FORVM, No. 327/328
März
1981

Polengrenze

Silvester in Warschau

Die beschriebenen Situationen, Aussagen, Verhaltensweisen spielen im Polen von heute. Einige Namen wurden aus politischen, erotischen, neurotischen und sonstigen ernsten Gründen verändert oder weggelassen. [*] Desgleichen Hinweise auf die Vergangenheit, Identität und den weiteren Verbleib der Frau und des Mannes, von denen die Rede ist. [**]

31.12.1981, 9 Uhr früh

„Mädchen, essen, essen!“ Ich verdrücke mich auf den Küchenhocker und habe ein schlechtes Gewissen. Sie ist doch aufgewacht, als ich versucht habe, meine geschmuggelten Bücher und Druckmaterialien für den Robotnik [1] aus der Wohnung zu bringen. Jetzt steht sie da, verschlafen, im schäbigen knallroten Morgenmantel, und sucht alles Eßbare zusammen. Angeblich ist es gut, bei Unpolitischen zu wohnen und die Politischen zu treffen. Bogdan hat das sogar in Moskau so gemacht.

„Wir Polen essen auch diese ..., und diese!“ sagt sie auf deutsch. Sie stellt die Reste vom Weihnachtstruthahn und weißen Käse auf den Tisch. „Bitte bitte!“

Es ist Silvester, und eigentlich habe ich mir alles anders vorgestellt. Im Flugzeug habe ich mich mit Zofia angefreundet. Nach den qualvollen Minuten beim Zoll, als ich zusehen mußte, wie die Frau vor mir zerlegt wurde, gab ich der überschweren Reisetasche und der rettenden Glastür einen Fußtritt und stand vor der Mutter und dem Freund von Zofia. „Komm doch zu uns!“ Dann übergaben sie mir ihr Wohnzimmer und riefen alle Verwandten zusammen, die mich händeschüttelnd begrüßten. „Schau, ein Mädchen aus Wien ist bei uns!“

Ich gab ihnen meine Zigaretten und den Whisky, den ich eigentlich für Kuron gekauft hatte, und lenkte sie vorsichtig auf ein politisches Thema. Die Opposition, Solidarnosc, KOR und Kirche sind gut, einig und stark, die Partei ist schlecht, schwach und zerstritten. Instinktiv spürte ich aber, daß ich nicht zu konkret werden darf. Die Angst vor der unberechenbaren Kartei der Geheimpolizei ist noch lebendig.

31.12., nachmittags

Ich gehe mit Zofia in den Pewex, um Wodka für Silvester zu kaufen. „Hier sieht es fast so gut aus wie im Westen.“ Sie meint die Marmorhalle mit Spiegeln, ausgewachsenen Blumentöpfen und Sitzgruppen und braunem Plastik. Man muß zweieinhalbmal Schlange stehen, einmal beim Bestellen, dann beim Zahlen, erst beim Abholen kommt man schneller dran. Die Literflasche kostet einen Dollar.

Wir rauchen und unterhalten uns über Männer. Im Hintergrund läuft eine merkwürdig jazzige Schlagermusik. Alles scheint mir unwirklich. „Du möchtest keine normale Familie haben?“ meint Zofia verwundert.

„Na ja ich finde die normalen Familien gar nicht so normal.“ „Du kämpfst aber nicht gegen die Männer, die du magst?“

„Nein, aber ich bin skeptisch. Es fällt mir leichter, mit Frauen befreundet zu sein.“

„Ich habe immer vergeblich eine Freundin gesucht. Vielleicht ist es in unsrer Gesellschaft gar nicht möglich, mit Frauen befreundet zu sein. Die Frauen, die ich kenne, interessieren sich hauptsächlich für ihre Männer. Sie gehen nach der Arbeit gleich nach Hause. Eine Freundin haben sie, solange sie an keinen Mann gebunden sind.“

„Du hast mich aber so angesprochen, als ob du gewohnt wärst, Frauen anzusprechen und mit ihnen befreundet zu sein — so selbstverständlich.“

„Weil ich es noch nicht aufgegeben habe.“

Von schwesterlichen Gefühlen überwältigt; marschiere ich Hand in Hand mit ihr auf dem Novy Swiat, der Haupteinkaufsstraße, und lade sie in ein Kaffeehaus ein. Sie kennt niemand von der Opposition und möchte es auch nicht. „Mit dem KOR geht es mir wie mit Solidarnosc. Sie arbeiten für uns alle, aber ich schaue zu und tue nichts. Ich bewundere sie, aber ich weiß, daß ich nicht die Nerven habe. Ich kriege jedesmal Angst, wenn ich in die Paßabteilung gehe ... Ich würde mich schämen, zu ihnen wie eine Zuschauerin zu kommen.

