FORVM, No. 430/431
November
1989

Perestrojka in Ö

„Keine Alternative zur ‚Reform-Alternative‘“?, fragt L.H.‚ Redakteur des Zentralorgans der KPÖ, „Volksstimme“, davor des FORVM, noch davorer des ORF, den er wegen seiner hier erschienenen Kritik an den politischen Sprachregelungen (Vietcong ist keine Befreiungsbewegung etc.) unter Bacher und Bock damals verlassen mußte.
Anknüpfend an das OST-WEST-FORVM (I) im vorigen Heft, ist sein Beitrag zufällig zugleich kontroversiell zum vorigen in diesem.

Peter Fleißner und Wolfgang Hofkirchner haben im August/September-Heft mit ihrem Artikel „Reform oder Klassenkampf“ eine längst fällige Diskussion über Konzepte fortschrittlichen politischen Handelns begonnen, der sich auch die österreichische Linke nicht verschließen kann. Daß die sich — unabhängig von ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit — in einer schweren Krise befindet, läßt sich nicht leugnen. Der seinerzeitige Illusionsträger Josef Cap im Zentralsekretariat der SPÖ ändert daran ebenso wenig wie ein angekündigter Wechsel an der KPÖ-Spitze, der sogar in der Zeit-Geist-Presse erörtert wird. Im Zuge von Perestrojka und Glasnost in der Sowjetunion stellte sich überraschend schnell heraus, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als Charakteristikum unserer Epoche keine „g’mahte Wies’n“ ist.

Angesagt ist bei vielen Linken, denen weit über die Kommunisten hinaus plötzlich ihr eher lineares Weltbild abhanden gekommen ist, aber neue Handwerkelei — mit dem Ziel, taufrische Bilder von Sozialismus und Kapitalismus zu zimmern. So verdienstvoll die Analyse der die Welt beherrschenden Probleme durch Fleißner/Hofkirchner auch ist, haben sie sich hinsichtlich der politischen Schlußfolgerungen auf äußerst glattes Eis locken lassen. Mit ihrer Anlehnung an die von den westdeutschen Marxisten Jörg Huffschmid und Heinz Jung entwickelte „Reformalternative“ [1] scheinen sie in das offene Messer einer allzu rasch verfügbaren Patentlösung gerannt.

Kaum ist die Kuh oder der „real existierende Sozialismus“ als Orientierungspunkt aus dem Stall, schon schlägt der Bauer die Hände überm Kopf zusammen, bzw. wird in affenartiger Geschwindigkeit nach einem wiederum verbindlichen Blindenstock gefahndet. Wenn Huffschmid/Jung behaupten, es gebe „keine Alternative zur Reformalternative“, entpuppen sie sich als neue Dogmatiker. Letzten Endes versuchen sie, ihre Klientel auf einen mühsam von den Toten auferweckten „Dritten Weg“ einzuschwören. Ihn haben zuletzt Sozialdemokraten der Marke Brandt, Kreisky und Palme propagiert, bis diese Illusion dem Ölpreisschock 1974/75 zum Opfer fiel und aus dem Verkehr gezogen wurde.

Liest man auch bei Fleißner/Hofkirchner von einem

angepaßten Kapitalismus, nämlich einer umweltschonenderen, friedensfähigeren, gerechteren Variante des Systems des staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine auf demokratisches Wirtschaften, sinnvolles Arbeiten, solidarisches Leben und neues Denken orientierte Reformalternative,

kommt einem der Verdacht, daß die Erfahrungen der beiden „linken Theoretiker unterschiedlicher Provenienz“, wie sie im Vorspann bezeichnet wurden (Zwischenruf: Geht’s auch etwas weniger gestelzt, Oberschlick [2]), nicht denen eines einfachen „Volksstimme“-Redakteurs entsprechen.

Gestaltbarer Kapitalismus?

