MOZ, Nummer 48
Januar
1990
Wahlen in Chile

Pinochet-Alptraum vorbei?

Die Niederlage des General Pinochet sei ein Sieg der Demokratie, meinen die Optimisten. Die ganze Wahrheit ist, daß auch nach dem Sieg der Opposition Pinochets Generäle die militärische Macht behalten. Und wirtschaftlich betrachtet ist es noch lange nicht abgemacht, ob nach dem Jahrzehnt des Fegefeuers die Ära des Himmels auf Erden ausbricht.

Patricio Aylwin
Bild: Contrast/Martin Thomas

Millionen Champagner-Korken müssen wohl geknallt haben, und nicht nur in Chile, sondern auch in Argentinien, Schweden, Frankreich, Australien, Kanada, in den Ländern deutscher Sprache und etlichen weiteren Ländern der chilenischen Diaspora. Der Sieg des Präsidentschaftskandidaten der vereinigten Opposition, Patricio Aylwin, über seinen Pinochet-unterstützen Rivalen Hernán Büchi ist wohl seit langem außer Zweifel gestanden. Die Prozentverteilung der Präsidentschaftswahlen spricht eine klare Sprache, das Votum für die Demokratie und den sozialen Fortschritt ist deutlich ausgefallen. Mit der Amtsübernahme Aylwins am 11. März 1990 wird nach genau 198 Monaten das zweifellos schwärzeste — wenn auch gleichzeitig sehr umstrittene — Kapitel der chilenischen Geschichte zu Ende sein.

Das Erbe der Pinochet-Diktatur ist katastrophal, und die neuen Verantwortlichen werden die tiefen strukturellen Veränderungen des Landes bei ihrer künftigen Wirtschafts- und Sozialpolitik in Rechnung stellen müssen. Naturgemäß werden dabei die Linksparteien mehr auf das „Soziale“ und die anderen mehr auf die „freie Marktwirtschaft“ pochen. Heftige Spannungen innerhalb der siegreichen Koalition der Kräfte der Mitte und der Linken sind also vorprogrammiert. Und der heute 74jährige Pinochet, der im Prinzip acht weitere Jahre Heeres-Oberbefehlshaber und damit graue Eminenz bleiben soll, hat bereits gewarnt: wenn es die „Marxisten“ wieder zu bunt treiben, würden er und seine alten Kameraden noch einmal zur Rettung des Vaterlandes Gewehr bei Fuß stehen ...

Das „chilenische Wirtschaftswunder“ — eine Mystifikation

Unter den unglaublichsten Vernebelungskampagnen zur Gehirnwäsche des schlecht informierten Publikums, die sich die Prediger des neoliberalen Zeitgeists in den letzten Jahren geleistet haben, ist die Mystifikation um das angebliche „chilenische Wirttschaftswunder“ sicher besonders hervorzuheben. Auch relativ seriöse und eher linksliberale Stimmen meinten allen Ernstes vor dem Referendum von 1988, die Chilenen hätten wohl einige gute Gründe, den weiteren Verbleib des alternden Diktators abzulehnen, aber das Wirtschaftsmodell an sich wäre völlig in Ordnung und müsse daher auch von jeglicher demokratischen Regierung nach ihm im grossen und ganzen beibehalten werden. Das heutige Chile, so begeisterten sich viele Kommentare, sei im lateinamerikanischen Vergleich eine unausgesprochene Erfolgsstory, und den Enthusiastischsten unter ihnen zufolge wäre das Land im fernen Süden drauf und dran, es der Viererbande der newly industrialized countries im Fernen Osten nachzumachen. Alles in allem schien es sich also durchaus ausgezahlt zu haben, daß der finstere General mit der Sonnenbrille einst im September 1973 inmitten des größten Blutbades der chilenischen Geschichte die Macht ergriffen hatte, da er ja damit nicht nur die „kommunistische Gefahr“ gebannt, sondern gleichzeitig die Weichen für eine wirklich dynamische Entwicklung des Landes gestellt hätte ...