Immer wenn ich aus dem Westen komme, fühle ich mich irgendwie erleichtert und beruhigt. Ich könnte nicht emigrieren, dazu bin ich zu sehr Polin.“

Sie weiß auch nichts näheres über Solidarnosc. Weniger als der durchschnittliche Zeitungsleser im Westen. „Ich glaube, daß einige im KOR unter westlichem Einfluß stehen. Einige. Aber die meisten haben sicher die besten Absichten.“ Sie sieht sich ängstlich um, ob uns niemand zuhört. Aber auch am Nebentisch spricht man über die Solidarnosc. Seit einiger Zeit versucht sie, Journalistin zu werden, sie macht Radiosendungen über alltägliche Probleme. Für die gesendete Minute bekommt sie hundert Zloty. Das offizielle Durchschnittseinkommen beträgt 5000 Zloty, eine bessere Wohnung im Zentrum kostet 5000. So muß sie, wie viele unverheiratete junge Frauen, bei den Eltern wohnen. „Das ist das Schlimmste.“ Das Schlimmste war die katholische Erziehung, die kommunistischen Pioniere und marxistische Unterweisungen sind ihr erspart geblieben.

„Wir sind sicher das ärmste und das freieste Land im Block. Wenn ich zu wählen hätte zwischen Wohlstand und Freiheit, würde ich mich immer für die Freiheit entscheiden.“ Sie sieht nicht arm aus, aber dahinter steckt monatelange Arbeit auf einem Bauernhof in Norwegen. Ein Pelzmantel kostet 20.000, ein Wollpullover 1500 und Jeans auf dem schwarzen Markt 2000 bis 3000 Zloty. Für normale Leute sind diese Dinge nur durch Schwarzarbeit im Westen erschwinglich.

„Ich werde wütend, wenn ich sehe, wie hart die Leute bei uns arbeiten und nichts davon haben. Auf der anderen Seite gibt es wirklich Reiche mit Haus und mehreren Autos in der Familie. Das sind die Funktionäre und solche, die irgendetwas privat unternehmen. Es ist egal was — wenn es privat ist, wird man reich. Friseure oder Ärzte mit einer Privatordination. Aber die meisten haben kein Startkapital.“

Ein gutes Geschäft ist die Abtreibung. Im Spital geht’s auf Staatskosten, ist aber ohne Narkose. So gehen die meisten Frauen in ein „Privatkabinett“ und zahlen 3000 Zloty. Die Gynäkologen verschreiben ungern die Pille, weil sie ungesund ist, und weigern sich oft, die im Pewex erhältliche Spirale einzusetzen. So blüht das Abtreibungsgeschäft.

„Ich habe schon einmal abgetrieben und würde es wieder tun, ich habe keine andere Möglichkeit.“

„Und heiraten?“

„Nein, mein Freund ist zwar sehr nett, aber ich bin nicht verrückt nach ihm. Mein Traum ist eine Wohnung für mich allein und eine Stereoanlage und eine interessante Arbeit.“

„Und Geld!“

„Nein, das ist nicht so schlimm. Ich beneide dich nur deswegen, weil du tun kannst, was du willst.“

Ich habe Helena gesucht. Die StraBe in der sie wohnt ist so klein, daß niemand sie findet. Sie bestellte mich zum Litynski in die Wyzwolenia, die leicht zu finden ist. „Stimmt es, daß deine Wohnung abgehört wird?“ Sie lacht. „Hier ist es noch schlechter“. (Soll heißen: die Abhörsituation.) Wir gehen ins Stiegenhaus. Sie sieht aus wie eine Hexe, schwarzhaarig und selbstbewußt. „Was, Feministinnen in Warschau? Von denen weiß ich nichts, mit denen möchte ich auch nichts zu tun haben. Wieviel gibt es, fünf oder sieben?“ Sie organisiert mit Jan Litynski den Robotnik und Vorlesungen für die Arbeiteruniversität.