Man braucht nicht einmal den landläufigen Eurozentrismus abzulegen, um einigermaßen Bauchweh hinsichtlich der Gestaltbarkeit des herrschenden Systems zu bekommen: Die in Westeuropa schon jetzt bestehende Arbeitslosigkeit übertrifft die aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Durchwegs werden Verschlechterungen bei Arbeits- und Laden-Öffnungszeiten, Lohnniveau und Pensionseintrittsalter angestrebt. Österreich gerät mit dem EG-Beitrittsantrag in jenen Strudel der Profitoptimierung, wie ihn die Monopole durch die Bildung des „europäischen“ Binnenmarkts anstreben. Aber das und vieles mehr brauch’ ich Fleißner/Hofkirchner nicht zu erzählen: Sie wissen es selbst viel besser.

Wie aber, muß man sich fragen, kommen sie dennoch bei erstklassiger Analyse von Teilbereichen des herrschenden Systems einerseits und Erörterung von sogenannten globalen Menschheitsproblemen anderseits zu Marxisten vermutlich allgemein „blauäugig“ anmutenden Patentrezepten, die auf eine Koalition der Vernunft zwischen Friedensfreunden, ökologiebewußten und Dogmen jeglicher Art abschwörender Arbeiterbewegung hinauslaufen — mit dem Ziel, dem Kapital Manieren beizubringen? Steckt dahinter ein historischer Optimismus, der ohne Rücksicht auf Verluste erst recht wieder auf dem Vorurteil beruht, immer genau zu wissen, wo es „lang“ geht?

Ohne den beiden Urhebern dieser notwendigen Diskussion etwas zu unterstellen, denke ich, daß die Probleme, vor denen die Linke steht, nur mit gründlichen Analysen kapitalistischer und sozialistischer Entwicklung in den letzten 50 bis 70 Jahren beizukommen ist. Sie kann selbstverständlich nicht hier und nicht von mir geleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Prozeß kollektiven Nachdenkens — in Österreich und auf internationaler Ebene. Dabei wäre vor allem davon auszugehen, daß gerade Linken die Wahrheit zumutbar ist. Diese gilt es aber, was den Charakter des Sozialismus in den sozialistischen Staaten ebenso betrifft wie Möglichkeiten und Gefahren kapitalistischer Entwicklung, erst mühsam freizulegen. Dabei ist selbstverständlich auch zu prüfen, ob wir nicht überhaupt in auswegloser Zeit auf einem Vulkan tanzen.

Radikalität ist bei diesen Bemühungen unerläßlich. Sonst könnte der Eindruck entstehen, daß in die Beurteilung der „Überlegenheit“ des Kapitalismus jenes Bild einfließt, das die glänzenden Augen von Bürgern aus sozialistischen Ländern vor den Auslagen der Mariahilfer Straße machen. Völlig unter den Tisch fällt bei dieser selbstgefälligen Betrachtungsweise, die auch Linken nicht ganz fremd zu sein scheint, daß unsere Produktionsweise längst zu einer Zerreißprobe für die globale Existenz der gesamten Menschheit geworden ist. Zu beantworten ist aber auch die Frage, ob der Kapitalismus beim Vergleich mit dem „Sozialismus“ nur deswegen gut abzuschneiden scheint, weil das unter Federführung von Stalin durchgesetzte Modell politökonomischer Entwicklung der Sowjetunion und später der Volksdemokratien praktisch nichts mit jenem Sozialismus zu tun hatte, den Marx, Engels und Lenin gemeint haben.

Wichtige Antworten auf viele offene Fragen könnte/müßte eine gründliche Untersuchung des Charakters der Eigentumsverhältnisse — nach wie vor das Um und Auf der kritischen Methode des Marxismus — in beiden Bereichen der zweigeteilten Welt bringen. Dazu einige Anregungen.

Kapital und Plan

Im Kapitalismus sind Unternehmer- und Eigentümerfunktion in den Schlüsselbereichen der Wirtschaft längst voneinander getrennt; der Vergesellschaftungsprozeß des Kapitals hat vom einfachen Zusammenschluß einzelner Kapitalbesitzer in Aktiengesellschaften über die Herausbildung von Monopolen und die führende Rolle des Finanzkapitals bis schließlich zur Formierung transnationaler Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzkomplexe atemberaubende quantitative Veränderungen durchlaufen. Damit stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung nicht auch in eine — freilich noch kaum näher untersuchte — neue Qualität umgeschlagen ist.

