FORVM, No. 196/II
April
1970
Kritisches Lexikon: Literatur

Peter Handke

Peter Handke, geboren 1942. 1954 bis 1959 Humanistisches Gymnasium für Priesterzöglinge. Die letzten zwei Jahre der Gymnasialstudien in Klagenfurt. Bibliographie: Die Hornissen (Suhrkamp, 1966); Publikumsbeschimpfung, Weissagung, Selbstbezichtigung (edition suhrkamp 177); Der Hausierer (Suhrkamp, 1967); Begrüßung des Aufsichtsrats (Residenz-Verlag, 1967); Hilferufe (in: Deutsches Theater der Gegenwart, Suhrkamp, 1967); Literatur ist romantisch (Oderbaumpresse, 1967); Kaspar (Suhrkamp, 1968, und edition suhrkamp 322); Das Mündel will Vormund sein (Vorabdruck in „Theater heute“ Velber 2/1969); Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze (Suhrkamp, 1969); Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (edition suhrkamp 307); Deutsche Gedichte (euphorion-Verlag, 1969); Quodlibet (in: „Protokolle 70“, Verlag für Jugend und Volk, 1970); Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (Suhrkamp, 1970).

Internate sind geschlossene Gesellschaften, außen unfreundlich abweisend. Sie sind eigen und exotisch wie Kasernen, Gefängnisse und geheime Forschungsstätten; wie die entlegenen Burgen des Marquis de Sade erscheinen sie dem neu Eintretenden als ausgeklügelte Apparate zum Zweck einer von der Außenwelt unkontrollierbaren Unterwerfung. „Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen.“ Für Mütter gilt die Klausur. Die Patres, die „Väter“, sind die Exekutive von Gottvater. Sie sind quälend hochmütig oder peinlich schleimig. Die Kameraden sind laut und heimtückisch. Sie fordern Mutproben und stummes Aushalten von Schmerzen. Man ist selten allein. Wenn man nachts gegen das Gesetz durch die trüben Gänge läuft, hallt jede Bewegung. Fast alles ist eine Sünde, fast sicher ist man ewig verdammt.

„Im Anfang war das Wort. Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Man hat es nachgesprochen. In der Pubertät findet man aber, daß Wort und Fleisch auseinanderklaffen. Warum haben die Patres Geheimnisse vor den Blößen, die sie sich geben? Ist der liebe Gott ein engherziger Sadist, daß er Exerzitien, Litaneien, Bußen und andere phantasielose Quälereien fordert, als Strafe für mit seinem Einverständnis ins Werk gesetzte Verführungen? Da fällt für manche das Wort vom Fleisch, und Gott ist tot.

Ohne Gott ist das Internat sinnlos. Aus der Erziehungsanstalt wird eine absurde Strafkolonie, in der aus Sadismus und blinder Freude am Gehorsam Folterungen stattfinden. Der Bildungsprozeß führt zu einem undurchsichtigen und willkürlichen Urteil, gesprochen von korrupten und beschränkten Vätern.

Man sieht: Die Glaubens- und Autoritätskrise des pubertären Internatszöglings kann sich sehr passend im „Existentialismus“ (inklusive der Vorläufer Kafka und Kierkegaard und der klimatisch verwandten Literatur des nouveau roman) wiederfinden. Diese Identifikation bliebe ein Privatvergnügen, leistete sie nicht viel mehr. Das Internat ist nämlich doch eine Schule fürs Leben: mit dem Austritt aus der undurchsichtigen Schule, die Gottvater führt, tritt man erst recht in ein labyrinthisches Internat unter anonymer Führung ein, so groß wie die Großstadt: in die Arbeitswelt der White-Collar-Workers. Der Angestellte Franz K. im Arbeitsprozeß und der Schüler im Bildungsprozeß ähneln einander — vor allem im Augenblick, da sie sich nicht mehr mit der Ideologie der Normalität bzw. mit den Sätzen der Offenbarung identifizieren: der Verlust des Glaubens an den Sinn der unbedachten Mit-Arbeit und der Verlust des Glaubens an Gottvater erzeugen dieselbe Stimmung: man verliert das Dach über dem Kopf: der Überbau geht flöten. Sartres Weg ist exemplarisch: der atheistische Impetus wird nach Gottes Tod nicht arbeitslos, sondern betreibt Ideologiekritik. Es ist gut, geglaubt zu haben: man hat gelernt, das Wort ernst zu nehmen.

