FORVM, No. 198/II/199
Juli
1970

Paul Celan

1947 tauchte in Wien ein junger Mann auf, der sich Paul Celan nannte. Er kam buchstäblich aus dem Nichts. Er wurde als Paul Anczel am 23. November 1920 in Czernowitz geboren, der Hauptstadt der Bukowina, die einmal zu Österreich gehört hatte und deren gebildete Bevölkerung jüdischer Herkunft deutsch sprach. Aber wo lag Czernowitz jetzt? Auf welcher Landkarte war es verzeichnet? Wer wohnte noch dort, und in welcher Sprache redete und schrieb er?

Der junge Paul Anczel fuhr 1938 nach Frankreich, wie es bei den Söhnen aus guten Familien in Rumänien der Brauch war, um dort zu studieren. Aber schon nach einem Jahr brach er das Medizinstudium in Tours ab und kehrte im Sommer 1939 nach Hause zurück, wo er Romanistik zu studieren begann.

Als der Krieg Osteuropa erreicht hatte, gelang es Paul Anczel nach einjährigem Aufenthalt in einem Internierungslager zu den Sowjettruppen zu fliehen, die den damaligen Medizinstudenten als Sanitäter einsetzten. 1944 kehrte er mit ihnen nach Rumänien zurück. Czernowitz gehörte nun zur ukrainischen Sowjetrepublik, der es schon 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt zugeteilt worden war. Pauls Eltern waren nicht mehr da. Sie wurden von den Deutschen verschleppt und umgebracht.

Der fünfundzwanzigjährige Heimkehrer verdingte sich als Kulturredakteur bei einer rumänischen Zeitung. Insgeheim schrieb er aber Gedichte in deutscher Sprache, die seine Muttersprache war und zugleich die Sprache der Mörder seiner Mutter. Was sollte er in Rumänien mit deutschen Gedichten anfangen, zumal Deutsch in den ersten Nachkriegsjahren nicht sehr hoch im Kurs stand, als könnte die Sprache von Heine und Rilke etwas dafür, daß sich auch die Verbrecher, natürlich schlecht, ihrer bedienen.

So fuhr der junge Mann, der sich nun Paul Celan nannte, nach Wien, das für ihn die Metropole der deutschsprachigen Literatur war. In seinem spärlichen Reisegepäck nahm er das Manuskript eines Gedichtbandes mit sowie einen Brief, den sein älterer Dichterkollege Alfred Margul-Sperber an Otto Basil geschrieben hatte, den Herausgeber der ersten österreichischen Literaturzeitschrift nach dem Krieg, die den bezeichnenden Titel PLAN trug. Basil druckte noch in der letzten Nummer seiner Zeitschrift, die im Frühjahr 1948 erschien, an erster Stelle siebzehn Gedichte von Paul Celan ab und am Schluß des Heftes als Notiz einen Auszug aus dem Brief von Alfred Margul-Sperber.

Der Band „Der Sand aus den Urnen“ erschien im selben Jahr bei A. Sexl in Wien. Es war ein, der damaligen Zeit entsprechend, auf schlechtem Papier gedrucktes Buch mit einem häßlichen Umschlag und voller Fehler. Trotzdem wurde Paul Celan für die literarisch interessierten Wiener der ersten Nachkriegsjahre zu einem Begriff. Als er einen Leseabend in der Agathon-Galerie hatte, war der Saal übervoll. Was zählte aber das zu einer Zeit, in der die Kreise, in denen er sich bewegte, von der Hand in den Mund lebten und am liebsten selbst ausgewandert wären, hätten sie eine Möglichkeit dazu gehabt? Sogenannte seriöse Leute, die Politik und Geschäfte machten, hatten für dahergelaufene Dichter, die plötzlich da waren und ein Lebensrecht für sich beanspruchten, wenig übrig. Das hat sich bei uns bis heute nicht geändert.

Paul Celan ging nach Paris, wo er sein Studium beendete und als Sprach- und Literaturlehrer ein bescheidenes Leben fristete. Im Frühjahr 1949 besuchte ich ihn in Paris. Damals studierte er noch und wohnte im letzten Stock eines kleinen Hotels in der Rue des Ecoles. Ich schlief in seinem kleinen Zimmer auf dem Sofa, und wir verbrachten zusammen herrliche drei Wochen, in denen wir sogar voll törichter Hoffnung zu glauben anfingen, daß es einmal auch in Wien besser werden würde, so daß er heimkehren könnte. Er hielt nämlich eine seltsame Treue zu Wien, wie zu einer Heimat, die er verloren hatte und die er einmal wiedergewinnen wollte.

1951 druckten Reinhard Federmann, Hans Weigel und ich in unserer Anthologie „Stimmen der Gegenwart“ eine Handvoll Gedichte von Paul Celan ab, zum Beweis dafür, daß er zur ersten österreichischen Schriftstellergeneration nach dem Krieg gehörte. Er gehörte auch dazu. Zu wem sollte er sonst gehören?