„Die westlichen Linken? Die interessieren sich nur für ihre Ansichten und nicht für Polen.“ Mit denen möchte sie auch nichts zu tun haben. „Lieber rechts“, ruft sie lächelnd, als wir die Kurve kratzen und nicht genau wissen, welche Straße wir nehmen sollen. In Polen ist alles politisiert.

Die Solidarnoscleute, die sich im einzig verfügbaren Raum bei Litynski versammeln, sehen mich forschend an. Ich bin verlegen wie schon lange nicht mehr. Konrad Bielinski [2] kommt herein, sieht mich erstaunt an und küßt mir die Hand. Dann kommt Frank und setzt sich neben mich. „Bist du Journalistin?“

„Nein, aber du.“

„Was das sieht man mir schon an? Ja ich mache Osteuropa seit ’58. Ich war sogar eine Woche im Gefängnis in Prag!“ Er ist sichtlich stolz darauf.

„Diese Polen! So diskutieren sie immer. Aber es kommt dabei etwas heraus.“ Er beobachtet sie mit dem geduldigen, zufriedenen Ausdruck eines erfolgreichen Jägers. „Wirklich sehr interessant.“

Ich fahre zu Frank ins Hotel Viktoria. Er: „Was wollen die noch von mir? Ich weiß ohnehin, daß ich kein Visum mehr bekomme.“

„Sie haben doch nur dein Zimmer durchsucht.“

„Und das Band haben sie abgespielt.“ Am Ende, nach den Aufnahmen aus der Antrittsvorlesung von Jacek Kuron an der Arbeiteruniversität im Audimax der Warschauer Uni, hört man Knacksen. Schritte und Türquietschen.

„Das ist doch herrlich! Das ist für deine nächste Radiosendung.“

Krys [3] sieht nicht aus wie eine Revolutionärin. Wenn sie nicht gerade müde ist — und das ist sie oft —, hat sie etwas Kindliches.

„Ich lebe anders. Manchmal fühle jch mich wie eine Fremde im eigenen Land. Die Leute lieben ihre Wohnungen, ihre Autos ihre Möbel. Sie wollen Sicherheit. Ich höre oft: Wie mutig du bist! Das geht mir am meisten auf die Nerven. Oder: Hast du so etwas notwendig? Du bist nicht mehr die Jüngste und hast nicht einmal eine eigene Wohnung. Dabei versuche ich nichts anderes als ehrlich zu sein. Jetzt ist es besser geworden. Jetzt sind nicht nur wir da, sondern auch die Arbeiter.“

„Wäre es anders geworden, wenn du Jan nicht getroffen hättest?“

„Ich weiß nicht was dann wäre. Aber ich wäre sicher keine normale Hausfrau, die nur für ihre Familie sorgt. Das hoffe ich zumindest sehr von mir.“

Matratzenlager der Studenten von Lodz
bei ihrem Besetzungsstreik vom Februar 1981

31.12., abends

Die Wohnung ist ungewöhnlich, sie hat fünf Räume und sieht aus wie ein Atelier. An den Wänden hängen riesige abstrakte Ölbilder, an der Grenze zum Kitsch. Ein elektrisch bunt beleuchteter Christbaum, darunter Brot, Schinken und Käse.

Krys: „Halb Warschau ist da. Ich finde das spannend.“

„Du meinst wahrscheinlich die halbe Opposition.“

„Heute zählen nur sie für mich.“

Auf dem Küchentisch in der Küche drängen sich die Wodkaflaschen. Aus den selbstgebastelten hölzernen Stereokästen tönt Babylon. Jacek Kuron [4] lehnt an der Ecke zur Tanzfläche und diskutiert heftig mit Frank. Wenn ich mal alt und weise bin, schreibe ich über die Beziehungen zwischen osteuropäischen Oppositionellen und westeuropäischen Journalisten.