Internationale Statistiken — z.B. der 1989er-Jahresbericht der Interamerikanischen Entwicklungsbank — bestätigen diese positive Einschätzung keineswegs, es sei denn für die allerletzten Jahre, als das Land tatsächlich vergleichsweise erfreuliche Resultate in puncto Inflation, Exporte und Bruttonationalprodukt aufwies. So konnte das Pro-Kopf-Produkt 1988 fast wieder den bisherigen Höchststand von 1981 erreichen, während es in den meisten Ländern Lateinamerikas am Ende der katastrophalen 80er Jahre rund 10-20% unter dem Stand vom Beginn dieses Jahrzehnts lag. Aber im Verlauf der 70er Jahre ist hier das Pro-Kopf-Produkt in konstanten Preisen nur um knapp 10% gestiegen, gegen rund 40% im regionalen Durchschnitt und 80% in Brasilien. Während sich die Bruttoinvestitionen in diesem Jahrzehnt in Lateinamerika real verdoppelten, stiegen sie in Chile nur um rund 30%. Die Industrieproduktion nahm hier nur um etwas über 10% zu, gegen fast 100% in Lateinamerika und über 130% im größten Land der Region. Auch die Agrarproduktion stieg hier deutlich weniger als im regionalen Schnitt zwischen 1970 und 1980 und etwas schneller danach. Noch typischer: der im Bautensektor geschaffene Mehrwert ging in den 70er Jahren um rund 10% zurück, während er sich in der gesamten Region verdoppelte und in Brasiliien um 150% stieg. In den 80er Jahren, der Zeit der schwersten Krise ganz Lateinamerikas seit seiner Unabhängigkeit, sind wohl die Daten für Chile im allgemeinen etwas weniger katastrophal als anderswo in der Gegend genau genommen eher noch dramatischer zwischen 1980 und ’84, aber weit besser danach. Die Gesamtbilanz der Pinochet-Diktatur ist jedoch ohne Zweifel miserabel, selbst wenn man nur ihre ökonomische Seite sieht, und sie ist noch viel dramatischer, wenn man auch die sozialen, kulturellen und ökologischen Faktoren einbezieht, die aus Chile, wie aus den anderen Ländern der Region, eine tickende Zeitbombe gemacht haben. Das Geschwätz vom „Wirtschaftswunder“ ist hier also nicht weniger absurd als in bezug auf die Reaganomics in den USA und erinnert an jenen Dummkopf, der einst vom 50. Stock eines Wolkenkratzers fiel: bis jetzt gehe alles ausgezeichnet, meinte er zufrieden auf der Höhe des 20., 10. und noch des 5. Stockwerks ...

Die „Chicago-Boys“ und die südkoreanische Pseudo-Imitation

Bei aller berechtigten Abscheu vor dem ultra-repressiven und gesamtwirtschaftlich erfolglosen Pinochet-Modell des brutalen Sozialabbaus, des nationalen Ausverkaufs, der parasitären Finanzspekulation und der hemmungslosen Umweltzerstörung sollte versucht werden, seine tatsächlichen Vor- und Nachteile in makro-ökonomischer und historisch-struktureller Perspektive zu analysieren. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß ohne die blutrünstige Unterdrückung von Linksparteien, kritischer Intelligenz und Gewerkschaften, ohne Massenauswanderung und astronomische Außenverschuldung das gesamte Modell unmöglich gewesen wäre, daß also ein demokratisches Regime dieses keineswegs mit nur bescheidenen Retuschen übernehmen kann. Das bedeutet allerdings weder die Möglichkeit, zu Status quo ante zurückzukehren, noch die Möglichkeit per se, gewisse dynamische Impulse des Pinochet-Modells beizubehalten.