Zunächst scheint jedenfalls auf der Hand zu liegen, daß nicht das freie Wirken der vielzitierten Marktkräfte für die erstaunliche Vitalität des Kapitalismus verantwortlich ist. Halbwegs funktionstüchtig erweist sich dieses System erst etwa seit Beginn der fünfziger Jahre und das nur in den hochentwickelten Industriestaaten. War dafür wirklich in erster Linie die allgemeine Durchsetzung des sogenannten staatsmonopolistischen Kapitalismus nach den Erfahrungen ausschlaggebend, die damit in Hitlers Kriegswirtschaft und Roosevelts New Deal gemacht wurden? Oder schufen nicht viel eher der Zweite Weltkrieg und seine Resultate — der Zwang zur planmäßigen Führung der Wirtschaft und eine enorme Kapitalkonzentration, beides vor dem Hintergrund der Bildung einer sozialistischen Welt — die Voraussetzungen zur umfassenden Durchsetzung wissenschaftlicher Elemente in der Betriebsökonomie?

Ohne daß am Letztentscheidungsrecht der Eigentümer oder ihrer bestellten Vertreter gerüttelt wurde, begannen in die alltägliche Praxis Managementmethoden einzufließen, die aus der wissenschaftlichen Durchdringung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses abgeleitet sind und direkt dem zweiten Band von Marx’ „Kapital“ entnommen sein könnten. Der Begriff von der Managergesellschaft greift viel zu kurz, um diese Erscheinung zu definieren, weil er lediglich auf die Spitze eines Eisbergs — und zwar auf eine neue, von den Eigentümern dominierte Gruppe der herrschenden Klasse — verweist. Entscheidend ist vielmehr die unmittelbare und vielfältige Einschaltung und Anwendung wissenschaftlicher Disziplinen in der Betriebsführung und -planung.

Davon blieb kein relevanter Bereich verschont — Marktforschung und Absatzplanung, Produkt- und Produktionsentwicklung, Arbeitsplatzgestaltung und Beschäftigtenauswahl, Lagerhaltung und Finanzierung usw. Alles wurde mehr oder weniger nach der Logik der Zeitökonomie und unter Nutzung der rasch wachsenden Möglichkeiten der Datenverarbeitung weit ab vom früher dominanten „Gefühl“ patriarchalischer Industrie- und Finanzkapitäne auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt. Dieser Prozeß brachte mit sich, daß nicht mehr die meist anonymen Eigentümer oder die Unternehmerfunktion ausübenden Topmanager einer Firma, eines Konzerns oder eines Multis im Alleinbesitz aller entscheidungsrelevanten Informationen sind, sondern alle Beschäftigten mit direktem Zugriff auf das jeweilige Rechenzentrum über mindestens gleichwertige Daten verfügen.

Aus der Differenzierung betrieblicher Hierarchien und den damit verbundenen Interessenunterschieden — etwa zwischen Hauptversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand einer Aktiengesellschaft sowie den weiteren Führungsebenen und der aus verschiedensten Fachbereichen stammenden wissenschaftlichen Intelligenz — entstehen zusätzlich massive Widersprüche, die explosiven Charakter annehmen können. Das trifft vor allem dann zu, wenn man davon ausgeht, daß der Horizont dieser Leute nicht auf die betrieblichen Eigen- und Sonderinteressen beschränkt ist, sondern auch gesamtgesellschaftliche Probleme umfaßt. Beispielsweise zeigt die »Siemens-Studie« zur Entwicklung der Arbeitszeit bei Anwendung neuer Technologien, daß die Wochenarbeitszeit weit rascher verkürzt werden müßte, als das selbst Gewerkschafter zu fordern wagen, geschweige denn Unternehmerverbände zugestehen.

Anonymisierung und Vergesellschaftung

Die enorme Entfernung und Anonymisierung der sogenannten Eigentümer von ihrem realen Besitz und damit auch von allem, was mit konkreter Betriebsführung zu tun hat, wird durch die gigantischen Aufkäufe und Übernahmeangebote von und an Großkonzerne(n) in den letzten Monaten in den USA und Westeuropa sinnfällig. Während die Beschäftigten einschließlich der Spitzenmanager auf Grund von Börsendeals wie Sklaven mit ihren Plantagen verkauft wurden, spielten zumeist konkrete betriebliche Interessen keinerlei Rolle. Ins Gewicht fiel lediglich, daß einige Finanzgruppen ihren Spaß daran haben, „Monopoly“ in echt zu spielen.