Jerzy hält ein Gurkenglas halb voll Wodka und äußert sich mißbilligend über meinen Aufzug — Jeans, verhatschte Sandalen und ein vom älteren Bruder geerbtes Hemd sind für einen polnischen Silvester ein miserabler Aufzug. „Es wäre vielleicht zu retten, wenn du etwas ausziehen würdest.“ Aber ich will nichts mehr retten, und bei Jerzy ist es nicht notwendig. Er sieht umwerfend aus. Mit verbeultem grauem Anzug, unförmigen Schuhen und weißlichem Nylonhemd, wie sie in den fünfziger Jahren üblich waren. Er befremdet durch Überlegenheit, jedenfalls sieht er so, aus.

„Ich glaube du bist hier der einzige Proletarier.“

Er grinst: „Ja. Ich bin auch der Chef in meinem Gebiet!“

Man kann sich nur schwer zum Schinken unter dem Christbaum durchdrängen. Die meisten Frauen sehen aus wie beim Maturaball. Konrad stellt mich seiner französischen Freundin vor, die gar nicht französisch aussieht. „Wir werden über NOWA [5] sprechen.“

Ich: „Interessierst du dich auch für NOWA?“

Sie sieht erstaunt durch mich hindurch: „Nein, für NOWA interessiere ich mich nicht.“

Ich beginne mich zu amüsieren. Die Musik wird lauter. Angenehmes Schwindelgefühl. Immer wenn ich versuche, mich irgendwo anzulehnen, geht das Licht aus. Nur der Christbaum bleibt immer beleuchtet.

Martha [6] lacht: „Wie machst du das?“

„Ich weiß nicht.“

„Wien ist so eine schöne ruhige Stadt.“ Sie hat in Wien neun Monate an der Akademie für angewandte Kunst studiert. „Die Österreicher sind nett und unpolitisch. Ich fahre immer hin um mich auszuruhen. Aber jetzt habe ich so viel zu tun.“

Dann kommt er und fragt: „Wer bist du?“

Das Licht geht aus und ich greife im Halbdunkel nach meinem Wörterbuch. Ich kenne ihn nicht, und er erinnert mich an einen ungarischen Lateinprofessor, mit dem ich in Wien stundenlang durch die Stadt gelaufen bin, bis sich herausstellte, daß er kein Geld für die Straßenbahn ausgeben wollte. Aber der hier scheint etwas anders zu sein.

„Woher kommst du?“

„Von der Grenze.“

„Ein guter Ort für dich.“

„Wieso weißt du das? Wieso fragst du nicht weiter ... wieso?!“

„Ich dachte schon du bist die Tochter von Frank, weil du mit ihm gekommen bist. Und an den Grenzen weiß man mehr.“

Ich blättere beunruhigt in meinem Wörterbuch. Wir tanzen. Das Wörterbuch bleibt liegen: unter dem Schaukelstuhl, auf dem Stereo, neben dem Schinken, neben dem Wodka. Ich finde es immer wieder, obwohl fortwährend das Licht ausgeht. Dick geht noch immer mit dem Mikrophon herum, und ich sage: „Was machst du mit dem blöden Mikrophon?“

„Es sind so viele Frauenstimmen. Im Radio sollen sie glauben, ich habe viele Frauen in Polen.“

Ich stoße auf Jerzy, Jerzy stößt auf Martha und ich sage: „Martha gefällt mir sehr gut.“

Jerzy grinst über das ganze Gesicht und meint: „Mein Bruder ist besser.“ „Was für ein Bruder, inwiefern besser?“

„Er ist mein Bruder“, grinst Jerzy.

„Nein, er ist kein Proletarier!“ Jerzy nimmt ihm die Brille herunter und setzt sie sich auf. Unglaublich. Jetzt ist er Jerzy, und Jerzy ist er. Wieso habe ich das nicht früher bemerkt? Es ist unübersehbar, obwohl das Licht ausgeht.

„Wie ist das möglich, wieso bist du kein Proletarier?“ fragte ich ihn vorwurfsvoll.

„Ich bin es nicht, aber ich werde es sein. Ich bin schon alles mögliche gewesen, ich werde Proletarier.“

Er zerrt mich mit Gewalt von Jerzy weg und wir tanzen. „Tanzen geht besser als reden“, meint er weise.