Die Grundlage dieses Modells ist, wie bekannt, das monetaristisch-neoliberale Dogma des Chicagoer Ökonomen Milton Friedman. Die chilenischen „Chicago Boys“ setzten auf eine von allen Fesseln befreite Marktwirtschaft, also möglichst ohne Staatsintervention, Anti-Monopol-Regelungen, Importzölle, Preiskontrollen, Umweltvorschriften, Sozialgesetze usw. Der einzige feste Eingriff des Staatsapparats in die Wirtschaft mußte dazu dienen, die Arbeitskräfte zu „disziplinieren“, d.h. ihre unmittelbaren und Reproduktions-Kosten zu senken und damit gleichzeitig den Binnenmarkt völlig umzustrukturieren. Nach brasilianischem Muster sollten also die Reichen noch reicher und die Massen noch ärmer werden, während wachsende Miittelschichten, zusammen mit den Beziehern der höheren Einkommen, einen dynamischen Markt für langlebige Konsumgüter wie Autos und elektronische Apparate eröffnen sollten. Anders als in Brasilien mit seiner zehnmal so großen Bevölkerung und seiner von der dortigen Diktatur geförderten nationalen Industrie mußten jedoch die dynamischen Impulse dieses asozialen Wachstumsmodells großteils verpuffen bzw. den ausländischen Lieferanten zugute kommen. Moderne Autos, Videogeräte und was die nordatlantisch-fernöstliche Konsumgesellschaft sonst noch alles zu bieten hat, waren tatsächlich bald in Hülle und Fülle in den Geschäften von Santiago zu finden — während die nationale Industrieproduktion in den meisten Branchen zurückging, da sie mit dem fast völligen Zollabbau einer ruinösen Konkurrenz ausgesetzt war. „Was soll es für einen Sinn haben, daß der Konsument die Wahl zwischen vielen Produkten zu internationalen Preisen hat“, fragt der bekannte chilenische Ökonom Ricardo French-Davis, „wenn er andererseits in seiner Rolle als Produzent arbeitslos oder bankrott ist?“

Die Entwicklung der chilenischen Wirtschaft in den letzten 15 Jahren weist wohl einige Wachstumssektoren auf, und die radikale Beseitigung der Schutzzölle hat in manchen Branchen weniger dramatische Folgen gehabt als befürchtet. Die neuen dynamischen Sektoren sind jedoch im wesentlichen nur diejenigen, in denen das Land unmittelbare „komparative Kostenvorteile“ aufweist, d.h. solche, die direkt an seine — jetzt rücksichtslos ausgebeuteten — Naturschätze gebunden sind: Fischereiprodukte, Holz, diverse Agrarprodukte, Kupfer. Jedes ABC der modernen Ökonomie zeigt, daß die langfristig wirklich dynamischen Branchen in erster Linie in den technologisch höher entwickelten Sektoren zu finden sind. Und selbst ein Ignorant in Umweltfragen weiß, daß auch die fischreichsten Gewässer — wie die chilenischen — und die ausgedehntesten Wälder nicht in verantwortungsloser Weise nach rein privatkapitalistischen Kriterien ausgebeutet werden dürfen, wenn nicht ihre zukünftige Produktivität aufs Spiel gesetzt werden soll. Dafür wissen die Bewohner von Santiago in der Zwischenzeit, daß ihre Vier-Millionen-Stadt, zusammen mit den vier- und fünfmal so großen Agglomerationen von Sao Paulo und Mexiko-Stadt, weltweit zu den schlimmsten Umweltdesastern gehört. Selbst die wenig Sozialismus-verdächtige „Financial Times“ betonte beim akuten Smogalarm Ende Juni 1987, daß dies sehr viel mit der zügellos liberalen Wirtschaftspolitik und den fehlenden Umweltvorschriften für die Transportmittel in der chilenischen Hauptstadt zu tun hat ...

Pinochet
„Besser ein bekannter Teufel als ein unbekannter?“
Bild: Contrast/Martin Thomas

Das Pinochet-Erbe — zurück zum früheren Dreier-Spiel?

Die Diktaur hat de facto abgewirtschaftet, aber man kann nicht ignorieren, daß Pinochet trotz allem im Oktober 1988 fast 45% der Stimmen erhalten hat. Und das in einem Land, das längere und solidere demokratische Traditionen hat als die meisten europäischen Länder, inmitten einer Krisenregion, in der fast alle Regierungsparteien bei freien Wahlen in den 80er Jahren vernichtende Niederlagen — oft mit weniger als 10% der Stimmen! einstecken mußten. Sicher, die Entpolitisierung, die langjährige Gehirnwäsche und die geschickte Metamorphose des einstigen Putschistenchefs mit Sonnenbrille und haßverzerrtem Gesicht zum gutmütigen Opa der Nation haben dieses Resultat weit über die wirkliche Popularität Pinochets hinaus verfälscht. Und die Erinnerungen an das Chaos am Ende der Allende-Jahre schreckten viele ab, für die einst regierenden Linksparteien zu stimmen. „Besser ein bekannter Teufel als ein unbekannter“, lautet ein spanisches Sprichwort, und die kommende Demokratie weist nicht wenig Fragezeichen und unbekannte Größen auf, z.B. die Rolle und Stärke der KP, die einst rund ein Sechstel der Stimmen bekam und bald, nach ihrer demnächst unvermeidlichen Rückkehr zur Legalität, vielleicht noch etwas mehr haben wird.