Tatsächlich bedient eine in vielen Bereichen von sogenannten Unselbständigen — und dazu zählt auch die wissenschaftliche Intelligenz, soweit sie sich in diesem Feld betätigt — extrem rational gelenkte Wirtschaft das bei den heute angehäuften Kapitalmassen im Grunde irrational gewordene Interesse an weiter steigenden Profiten. Dabei müßte wegen der proportional hohen Verschuldung von Bevölkerungen und Staaten langsam auch dem Dümmsten klar werden, daß die Menschheit gar nicht in der Lage ist, diese Gier dauerhaft zu befriedigen.

Allerdings beruht die relative Stabilität des herrschenden Systems darauf, daß die „großen Tiere“ gewöhnlich genug Brosamen für die „kleinen Fische“ überlassen. Der seit den fünfziger Jahren rapid gestiegene Umfang des persönlichen Eigentums der Werktätigen oder die seit den siebziger Jahren sprunghaft ansteigenden Sparguthaben — mit dem neuen Trend zu „höherwertigen Veranlagungsformen“ — schaffen Illusionen in das gesellschaftliche Sein der massenhaft erfaßten Mitläufer und bewirken zwangsläufig eine Vernebelung ihres Bewußtseins. Dennoch bleibt, was man die totale Entfremdung der Privateigentümer von ihrem (Produktionsmittel-)Besitz nennen könnte, die negative Haupttendenz kapitalistischer Entwicklung in Gegenwart und Zukunft.

Noch so viele gegenläufige Tendenzen ändern nichts an diesem Tatbestand, sondern helfen bestenfalls, ihn zu verschleiern: Die fortschreitende Konzentration und Anonymisierung des Kapitalbesitzes und die weiterhin zunehmende Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktion und Reproduktion entfalten eine gegensätzliche und widersprüchliche Dynamik. Sie driften in so hohem Tempo auseinander, daß es einer umfassenden Untersuchung wert erscheint, ob aus diesem Widerspruch ein unaufhebbarer Gegensatz entsteht, der nur entweder durch die Aufhebung des Privatbesitzes oder die Vernichtung der Lebensgrundlagen der Menschheit gelöst werden kann. Gegenwärtig sprechen sowohl die sogenannten globalen Probleme als auch der Krisenprozeß, der die jetzt vorhandenen revolutionären Bewegungen erfaßt hat, deutlich für letzteres.

Zumindestens wesentlich mitverursacht wurde die jetzt nicht mehr zu übersehende Krise der Linken von der Entwicklung des sogenannten realen Sozialismus. Erste vorsichtige Analysen ernstzunehmender sowjetischer Gesellschaftswissenschafter [3] legen der Verdacht nahe, daß Kollektivierung und Industrialisierung vom stalinistischen Voluntarismus von Anbeginn schwer deformiert wurden. Der Übergang zu administrativen Kommandomethoden schaltete rasch die Werktätigen als Gestalter und subjektiven Faktor dieses Aufbauprozesses aus. Willkürliche Akzentsetzungen, die großteils von Stalin persönlich veranlaßt wurden und in der Regel gegen formelle Parteibeschlüsse verstießen, setzten den Keim einer disproportionalen Entwicklung der Sowjetwirtschaft, die bis heute nicht nur im Land der Oktoberrevolution, sondern durch die Übertragung dieses Modells auf die Volksdemokratien auch in den übrigen sozialistischen Ländern schwere strukturelle Störungen bewirkt hat.