Die Musik setzt sich um in Bewegung. Frank tanzt nun ohne Mikrophon. Es ist Mitternacht, Mitte der ersten Nacht. Die Glocken läuten aus dem Stereo. Die Männer kommen zu mir und küssen mich, ich gehe zu den Frauen und küsse sie. Auf einmal habe ich niemand zum Küssen und stehe in zwei Quadratmetern Freiraum. Kuron kommt zu mir, wünscht mir ernsthaft alles mögliche, ich weiß keine Antwort und er küßt mich ernsthaft dreimal. Als Jerzy zum drittenmal kommt, gebe ich ihm einen Fußtritt. Ein junger Deutscher küßt mich nicht und meint, es sei wirklich beeindruckend, er sei nur ganz zufällig hergekommen, und wie ich wohl dazugekommen sei.

In der Mitte stehen auf einmal drei riesige glatzköpfige Gestalten und neigen sich aufmerksam zum Volk.

„Was sind das für Typen?“ frage ich.

„Die sind vom KIK.“ [7]

Ich stoße auf einen Seebären im Anzug. „Stell dir die Scheiße vor, mein Bruder ist im Juli nach Australien ausgewandert. Er war ein sehr guter Kapitän. Ich bin ein miserabler Kapitän, aber dafür bin ich hier.“ Ich tanze im Kreis mit ihm und der Kapitänsfrau, die mich an ein edles östliches Steppenpferd erinnert.

1.1.1981, drei Uhr früh

„Du bist das Größte was es jemals in Warschau gegeben hat. Und wahrscheinlich in ganz Polen.“ Hoffentlich hat es Frank nicht gehört. Aber er sitzt hinter dem Lenkrad und spricht über politische Verflechtungen. Die Mikrophone sind ausgeschaltet.

1.1., fünf Uhr früh

Wir sind zu den internationalen Verflechtungen übergegangen. Jan bietet uns Burgunder an.

„Na ja, wenn man seit 22 Jahren Osteuropa macht und die Leute kennt ... man möchte nichts kaputtmachen,“ meint Frank.

„Es ist der Beruf des Journalisten, die Wahrheit zu schreiben, immer“, meint Jan.

Ich hänge im Sessel und Tschadek [8] knabbert an meiner Jean. Der Plattenspieler spielt 68er-Lieder. „Fliehe, fliehe über die Grenze, solange es Zeit ... in ein anderes Land ... solange es Zeit ... entgehe dem Henker ... der Fußweg zum Ural ist weit.“

Er studiert den Fahrplan. „Ich wohne am Rand. Wir sollten fahren.“ Etwas zwischen Verdacht und Wut überfraut mich.

„Oder hast du nicht gesagt, du möchtest nicht nach Hause gehen?“

„Doch.“

Alles soll stattfinden: das Fest und die Kehrseite von Solidarität, die wenn überhaupt, nur in Frauenkalendern notiert wird. Ich bin an der Nüchternheitsgrenze, nicht aufgeweicht in dem Sud von Romantik, Pflichtgefühlen, gemieteten Naturgesetzen und Ästhetik, wo frau kolonialisiert und konsumiert wird. Ich bin gebadet, nicht aufgeweicht. Vom polnischen Wodka nicht erweicht. Ideologie gegen Ideologie. Die Rückseiten sollen beschrieben werden. Nicht nur beschrieben sondern auch erlebt.

1.1., 11 Uhr

Der Wecker tickt mich an. Es ist kalt. Er schläft. Wie kann ein Mensch so schlafen? Sitzend, nur im Hemd. Ich forsche nach einem Zug von Frustration, Vorwurf depotenzierter Potenz. Nein, er sieht unverschämt glücklich aus, fast triumphierend. Da stimmt etwas nicht. Ich greife nach den Fotos in der Schublade des Nachtkästchens. Möglicherweise irgendein Anhaltspunkt. Ein Paßfoto in Uniform. Darum darf er nicht in den Westen! Es muß Jahre her sein „zäh“ und „mutig“ schaut er in unbestimmte Fernen. Die „sehr schlechte Erfahrung vor Jahren“ — das muß es sein. Die Uniform der Zerstörer, Vergewaltiger, Leutevertreiber, Emigrantenproduzenten.

1.1., 15 Uhr

Der Spiegelsaal ist mit Papierschlangen geschmückt. Die Livrierten schleichen verkatert zwischen den Tischen. Es muß ein teures Lokal sein. Draußen wird es schon wieder dunkel.

