komponenten in dem Buch, die ich vielleicht für kompatibel mit rechten Ideen von direkter Aktion halten würde, aber nur wegen Schmitt-Dropping ist man natürlich nicht rechts, da stimme ich der Kritik in der taz nicht zu. Allerdings auch nicht dem Verriss dieser Kritik durch den ansonsten sehr geschätzten Cord Riechelmann in der Jungle World, dem die Bauchschmerzen gegenüber dem Manifest zu „sozialdemokratisch“ waren. Aber es gibt natürlich Berge von Linken, auch sozialdemokratischen Linken wie Chantal Mouffe, die produktiv mit Schmitt arbeiten. Dann gibt es aber auch tatsächlich die, da denke ich dann an Autoren wie Agamben, die mit Schmitt arbeiten und mit anderen rechten Autoren und dabei auch nicht unbedingt rechts werden, aber so in einen radikalen Formalismus abdriften, dass es schon problematisch wird. Vor allem, wenn darauf dann eine Gesellschaftskritik aufgebaut wird, die nur bestehen kann, wenn sie sich als Zivilisationskritik geriert, die die Leute überall fundamental falsch leben sieht.

Diese Art der Zivilisationskritik ist ein rechter Topos?

Ich weiß nicht, ob es ein rechter Topos ist, aber ein fieser: wenn sogar Robert Kurz einmal zustimmend Ernst Jünger zitiert mit dem Beispiel, dass er das Rumgerase auf Motorrädern den Gipfel von Entfremdung findet – und wenn anhand von solchen Beobachtungen bildungsbürgerliche Gemütsmenschen den jungen Leuten ihr sinnloses Treiben als Zivilisationsschaden ausreden wollen oder, wie bei Agamben, mit Heidegger die Diagnosemaschine angeworfen wird, da hört’s bei mir auf. Mein Zivilisationsschaden gehört mir. Auch und gerade im Kommunismus, bitte!

Ich finde die Bezugnahme auf die Riots in den Banlieues interessant. Die Abgehängten der Banlieues wollen sich nicht eingliedern lassen, genausowenig wollen sie sich den etablierten Instrumenten der Repräsentation beugen. Die Linke ist bisher — was die Aufstände der Banlieues betrifft — ziemlich sprach- und ratlos geblieben.

Ich bin mir nicht so sicher, ob ich diesen Gedanken teile. Mir ist das ein Tick zu spontaneistisch. Ich denke, in der Politik jedweder Art gibt es immer ein Element einer Repräsentation. Natürlich gibt es auch immer eine berechtigte Kritik an Repräsentation und Abschaffung von Repräsentation. Aber das Verhältnis von Repräsentation und Intensität wird man nicht in eine Richtung auflösen können zur reinen Intensität hin. Das funktioniert nicht. Natürlich auch nicht in Richtung reiner Repräsentation. Darauf muss man irgendwie hin arbeiten, aber ich denke, dass die Bezugnahme auf die Banlieues-Aufstände auch ein bisschen parasitär ist.

Wobei ja in diesem Text jetzt nicht nur eine reine Unmittelbarkeit gepredigt wird. Der Mühseligkeit der Herausbildung einer realen Klassenbewegung sind sich die VerfasserInnen des Manifestes durchaus bewusst.

Die Londoner Vorgänge dürften noch eine größere Herausforderung darstellen. Man kann die an ihnen Beteiligten ja nicht als allein rassistisch Verfolgte beschreiben, denen man dann aber wiederum die Bündnisfähigkeit implizit abspricht, weil sie sich eher über ihren Islam als über Ihre politische Position beschreiben. London war anscheinend viel komplexer: obwohl Akteure dabei waren und Begriffe zur Verfügung standen und teilweise auch deren Anwendung versucht wurde, die das Ganze in die Geschichte ähnlicher Ereignisse in London einzuschreiben, haut das nicht hin. Ich finde gerade, das schreit nach Versuchen, die repräsentative Ebene der neuen Unruhen zu entwickeln, die Kämpfe zwischen Athen und Wisconsin auf ihren politischen und kulturellen Punkt zu bringen, der darf nicht ewig bei Wut und Uns reicht’s bleiben.

In einem Artikel zur Begriffsbestimmung von Wut in der Jungle World hast Du die linke Option des „metaphysischem Universalismus“ kritisiert. An wen oder was hast Du da genau gedacht?

Ich hatte zu dieser Zeit gerade einen Text von Badiou gelesen, wo er davon spricht, inwieweit der Antikapitalismus etwas ganz anderes sein muss als der Kapitalismus, aus fundamental anderem Weltmaterial zusammengesetzt. Dass er ein ganz eigenes Projekt ist und dadurch auch viel stärker. Das war, glaube ich, in diesem Kunst-Manifest von ihm und da habe ich gedacht, Moment mal, das einzige, was es auf der Welt gibt, das alle diese Bedingungen erfüllt, was wirklich komplett aus etwas Anderem gemacht ist als die globale Gegenwart, ist der Jihad. Nicht einmal der wirkliche Jihad, der ja aus unserer Welt stammt und nur eine Variante des globalen Neo-Traditionalismus, sondern der Jihad, wie ihn sich deutsche Blogger und norwegische Massenmörder vorstellen. Und das fand ich interessant, weil Badiou, der auch darüber nachdenkt, ein paar Kriterien für diese fundamentale Alterität nennt: er sagt z.B., es darf nicht westlich sein. Was ist also das Maximale, was den westlichen Demokratien nicht gefällt? Er kommt natürlich auf etwas, was er nicht Jihad nennt, denn für den Jihad will er auch nicht sein, aber das entspricht genau dem Jihad. Das ist interessant, weil es eine reale Existenz des Jihad gibt und nun diese nicht so genannte negative Ableitung des Jihad von den realen Verhältnissen, die sozusagen derselben Logik folgt. Und auch ein guter Grund ist, warum man so eben nicht denken kann.