Unwissenschaftliche Praxis

Der Vorrang für die Grundstoffproduktion sowie die Schwer- und Produktionsmittelindustrien verursachte bei extremer Unflexibilität zunehmend die Abkoppelung der zahlenmäßig — wenn auch häufig manipulierten — positiven wirtschaftlichen Entwicklung von der Lebenslage der Werktätigen. Nachhaltiger Beweis für den Verlust der Steuerbarkeit der sozialistischen Planwirtschaften ist die Tatsache, daß zwar auf wissenschaftlicher und politischer Ebene die Notwendigkeit zur Umstellung vom sogenannten extensiven aufs intensive Wachstum bereits Mitte der sechziger Jahre erkannt, dies in der Praxis — vielleicht von der DDR abgesehen — aber nicht einmal ansatzweise erreicht wurde. Heute stehen Länder wie Polen oder Ungarn vor einem von dieser Unfähigkeit produzierten Trümmerhaufen. Wobei die Lage zweifellos durch eine enge Bindung an die stagnierende Volkswirtschaft der Sowjetunion verschärft wurde; auch dadurch kam der Zwang zustande, sich auf dem Kreditweg vom Weltmarkt jene lebensnotwendigen Güter (und oft auch viel unnötigen Kram) zu holen, die trotz der Warenlieferungen an die Sowjetunion von ihr nicht zu bekommen waren.

Die aktuellen, keineswegs von raschen Erfolgen gekrönten Bemühungen in der Sowjetunion zur Umstellung der Wirtschaft, die Bankrotterklärungen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei hinsichtlich der sozialistischen Planwirtschaft und schließlich auch die Anstrengungen von tausenden Bürgern der DDR, ihr Land zu verlassen, zeigen eine tiefe Krise des — wenn man so will — sozialistischen Weltsystems. Von Ansätzen in der Sowjetunion abgesehen, sozialistische Wege aus dieser Misere zu finden, sind ansonsten zwei gleichermaßen fragwürdige Varianten der Problemlösung sichtbar. Einerseits der Weg Polens und Ungarns, der kapitalistischen Marktwirtschaft auf den Leim zu gehen; anderseits die Haltung der Parteiführungen etwa in China und der DDR, die sich offenbar um nichts in der Welt von den überholten Kommando- und notfalls auch Repressionsmethoden lösen wollen.

Zwischen beiden Orientierungen besteht eine negative Dialektik, die unter einzelnen sozialistischen Staaten (z.B. Ungarn und Rumänien) zu neuen Zerreißproben führt. Eine Lösung der aufgestauten Probleme bringen sie beide nicht. Viel eher kann man Georg Lukács folgen, der schon 1968 in einer Analyse [4] die Notwendigkeit unterstrichen hat, sämtliche stalinistischen Deformationen und Monströsitäten zu überwinden und an den ganz anders gelagerten Bemühungen Lenins anzuknüpfen, die eigentliche Zielsetzung Marx’ in Verbindung mit dem Sozialismus durchzusetzen: Überwindung der Herrschaft von Menschen über Menschen und Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Individuen zu Herren ihres sozialen Schicksals.

Es gibt kein Patentrezept, wie das aus der Theorie in die Praxis umzusetzen ist. Allerdings handelt es sich um eine Zielsetzung, die nicht durch die platte Übertragung des bürgerlichen Demokratismus erreichbar erscheint. Vor diesem Hintergrund liegt auf der Hand, daß der bisher „real existierende Sozialismus“ wenig mit der humanistischen Grundlage des von Marx und Engels entwickelten wissenschaftlichen Sozialismus zu tun hat. Jura Soyfers Verszeile

Nennt uns nicht Menschen; wartet noch damit

trifft auch auf die sozialistischen Länder zu, nachdem es ihnen noch nicht gelungen scheint, auch nur den ersten ganzen Schritt aus der Vorgeschichte in die Geschichte der Menschheit zu tun — für Marx das Charakteristikum für den Übergang von der Ausbeuterordnung zu einer Gesellschaft freier Menschen.

Sucht man nach der bestimmenden Ursache für das Versagen des „real existierenden Sozialismus“ in diesem wesentlichen Bereich, landet man erst recht wieder bei der Eigentumsfrage und beim Problem der Vergesellschaftung — sowohl des Produktionsmittelbesitzes, als auch der Produktion. Die Enteignung von Kapital- und Grundbesitz war in der Sowjetunion und in keinem sozialistischen Land mehr als eine Verstaatlichung; eine Vergesellschaftung in dem Sinn, daß Produzenten und Konsumenten kollektiv die verwaiste Eigentümerfunktion übernommen hätten, gab es nicht. Nur aus diesem Versäumnis ist es zu erklären, daß beispielsweise 60 Jahre nach der Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft mit Pachtverträgen ein Weg aus der Krise gesucht wird.