„Wie machst du es, daß du so aussiehst?“

„Das mache ich gar nicht. Ich sehe nun mal verdächtig aus, werde verdächtigt des Trotzkismus, des Feminismus, politischer Naivität und Überschläue, der Konspiration und der Ahnungslosigkeit, des Puritanismus, der Nymphomanie und Polyandrie. Der bundesdeutsche Verfassungsschutz hat einmal mein Zimmer fotografiert ...“

„Nein, nein, das meine ich nicht“. Er streichelt beruhigend meine Hand. „Du siehst jetzt aus wie 17.“ Ich bin im Paradies der Jungfrauen.

Die Polizei ist auch dabei — und lacht:
Bauerndemonstration in Warschau

2.1.

Das Haus Nummer 22 in der Joteyki ist verschlossen. Ich klettere über einen Zaun. „Was wollen Sie hier?“ Konrad hat doch gesagt, daß er nicht mehr beobachtet wird. Der Mann wird vielleicht nur ein Hausbewohner sein. Oder ein Hausbesorger mit Nebenjob bei der Geheimpolizei, wie es üblich ist. Ich erfinde eine Ausrede und klettere über einen anderen Zaun. Die Wohnungstüren sind nicht numeriert und tragen keine Namen. Ich habe Angst, als ich an eine der Türen klopfe. Konrad macht auf.

„Hast du mich gesucht ?“ Er grinst lässig. Ich fühle mich gerettet. „Möchtest du einen Whisky?“

„Nicht unbedingt, aber mit dir möchte ich ein Interview machen!“ „Wenn du meinst.“ (Siehe Interview: Verlag im Untergrund, S. 22-25.)

Er macht mich nervös. Wenn ich ihn sehe, komme ich mir feige vor.

Nach dem Interview treten wir auf die Straße. „Keine Polizei weit und breit.“ Konrad dreht sich theatralisch um: „Ich bin ein freier Mann in einem freien Land!“ Hat er wirklich nie Angst? Ich beruhige mich erst, als wir in einem kleinen beblümten Restaurant sitzen. Ich muß zahlen, weil Konrad beim Silvester sein ganzes Geld verloren hat. „Ich glaube, jeder hat bei diesem Silvester etwas verloren.“

Wir sprechen über den um 30 Prozent gesunkenen polnischen Alkoholismus.

„Lustig ist, daß ich die Gewerkschaft getauft habe. Ich habe das Streikbulletin ‚Solidarnosc‘ genannt, und auf einmal hat dann das Ganze so geheißen.“

2.1., abends

„Hast du schon etwas gegessen?“ , fragt Krys.

„Ich habe mit Konrad Tiere gegessen.“

„Das hätte ich nicht von dir gedacht.“

Während sich Jan mit dem schnurrbärtigen jungen Mann von Il Manifesto darüber einigt, daß die Russen nicht kommen werden, können, dürfen, machen wir mit Dick Tiere nach.

3.1.

„Bist du politisch?“

„Ja, natürlich.“

„Du hast mir aber schon gesagt, daß du unpolitisch bist.“

„Das war in einem Augenblick, wo es mir nicht wichtig war.“

„Und wie bist du politisch?“

„Ich glaube, nicht anders als du.“

„Du sagst mir nie etwas und weißt alles über mich.“

„Mein ganzes Herz breite ich vor dir aus, so wie ich es nie getan habe. Wie kannst du so wütend sein?“

„Das kenn ich schon: much love and no information.“

Ja, ich bin wütend. Er bringt mich zu den Adressen, hört aufmerksam zu, wenn ich diskutiere. Ich weiß nicht, wohin er mit Aktenkoffer und Schreibmaschine zu manchen Tages- und Nachtzeiten verschwindet.

4.1.

„Ich kenne nur die erste Frau von Litynski“, sagt die katholische Patriarchenfrau verächtlich.

„Ich kenne nur seine zweite Frau“, sage ich und verabschiede mich bald.

Krystyna Litynska mit Ehemann Jan Litynski
(Herausgeber des Robotnik), Hochzeitsfoto

5.1.

Im „Klub Sigma“ [9] mit Sabina, Marilla, Krystyna. [10] Sie haben im Oktober eine feministische Gruppe gegründet, die erste in Polen.