Die Kritik hat ihren Weg gemacht: Zuerst war sie ohnmächtig; die Auflehnung äußert sich bei Josef K. als laisser faire, Müdigkeit, Lähmung (jene „Dumpfheit“, die nach Roland Barthes später den eigentlichen Kern des nouveau roman ausmacht) und nur an einer Stelle klar und spitz als Scham Josef K.s über seine Vergewaltigung, als man ihn absticht „wie einen Hund“. Sie intensiviert sich zum existentialistischen „Ekel“, dessen Gegenstand, wie bei den Verwirrungen des Zöglings, das Klaffen zwischen Wort und Fleisch, Sagen und Sachen, zwischen konventioneller Sprache und sprachloser Wirklichkeit ist. Schließlich erkennt die Kritik die Fremdheit der Welt als Verfremdung der Menschen und solidarisiert sich: sie wird aktiv und politisch. So ist die Kritik aus dem Internat ausgetreten — in Frankreich. Sartre fand in der résistance die Möglichkeit einer Solidarität von Arbeitern und Intellektuellen; diese Erfahrung bildet den Boden seiner späteren Arbeit. In Paris gab es im Mai fast eine Revolution. H. hat diese Erfahrungen nicht gemacht. Daran ist nicht er schuld.

H. ist vielen ein Ärgernis, weil er in der Entwicklung der Kritik einen Rückfall darzustellen scheint. Er schließt sich keinem fortschrittlichen Lehrer an, keinem Mitschüler, mit dem sich reden läßt. Er schließt sich ab, liest viel, geht oft ins Kino, er ist ein „Bewohner des Elfenbeimturms“. Er betreibt für sich selbst Schülerselbstbefreiung. Mit Leuten, die davon träumen, die Lehrer zu stürzen und das Internat selbst zu führen, hat er wenig zu tun. Brecht mag er nicht. Politik ist wirklich, Literatur aber unwirklich: Spaziergänge im gottverlassenen leeren Raum.

Indem H. wieder das „existentialistische Erlebnis“ aufgreift, wird es ihm aber dennoch unter der Hand politisch: hier trägt die inzwischen fortgeschrittene Kritik wenigstens auf dem theoretischen Sektor ihre Früchte. So wie die moderne Sprachphilosophie Soziologie vom Subjekt her ist, so ist H.s „reine“ Literatur Gesellschaftskritik vom Individuum her; wenn man heute wiederholt, daß Denken und Wirklichkeit einander zum Angsthaben fremd sind, so sagt man statt „Denken“ „Sprache“ und weiß inzwischen, daß die Sprache ein Herrschaftsinstrument ist (vgl. Wieners „Verbesserung von Mitteleuropa“) und daß der Riß zwischen den Sätzen und den Tatsachen ausgenützt wird als ein Mittel der unmündigen Vormunde, die Mündel am Mündigwerden zu hindern; indem die Lehrer so tun, als lasse sich die Wirklichkeit selbst aussprechen in den hergekommenen Sätzen, können sie den Schülern einreden, es sei in der Wirklichkeit alles beim „alten“, Setzen.