Damit entpuppt sich die Zwangskollektivierung unter Stalin als Errichtung von Staatslatifundien, an die die bäuerlichen Produzenten — etwa auf Grund des Paßgesetzes — fast wie Leibeigene gekettet waren. Klagen dafür, daß wertvolles Ackergerät in Sowchosen und Kolchosen ohne Schutz dem Winter preisgegeben wird, sind unter diesem Gesichtspunkt keineswegs erstaunlich. Das trifft auch zu auf Berichte über den nachlässigen Umgang mit „Staatseigentum“ in der Industrie und die Neigung nicht weniger Werktätiger im Sozialismus, alles „zu organısieren“, was nicht niet- und nagelfest ist. Statt die arbeitenden Menschen wenigstens schrittweise an ihre neue Rolle als Herren der Produktion und der Produktionsmittel heranzuführen, erwies sich das administrative Kommandosystem der zentralen Planung als immer weniger geeignet, die Feinsteuerung einer immer komplexer werdenden Wirtschaft und damit auch die Identifikation der Werktätigen zu gewährleisten.

Keine reale Vergesellschaftung

Die Hauptursache dafür besteht in der nun offensichtlichen Unfähigkeit dieser sozialistischen Ökonomie, die Vergesellschaftung der Produktion voranzutreiben. Gemeint ist damit die wirkungsvolle Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf jeweils optimale Betriebsgrößen sowohl in der Produktions- als auch in der Zirkulationssphäre, die — je nachdem — Integration oder Auslagerung einzelner Aufgaben von Forschung und Entwicklung bis zum Marketing. Optimale wirtschaftliche Ergebnisse werden in sozialistischen Ländern sehr häufig deswegen nicht erzielt, weil das Zusammenspiel verschiedener Fabriken — zum Beispiel Vormaterialproduktion und Weiterverarbeitung — äußerst mangelhaft funktioniert und Produktionsleerläufe erzwingt. Unökonomisch ist auch die dadurch fast erzwungene Verteilung der Ressourcen — von den Rohstoffen über die Maschinerie bis zu den Arbeitskräften: Jede Wirtschaftseinheit tendiert dazu, in diesen Bereichen „Reserven“ anzulegen, um möglichst unabhängig und autark von zwischenbetrieblichen „Störfällen“ zu sein. Das führt zum Horten von Maschinen, die nur gelegentlich gebraucht werden, sowie überproportionaler Lagerhaltung von Gütern, die anderswo dringend benötigt würden, und Überbeschäftigung, um Leerlaufzeiten durch einen Personaleinsatz wettzumachen, der bei kontinuierlicher Produktion weit geringer wäre. Dynamische Vergesellschaftung der Produktion würde ein ausgewogenes System von Großproduzenten sowie mittleren und kleineren Firmen — mit entsprechender Vielseitigkeit und Flexibilität —, Auslagerung von kaufmännischen und administrativen Funktionen, der Markt- und Verbrauchsforschung in den Dienstleistungsbereich, sowie die Vergabe von Forschungs- und Entwicklungsaufgaben an Spezialinstitute erfordern. Diesen im Kapitalismus bewältigten Prozessen, die längst nicht mehr spontan ablaufen, sondern gewissermaßen planmäßig in Gang gesetzt werden, wird die Wirtschaft in den sozialistischen Ländern bei weitem nicht gerecht.