Die zentristischen Kräfte, in erster Linie die Christdemokraten des früheren Präsidenten Eduardo Frei (1964-70) und des in der Allende-Zeit und erneut seit 1987 amtierenden Parteichefs Aylwin, haben oft eine recht dubiose Rolle gespielt. Wohl hatten sie in den 60er Jahren die Reformbewegung zur Lösung der wachsenden strukturellen Probleme des Landes in Gang gesetzt, um der Linkskoalition das Wasser abzugraben und im Gleichklang und mit Unterstützung der US-„Allianz für den Fortschritt“ eine präventive „Revolution in Freiheit“ zu starten. Aber ihr gemäßigter Reformismus reichte nicht aus, führte zur Spaltung der antisozialistischen Kräfte und ermöglichte den knappen Wahlsieg Allendes bei seiner vierten Kandidatur im Jahr 1970. Viele Christdemokraten waren dafür, einem radikaleren Reformprojekt eine Chance zu geben, andere, darunter Aylwin, setzten immer mehr auf eine frontale Konfrontation und eine Allianz mit den konservativen Kräften zum Sturz der Linksregierung. Aber bald sollten sie sich von der Diktatur distanzieren, da diese für lange Zeit nichts von einer Rückkehr zu verfassungsmäßigen Institutionen wissen wollte. Und die deprimierenden Folgen des Pinochet-Modells im sozialen Bereich konnten von einer Partei mit Massenbasis kaum ignoriert werden, womit die schrittweise Wiederannäherung der zentristischen an die linksorientierten Kräfte unvermeidlich wurde.

Contrast/Martin Thomas
Ein heruntergewirtschaftetes Santiago

Kein Handlungsspielraum für die neue Koalition

Was soll nun nach dem Wahlsieg der vereinten Opposition kommen, bei dem auch die immer noch illegale KP von außen mitgewirkt hat? Für die Ideologen der Unternehmerseite ist es klar, daß wirtschaftliche und politische Freiheit Hand in Hand gehen, während über die Notwendigkeit einer sozialen Abfederung dieses an den Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts erinnernden Systems verständlicherweise die Meinungen auseinandergehen, ebenso wie über die Rolle des Staatsapparats und die Öffnung der nationalen Wirtschaft auf die Welthandelsströme. Statt der erhofften erhöhten Rate der Kapitalakkumulation hat die eiserne Faust Pinochets zu einer extremen sozialen Polarisierung, einer dramatischen Verschärfung der Unterentwicklung des Landes und einer astronomischen Außenverschuldung geführt, die trotz der relativen Erfolge der allerletzten Jahre in Relation zu Nationalprodukt und Bevölkerung eine der größten der „Dritten Welt“ ist. Aber zu ihrem Erbe gehört auch eine „Binnenschuld“ enormen Ausmaßes, da der Verelendung der Massen ein Ende gesetzt werden muß und auch die Kalamitäten im Gesundheitswesen bei Pensionen, Umwelt und Unterricht beseitigt werden sollen, da sonst kein Wiederaufbau Chiles unter zivilisierten Umständen möglich ist. Den 71jährigen nächsten Präsidenten und seine kommende Mitte-Links-Koalition erwarten schwierige Entscheidungen. Und das umso mehr, als das maßgeschneiderte Wahlsystem der abtretenden Diktatur den Parteigängern des Status quo trotz ihrer arithmetischen Nicderlage eine starke Position im kommenden Parlament einräumt. Denn nur mit rund 70% der Stimmen, rechnete man vor den Wahlen, könnte die breite Koalition der Opposition auch eine effektive Mehrheit im Parlament erreichen.

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