Aber H. ist kein fortschrittlicher Lehrer geworden wie Brecht. Er bleibt ein künstlicher Jugendlicher wie Kafka, der bei seinem Tod wie 21 aussah. Auch H. verhält fasziniert genau an dem Punkt, da der Sohn die ordinäre, gewalttätige Niedrigkeit des Vaters durch und durch sieht, aber nicht die geringste Macht hat, seiner Willkür entgegenzutreten. Das ergibt das Klima der „Hornissen“: Kälte, Primitivismus, Schnee, Fieber, Krieg, gesichtslose Frauen, ein überdimensionaler Vater, die schwarze Bukolik von Kafkas „Schloß“. Die Geschlechtsbeziehung wird als reines Machtverhältnis gesehen, die Väter gewinnen ihr Vergnügen nur durch Gewalt und Quälereien (vgl. den Text „Die Hornissen“ in „Begrüßung des Aufsichtsrats“). Wie bei Kafka ist die Welt lustlos, ohne Libido. Der Kopulationsszene auf dem Wirtshausboden im „Schloß“ entspricht der Satz, aus der „Innenwelt“: „Ich rutsche im Kot aus — nein, ich umarme dich.“ Wenn überhaupt, dann erscheint die Libido nur in Gestalt einer ihrer Perversionen: des Sadismus. Canetti hat im „Anderen Prozeß“ gezeigt, wie für Kafka die Beziehung zur Braut ganz unter dem Aspekt eines Machtkampfes steht; in den Genuß der Macht zu kommen, ist Kafka aber verwehrt: dazu müßte er die Stelle eines Vaters einnehmen; er müßte gleichsam den Vater töten und die Mutter heiraten, dazu ist er aber zu schwach oder verabscheut die Rolle des Vaters zu sehr. Eine allzu große Allergie gegen Gewalt führt zur Impotenz. Erwachsensein heißt immer noch Macht gebrauchen und mißbrauchen, und wenn es nur die temporäre Macht über die Frau ist. In der Fixierung auf die pubertäre Situation, die Kafka und Handke gemeinsam ist, im Festhalten des Punktes, da der Vater schon verachtet, aber noch nicht bewältigt ist, erscheint die Welt als fremdartiges Unlustobjekt, da (wie in Internaten) jede Lust von „Vätern“ verstellt ist, oder aber jedenfalls verlangt, sich mit den Vätern gemein zu machen, selber zu vergewaltigen, so wie man früher vergewaltigt wurde.

Daß eine in ihrem Klima scheinbar anachronistische Literatur wie die H.s bei uns so große Resonanz findet, spiegelt die ohnmächtige Lage der Kritik in dieser Gesellschaft: alle mögliche Lebenslust ist in der Hand der machthabenden „Väter“ und wird von ihnen als Belohnung für gute Mitarbeit ausgeteilt. Die Kritik ist wirklich genau in der Situation des belesenen Schülers in einem rückständigen Internat; ohne Verbindung zu einer „Basis“ kann sie nur sich selbst versichern, daß sie in einem verlotterten hinterhältigen Betrieb leben muß. Sie ist in der Defensive: wenn sie nicht aufpaßt, wird sie korrumpiert und integriert.

Zu dieser Isolierung und Verfolgung paßt H.s Noli me tangere, sein Puritanismus, sein dauerndes Säubern der „reinen“ Literatur von Engagements; alle Engagements sind ihm zu sehr von Gewalt und Mißbrauch beschmutzt; akzeptabel ist die Gesellschaft ohne jede Gewalt — oder gar keine. Er ist utopischer Anarchist. Dieses Alles oder Nichts ist die trotzige Radikalität des ohnmächtigen Alleingelassenen. Er schüttet im „Kaspar“ das Kind mit dem Bad aus: den Ekel vor der Phrase und ihrer Gewalt (und den Ekel vor dieser Phrase!) radikalisiert er zum Ekel vor „Sprache überhaupt“: Jedes Wort ist ein Sündenfall, nämlich eine Ungerechtigkeit: es wird in seiner Allgemeinheit der Eigenheit des einmaligen Augenblicks nicht gerecht. Der Motor seines ganzen Werkes ist die scheiternde Bemühung, die Sprache augenblicklich zu machen, indem er sie Einzelheiten zu schildern zwingt, über die sie hinweggehen möchte; er läßt sie im „Hausierer“ stocken und springen, wie die Zeit, deren gleichmäßigen Fluß einst Gott garantierte oder das intakte Einverständnis. Die Dinge. werden in ihrer zeitlichen Konstanz, in ihrer Identität zweifelhaft: „Er schaute ein zweites Mal hin: nein, die Lichtschalter blieben Lichtschalter, und die Gartenstühle ... blieben Gartenstühle.“ („Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, S. 121). Das macht sie gefährlich, faszinierend, die Aufmerksamkeit saugt sich an die Einzelheiten, aus Angst, sie treiben „alles mögliche“, wenn man sie aus dem Auge verliert.