„Wir sind sehr entmutigt. Die Männer sehen die Notwendigkeit einer feministischen Bewegung eher ein als die Frauen. Manchmal kommen zu den Veranstaltungen mehr Männer als Frauen. Es ist paradox.“

Und Solidarnosc?

Marilla: „Als Polin bin ich voll von Enthusiasmus für Solidarnosc, aber als Frau ist mir das nicht genug. Ich kann nicht erwarten, daß die Männer die Frauenrechte beachten werden. Solidarnosc kann sich nicht mit Frauenbewußtsein beschäftigen. Wir müssen gerade jetzt, bei all dem Gerede über Solidarität und Gemeinschaft, klarmachen, daß auch wir eine Existenzberechtigung haben. Solidarnosc hat schon etwas für die Frauen geleistet: sie fordert den Mutterurlaub bis zu drei Jahren, auch die Männer sollen diese Möglichkeit haben. Es ist auch ein Dokument über Berufskrankheiten der Frau herausgekommen.“

„Alles was geschieht, geschieht in der Männerwelt. In dieser Gesellschaft war die Frau nie ein Problem. Wir versuchen, die Stereotypen und Schemata der Frauenrolle bewußtzumachen und dagegen anzukämpfen. Im Film zum Beispiel: Die Rolle des Mannes ist ausgeprägt. Die Frau steht daneben, versteht ihn entweder gar nicht oder nur passiv bewundernd. Die Frauen sind entweder ganz gehorsam oder ganz böse.“

Sabina: „Als wir die Universität um einen Raum für unsere Gruppe baten, war der Rektor sehr nett: ‚Das ist sehr schön, daß ihr so etwas macht. Es ist wirklich nötig.‘ Seine Sekretärin: ‚Was, habt ihr nichts besseres zu tun?‘ Es ist hier nicht populär, eine Frau zu sein, die aus ihrer Rolle ausbricht.“

Krystyna: „Dabei treibt die Presse unterschwellig frauenfeindliche Propaganda. Sie macht den Frauen zum Vorwurf, daß sie keine Bürgerinnen sind sondern nur Lebensmittel hamsternde Hausfrauen.“

Marilla: „Der Frau wird das Verhalten zum Vorwurf gemacht, in das man sie vorher hineinmanipuliert hat. — Unser erstes Treffen war toll. Die Frauen haben sich vorher nicht gekannt. Dann ist herausgekommen, daß sie alle schon jahrelang dasselbe denken, dieselbe Literatur suchen. Wir haben angefangen, eine Frauenbibliothek zusammenzustellen.

Krystyna: „Jetzt wächst das Interesse nicht mehr. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“

Ein Sigmafunktionär steckt ab und zu den Kopf in die Tür und grinst aufmunternd.

„Und die Kirche?“

Marilla: „Die kirchliche Ideologie ist eine schöne Frechheit. Die Frau ist die Trägerin des Lebens. Sie muß das Leben des Kindes wählen, nicht das eigene. Sowas hat sie gar nicht. Das sind ein bißchen Hitlerideen.“

„Glaubst du, daß es in unserer Gesellschaft möglich ist, mit einem Mann zusammenzuleben und sich gleichzeitig als Frau zu verwirklichen?“

Sabina: „Nein. Früher hatte ich sehr schöne Ideen von Partnerschaft. Das ist heute anders. Ich habe mich jahrelang für eine partnerschaftliche Ehe abgekämpft, alles immer wieder infrage gestellt und neu angefangen, damit es wirklich gleichberechtigt wird. Vor einigen Wochen sagt mir mein Mann, ich unterdrücke ihn immer mehr (sie zuckt müde die Achseln). Ich würde nie wieder heiraten.“

„Warum trennst du dich nicht von ihm?“

„Ich weiß es eigentlich nicht. Es ist so furchtbar schwer, im eigenen Leben etwas zu ändern.“

„Würdest du jeder Frau von der Ehe abraten?“

„Ja, klar.“

6.1.

Restaurant Budapest. Wir löffeln murmelnd und sehen einander unbestimmt an. Die Diskussion geht an mir vorbei.

„Kreisky ist genauso schlecht wie Brandt.“

„Was, wie meinst du das? Ich finde, er regiert uns ganz schlau.“

„Das sicher. Aber für Osteuropa ist er schlecht.“

Der mit dem Solidarnosc-Abzeichen nickt zustimmend.

18.1.