Selbstverständlich gehört auch die Dominanz einer völlig falsch verstandenen Logik der Produktion gegenüber den Wünschen und Bedürfnissen der Konsumenten nicht zum Wesen des Sozialismus, sondern ist eine schwere Deformation: Wenn die Sowjetunion größter Schuhproduzent der Welt ist, aber dennoch massenhaft Schuhe importiert, hat das damit zu tun, daß landeseigene Produkte aus Gründen mangelnder Qualität und Formgebung von vornherein nicht für den Konsum produziert erscheinen, sondern nur als Vorwand für die Existenzberechtigung der Herstellerfirmen dienen. Eine Planwirtschaft, die dermaßen blind agiert, hat jeden Anspruch auf diese Bezeichnung verloren. Sie ist aber auch kein Beweis dafür, daß Wirtschaft sich jeder Planung entzieht und sollte daher auch für einzelne kommunistische Parteien in sozialistischen Ländern kein Anlaß sein, die Lösung ihrer Probleme durch die Wiedereinführung privatwirtschaftlicher Elemente zu suchen.

Offene Perspektive

Lukäcs empfiehlt hingegen die „praktische Verwirklichung der sozialistischen Demokratie“, wofür er unter anderem folgende Grundbedingungen nennt: „Wiederherstellung der Methoden des Marxismus“, Entfaltung der „inneren Parteidemokratie“, „eine neu durchdachte realistische Arbeitsteilung zwischen Partei und Staat“. Wörtlich sagt Lukács:

Indem die sozialistische Demokratisierung dazu berufen ist, die letzte, höchst entwickelte Form der Gegenmenschlichkeit (der andere Mensch als Schranke, bloßes Objekt, als möglicher Gegner oder Feind für die eigene, selbstverwirklichende Praxis) zu überwinden, ist sie allein imstande, eine objektive, gesellschaftlich menschliche Basis für die entscheidende Wandlung zu ergeben. [5]

Jetzt, wo der Lack des „real existierenden Sozialismus“ abblättert, stellt sich heraus, daß die relativ guten Zensuren, die auch Vertreter der Reformalternative dem Kapitalismus zu geben bereit scheinen, vor allem auf den nicht eingelösten Versprechungen sozialistischer Entwicklung beruhen. Es ist weiters kein Wunder, daß die Propagandisten des Systems der „freien Marktwirtschaft“ diese Misere nutzen, um einen „historischen Sieg“ zu feiern. Für Marxisten besteht allerdings kein Anlaß, damit übereinzustimmen.

Mit Formeln wie „reformistischer Aktivismus“ oder „revolutionärer Attentismus“ ist man nie der Wirklichkeit gerecht geworden. Was die Welt heute angesichts der globalen Probleme, die die Existenz der Menschheit in Frage stellen, braucht, sind rasche Änderungen. Dabei bleiben allerdings Fragen der Eigentumsverhältnisse weiter zentral. Immer mehr Menschen spüren, daß es nicht weitergeht wie bisher. Kaum wer wagt aber heute noch, diese existenzbedrohenden Zustände auf ihre Hauptursache, die Entfremdung der Menschen, zurückzuführen. Sie bewirkt den menschenunwürdigen Umgang der Menschen mit Mensch und Natur und ist ein Resultat der von den Schranken des Eigentums verursachten Trennung zwischen Arbeitsfähigkeit der Menschen und Inhalts- und Formbestimmung von Produktion wie Produkten. Diesen ruinösen Zwangszusammenhang aufzubrechen, bleibt weiterhin wichtiges Element jeder Alternative zu jetzt existierenden Systemen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen.

Vermutlich hat bisher die politische Entfaltung der Linken schwer unter dem Erbe des Stalinismus und dem Rechtfertigungszwang für die sozialistischen Länder gelitten. Davon waren nicht nur „orthodoxe“ Kommunisten im engeren Sinn betroffen, sondern Vertreter jeder Position, die auf eine umwälzende Veränderung der bestehenden Gesellschaft aus waren. Nun sind jedoch die Linken gewissermaßen in die Selbständigkeit entlassen. Das muß als Chance begriffen werden.

[1Ein marxistisches Plädoyer. Frankfurt 1988

[2Diesfalls — pardon, Herr Doktor — nein. G. O.

[3Vgl. z.B. eine Artikelserie der „Prawda“ von 19. und 30. September sowie 3., 21. und 28. Oktober 1988, die im wesentlichen von Mitarbeitern des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU erarbeitet worden ist.

[4„Sozialismus und Demokratisierung“, ungarisch 1985, deutsch 1987

[5Ebda S. 118 f.

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