Der Zweifel an der von der Sprache gestifteten Ordnung führt zu einer ontologischen Unsicherheit, Es entsteht die Stimmung des Verirrten im fremdsprachigen Ausland: „Kaum habe ich keinen Satz mehr für das, was ich wahrnehme — schon erscheint mir dies und jenes, was ich wahrnehme, als das äußerste Ausland ...“ („Die Innenwelt ...“, S. 140). Wenn Gott verschieden ist, werden die Dinge wieder magisch, sie entwickeln das Eigenleben der Zwirnspule Odradek bei Kafka, die Welt läuft als Höllenmaschine weiter, so als hätte Gott den Diabolos zurückgelassen, den Durcheinanderwerfer. Die Angst des Tormanns beim Elfmeter ist die vor dem Eigenleben des Balls. Ohne Wort sieht das Fleisch entsetzlich aus.

Bei H. geschieht die Zersetzung der „Ordnung“ (oder der Sprache oder des Seins oder der Zeit) zur „Unordnung“, d.h. zu Einzelheiten, durch drei Säuren: Scham, Ekel, Sadismus: Scham für die Determiniertheit des Subjekts, Ekel vor der Determiniertheit der Objekte, Sadismus als gewaltsame Perversion der Beziehung des Subjekts zu den Objekten. Die Scham vor dem Gemeinplatz, aber auch vor der „dichterischen Freiheit“ ist sein Stilprinzip. „Kaum habe ich Worte für das, was ich wahrnehme — schon erscheinen mir die Worte für dies und für jenes als Witz.“ In den „Hornissen“ bricht er noch abschnittsweise aus den Geleisen des Romans aus, im „Hausierer“ schon satzweise. In der „Angst des Tormanns ...“ schämt er sich auch dieser Entwicklung und überrascht mit einer glatten Erzählung.

Der Ekel vor der Tücke des Objekts schlägt manchmal in einen schwarzen, sadistischen (die Rübenhackmaschine im „Augenzeugenbericht“) oder befreit-schadenfrohen Humor um: Der Tormann Bloch liest in der Zeitung: „Der Tischlermeister wurde bei der Verfolgung des Diebes dadurch behindert, daß er noch seine Schürze umhatte“; freilich ist so ein Humor zum Lachen zu trocken.

Um nicht von der Sprache mißhandelt zu werden, mißhandelt er sie: er mag gewalttätige „altdeutsche“ Verben, er zerreißt den gleitenden Zusammenhang zwischen den Sätzen: seine Texte, vor allem die fürs Theater und der „Hausierer“, tun weh. Sie sind „spannend“, anziehend, weil man Satz für Satz auf eine lustvolle „Lösung“ wartet, die aber nie kommt. Es gibt ein schönes Beispiel, wie Gequältwerden in Sadismus umschlägt: im Text „Überschwemmung“ der „Hornissen“ wird der blinde Erzähler vom Bruder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen in Angst versetzt; in der „Begrüßung des Aufsichtsrats“ erscheint derselbe Text mit vertauschten Rollen: der Erzähler ängstigt den blinden Bruder. In der „Innenwelt ...“ liefert H. ein Sinnbild des Schriftstellers: „Ist es nicht der Tintenfisch, der eine Flüssigkeit ausscheidet, um sich unkenntlich zu machen?“ — „Der Tintenfisch und seine Flüssigkeit sind ein Gemeinplatz!“ — „Aber kennst du das Geräusch, das entsteht, wenn das Innere eines Krakens mit der Faust nach außen gerissen wird?“ — „Ja, es lautet: KRÄCK!“ Also auch seine Lage als Schreiber beschreibt H. mit einem sadistischen Vergleich: die Innenwelt wird nach außen gerissen und macht dabei den dummen Ton der Feder auf dem Papier.

H. ist ein „reines“ Symptom, er bietet keine positive Alternative zum Status quo. Seine negative Alternative ist der einsame Rückzug ins sprachlose „Ausland“, vor dem Sündenfall des ersten Nachsprechens. Seine Position wäre der Kritik verfallen, gäbe er sie für exemplarisch aus; das tut er aber nicht: er hält nur eine Stellung. Wie in den „Hornissen“ hockt er unterm Tisch, eingesperrt von den Knien der Erwachsenen, die über seinen Kopf weg Karten spielen, bis er sich aufrichtet und den Tisch ins Wackeln bringt, aus lauter Angst, so daß die Erwachsenen, ohne sich über die Ursache ganz klar zu sein, „sich lebhaft ärgern und ihres Lebens nicht mehr froh werden“.

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