Wenn Du einen Konnex zwischen Badious antikapitalistischen Positionen und dem Jihad herstellen, muss man nicht auch beachten, dass es in Frankreich ein anti-antizionistische/anti-antisemitische Kritik nicht gegeben hat?

Wenn ich sage, dass Badiou an den Jihad denkt, dann meine ich damit natürlich nicht direkt den Jihad. Ich dachte an die Idee der radikalen Alterität der Gegenbewegung. Das hat nichts zu tun mit Kritik an Badiou als eventuellem Antisemiten, die es auch gibt. Das ist ein anderer Punkt. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es diese Diskussionen außerhalb von Deutschland tatsächlich selten in dieser Intensität gibt. Es gibt nur einzelne Personen, die diese Positionen einnehmen.

In Frankreich sind das Nouveaux Philosophes wie Bernard-Henri Lévy, Alain Finkielkraut, oder André Glucksmann, die aber auch alle anti-totalitäre, liberale Positionen vertreten.

Finkielkraut ist in vieler Hinsicht ein Rechter, BHL ist komplizierter. Glucksmann steht für eine Position, die man aus Amerika kennt: Das ist ein Single-Issue-Typ, der sich über die größeren Konsequenzen seiner jeweiligen menschenrechtlichen Issues keine Gedanken macht. Manchmal hat so eine Position Vorteile, aber weit führt sie natürlich nicht. In der politisierten Kunstwelt, die ja viel, viel internationaler ist in ihren Diskussionen als die deutsche Linke, verlaufen die Debatten völlig anders als z.B. in der Jungle World. Positionen, die aus den Debatten über die Realität des Antisemitismus hervorgegangen sind, kann man Leuten, die eher von Judith Butler und anderen Israel-Boykotteuren beeinflusst sind, nur schwer klar machen.

Ein weiterer Kritikpunkt in Deinem Text in der Jungle World war die Option des „Exodus“. Kannst Du diese erläutern?

Die Sache mit dem Exodus habe ich auch gewählt, weil es ein ganz attraktiver Begriff bei Paolo Virno ist, für den ich normalerweise durchaus Sympathien habe. Ich finde, es ist ein Problem, wenn man sagt, es gibt auf der einen Seite eben diese nicht-zu-etwas-führenden und nicht-vereinheitlichten Aufstände und auf der anderen Seite gibt es gegenüber der Kreativität und dem das Leben selbstverwertenden neoliberalen Kreativ-Kapitalismus nichts anderes als den Exodus.

Das ist Dir zu fundamentalistisch?

Nicht nur, auch zu unpolitisch.

Zu wenig realpolitisch?

Ich finde die Unterscheidung zwischen Realpolitik und anderer Politik problematisch. Also von beiden Seiten aus. Ich finde die Realpolitik macht es sich zu einfach, indem sie sich selbst stark begrenzt und die revolutionäre oder Nicht-Realpolitik macht es sich zu einfach, indem sie die Realität ausblendet. Das ist für mich keine entscheidende Kategorie. Wie generell all diese antiken Kategorien: Revolution vs. Reform, Radikalität.

Zum Kreativ-Kapitalismus, zu dem der Exodus der einzige Ausweg ist, gehört ja, dass er auch eine historische Entwicklung ist, die die Kritik, die Negation und die Gegnerschaft zum fordistischen Fabrik-Kapitalismus eingegangen ist. Das heißt, sich einfach von ihm davon zu machen, würde sozusagen auch die Geschichte der Kritik sabotieren, würde sozusagen sagen: okay, einmal haben wir es mit Kritik versucht, das funktioniert aber auch nicht, also machen wir es jetzt anders und halten uns woanders auf. Und ich denke im Sinne einer historischen Dialektik ist es tatsächlich sinnvoll, genau so weiter zu machen: dieses halbvolle Glas als halbvoll zu verstehen und dafür zu sorgen, dass es wieder voll wird und nicht zu sagen, es ist nur halbvoll, lass es uns wegschütten.

Inzwischen ist ja fast schon ein neues Genre von „Empörungsliteratur“ entstanden. Stéphane Hessels Buch „Empört euch“ wurde gleich ein Interview-Band mit dem Titel „Engagiert euch“ hinterhergeschickt. Jean Ziegler hat nun seine in Salzburg nicht gehaltene Rede in gleichem Format und ähnlich gelayoutet als „Aufstand des Gewissens“ in Buchform herausgegeben.

Ja, es gibt eben einen globalen Konsens, dass es nirgendwo und auf keinem Terrain so weitergehen kann. Was fehlt, ist aber nicht noch mehr Emotionen und noch mehr Entschlossenheit zu irgendwas, denn emotional und entschlossen und von dem Gefühl beseelt, dass es so nicht weiter gehen kann, sind eh alle; auch natürlich die Anhänger der Tea Party oder österreichische Kronenzeitungs-Leser, die den Bürokraten in Brüssel ans Leder wollen. Ich glaube, es fehlt an geteilten Zeichen und Habitus-Elementen der gerade neu überall entstehenden potenziellen globalen Linken der Zukunft, aber auch an Begriffen und Zielen, also eigentlich an Internationalität und Mainstreamfähigkeit, nicht von der Substanz her, aber von der Sprache. Ich hätte nie gedacht, als alter Subkulturalist, so etwas einmal zu fordern. Aber so weit ist es gekommen.

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