In der Leitung knackst es. Ich mache die Augen zu.

„Wie geht es dir?“

„Na ja.“

„Kannst du schreiben?“

„Kaum, es ist eine Sauarbeit.“

„Verstehe.“

„Und dir?“

„Du bist der wichtigste Mensch für längere Zeit. Ich weiß nicht wie ...“

Knacks. Der wichtigste Mensch in der abgehörten Leitung.

20.1., Wien

Ein Brief: „Warschau ist leer ohne dich.“

Wien ist voll Warschau.

7.2.

Ich höre im Radio die Nachricht von einem Streikerfolg und kaufe ein Nachthemd. Schicke ein Telegramm: „Impossible to phone you.“

8.2.

Ein Brief, der lange unterwegs war: „Ich dachte, ich kenne ein Maß an sentimentalen Angelegenheiten. Nun muß ich aber sehen, ich habe jedes Maß verloren.“

Mein Tagebuch: „Nun muß ich mit aller Klarheit sehen, was alles noch nicht gewesen ist.“

[*Daraus folgt, daß die angeführten, in Fußnoten näher beschriebenen Personen echt sind.

[**Mit Namen ist das so eine Sache. Statt eines Pseudonyms bitte ich die Leserin/den Leser, sich einen konventionellen weiblichen, möglicherweise italienisch klingenden Vornamen zu denken, etwa Olivia, aber ich bestehe nicht darauf.

[*Daraus folgt, daß die angeführten, in Fußnoten näher beschriebenen Personen echt sind.

[**Mit Namen ist das so eine Sache. Statt eines Pseudonyms bitte ich die Leserin/den Leser, sich einen konventionellen weiblichen, möglicherweise italienisch klingenden Vornamen zu denken, etwa Olivia, aber ich bestehe nicht darauf.

[1Robotnik (Der Arbeiter) entstand im Herbst 1977 als Samisdatzeitung „außerhalb der Zensur“ und wurde zum Kommunikationsorgan der Arbeitergruppen, aus denen später die freien Gewerkschaften entstanden. Eine Million Exemplare sind bis zum vergangenen Herbst verteilt worden. Gründer und Herausgeber des Robotnik ist das KOR-Mitglied Jan Litynski, 35, Mathematiker, seit vier Jahren arbeitslos.

[2Konrad Bielinski, 32, Mathematiker, seit eineinhalb Jahren arbeitslos, ist einer der Leiter des NOWA-Verlags.

[3Krystyna („Krys“) Litynska, 32, Psychologin, hat einen Werkvertrag mit der polnischen Akademie der Wissenschaften und ist Redakteurin von Niezaleznosc (Unabhängigkeit), dem Organ der Region Masowien (Warschau und Umgebung) der Solidarität.

[4Jacek Kuron, Jahrgang 1935, verbrachte für seine oppositionellen Ansichten bisher über sechs Jahre im Gefängnis, zuletzt zehn Tage im August 1980, wurde durch den Streik an der Ostseeküste befreit. Sprecher des KOR (Arbeiterverteidigungskomitee), das Warschauer Intellektuelle am 23. September 1976 zur Unterstützung der Arbeiter gründeten, die nach den Streiks im Juli 1976 verfolgt wurden.

[5NOWA = polnischer Samisdatverlag, s. S. 22 das Interview mit Konrad Bielinski.

[6Martha ist Mitarbeiterin von Solidarnosc.

[7KIK = katholischer Intellektuellenklub in der Warschauer Konopczynskiego-Straße unter der Leitung von Tadeusz Mazowiecki und Andrzej Wielowieyski, den Beratern von Solidarnosc-Vorsitzendem Lech Walesa.

[8Tschadek = Spitzname für einen siegreichen General, diesfalls ein aggressiver Kleinterrier.

[9Klub Sigma = Studentenklub des parteioffiziellen „Sozialistischen Studentenverbands“ in der Warschauer Universität (gleich beim Eingang rechts im Keller), gibt sich sehr links, untersteht aber der Leitung des Parteikomitees der Universität.

[10Sabina, 28, verheiratet, ein Kind, Soziologin, schreibt eine Dissertation über die Frauenfrage; Marilla, 20, studiert Geschichte im dritten Semester; Krystyna, 21, studiert Soziologie im sechsten Semester.

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