Auf Betreiben des österreichischen Teils der Gruppe 47, genauer gesagt auf Betreiben von Ingeborg Bachmann, Reinhard Federmann und mir, wurde Paul Celan im Frühjahr 1952 zur Tagung nach Niendorf bei Hamburg eingeladen. Er bekam den Preis der Gruppe 47 nicht, den bekam Ilse Aichinger, er fand aber gleich nach der Lesung einen deutschen Verleger, der schon im Herbst 1952 seinen Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ herausbrachte und ihn sehr rasch in der Bundesrepublik bekanntmachte.

Während die deutschen Intellektuellen darüber diskutierten, ob man nach Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben könne, schrieb dieser junge Mann, der nur durch einen Zufall Auschwitz entkommen war, Gedichte voll dunkler Töne und einer unheimlichen Kraft, die nur einer ausstrahlen kann, der an der Schwelle des Todes gewohnt hat. Er war durchaus fähig zu trauern, vielleicht auch stellvertretend für die Mörder, die seine Eltern, seine Verwandten und seine Spielkameraden aus einem nicht mehr existenten Czernowitz getötet haben.

Er war aber nicht bereit, in Deutschland zu leben, obwohl sich dort manches geändert hatte, sondern zog es vor, in einer Art freiwilligen Exils zu leben. Man druckte in der Bundesrepublik mehrere Bücher von ihm und schrieb über ihn, man lobte ihn und verlieh ihm hochdotierte Preise, so den Preis der Stadt Bremen und den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie in Darmstadt, aber Paul Celan blieb in Paris. Das Exil hat nur so lange einen Sinn, solange man auf Heimkehr hoffen kann. Wohin sollte aber ein in Czernowitz geborener, in deutscher Sprache schreibender Lyriker heimkehren? Hätte er gleich nach seiner Ankunft in Paris angefangen, französisch zu schreiben, wäre er sicherlich bald, gleich Ionesco, zu einem der Mandarine geworden, die das Kulturleben der französischen Metropole bestimmen. Was hatte aber ein Dichter dort zu suchen, der beharrlich fortfuhr, in deutscher Sprache zu schreiben?

1959, bald nachdem sein Gedichtband „Sprachgitter“ in Frankfurt erschienen war, rief mich Paul Celan an. Er rief nicht aus Paris, sondern aus Wien an. Er hatte sich plötzlich entschlossen herzukommen, weil er das Bedürfnis verspürt hatte, zu hören, wie die Menschen auf der Straße deutsch sprächen. Er blieb eine Woche hier, in der wir uns auch darüber unterhielten, wie wir es bewerkstelligen könnten, daß er wieder nach Wien kam. In einer Art lokalpatriotischer Euphorie glaubte ich daran, daß es mir gelingen würde, ihm durch irgendwelche Beziehungen zu einer Wohnung, und sei es zu einer Gemeindewohnung, und zu einem mittelmäßig, aber pünktlich bezahlten Posten zu verhelfen. Er beherrschte doch mehrere Sprachen — außer Französisch und Rumänisch noch Russisch und Englisch — wie kein anderer, so daß es nicht schwer gewesen wäre, für ihn eine entsprechende Arbeit zu finden. Wir hatten dabei vergessen, zu berücksichtigen, daß er ein großer Dichter war, der bei uns nicht gern geduldet wird, was immer er auch sonst tun mag.

Als Paul Celan wegfuhr, dachte ich ernstlich daran, mich dafür einzusetzen, daß er nach Wien kam. Aber dann wurde mir schmerzlich bewußt, daß ich selbst in einem luftleeren Raum lebte, in dem ich nicht imstande war, für irgend jemand etwas zu tun. Alles, was ich unternehmen konnte, war, dreizehn Gedichte von ihm in meiner Anthologie „Die Verbannten“ abzudrucken. Im Vorwort zu dieser Anthologie schrieb ich über unsere Ohnmacht in einer Umgebung, in der mittelmäßige Dilettanten und Gschaftlhuber tonangebend sind. Das war das einzig sichtbare Ergebnis unseres Gesprächs. Ich unterhielt mich noch da und dort über Paul mit ein paar Freunden, die auch nicht imstande waren, für irgend jemanden irgend etwas zu tun. Vor zwei Jahren lud ihn schließlich Wolfgang Kraus zu einer Lesung nach Wien ein.

Ich freute mich sehr, ihn wiederzusehen, und ging ins Palais Palffy, aber Paul Celan kam nicht. Ein paar Hundert Interessierte oder Neugierige gingen enttäuscht weg. Ich glaube, da war es schon zu spät.

Das Schicksal Paul Celans ist ein erneuter Beweis dafür, daß Österreich nur tote oder exilierte Dichter hat. Da er nun tot ist, hat er endlich die Chance, in ein Land heimzukehren, in dem man seine Sprache versteht.

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