FORVM, No. 329/330
Mai
1981

Polenspaltung

Frostaufbrüche

Saxa loquuntur, die versteinerten Herzen beginnen zu sprechen. Im vergangenen Sommer waren’s Polens Arbeiter, dann die Intellektuellen, jetzt folgen die Parteimitglieder nach. Unter dem Druck der Basis geht die Parteiführung zaghaft die ersten Schritte auf dem Prager Reformweg. Paradoxerweise haben Partei und Gewerkschaft in ihrer Konfrontation dieselben Probleme mit Flügelkämpfen, internen Wahlen und Demokratisierung. Langsam erodiert das politische Machtsystem, dem Gesetz aller bisherigen Reformbewegungen Osteuropas folgend. Das Tempo nimmt zu.

Jokele, geh du voran:
Andrzej Gwiazda verkündet am 30. März 1981 die Absage des Generalstreiks nach Unterzeichnung eines Abkommens mit der Regierung. Mit Lech Walesa (links) und Vizepremier Mieczyslaw Rakowski, früherer Chefredakteur des Wochenblatts „Polityka“
Bild: Votava/CAF

Sieg? Niederlage? Spaltung?

Lech Walesa, dem Zauberer der politischen Intuition, gelang ein taktischer Meisterstreich: als die Gewerkschafterdelegation am Montag, den 30. März, aus den Verhandlungen mit der Regierung herauskam, war es nicht er, der vor den Fernsehkameras verkündete: „Morgen wird gearbeitet“, sondern Andrzej Gwiazda, sein radikaler Konkurrent, der sich damit bei seinen eigenen Leuten in der Gewerkschaft desavouierte.

Die Regierung war aus der Konfrontation von Bydgoszcz (Bromberg) scheinbar als Siegerin hervorgegangen, sie hatte ohne wesentliche Konzessionen den angedrohten Generalstreik abgewendet. Aber da griff der Weltgeist (sage: die unterschwellige Massenbewegung) ein und korrigierte das Resultat: Mitte April trat die Parteibasis in Torun fraktionell an die Öffentlichkeit, und gleichzeitig lief eine neue Welle von Besetzungen von Häusern der Bauernpartei an. Die Regierung gab schnell nach, bewilligte die lange abgelehnte Gewerkschaft für Individualbauern. Die Parteispitze gab grünes Licht für geheime Wahlen und unbegrenzte Kandidatenzahl beim kommenden Parteitag, der bis 20. Juli abgewickelt werden soll.

Die Optik war für Regierung und Partei diesmal besser, weil sie nachgaben, ohne in einer sich hinziehenden Konfrontation mit dem Rücken an die Wand gezwungen zu werden. Zwar war die von Regierungschef General Jaruzelski Anfang Februar geforderte dreimonatige Streikpause durch den Warnstreik vom 27. März verloren, aber die Anfang März erbetene zweimonatige Pause hat nun größere Chance auf Verwirklichung.

Die Konfrontation von Bromberg bedeutete die Wiederherstellung der Arbeiter- und Bauernallianz, die auseinanderzudividieren der Staatspartei schon mehrmals gelungen war, zuletzt durch Gewährung der Studentengewerkschaft und der freien Samstage Anfang Februar. Die Bromberger Arbeitersolidarität unterstützte die Besetzung des Hauses der Bauernpartei in ihrer Stadt, nunmehr Speerspitze des Kampfes um eine Bauerngewerkschaft nach den ersten unbefriedigenden Abkommen von Rzeszow und Ustrzyki Dolne.

Als das lokale MKZ von Solidarnosc am 19. März dem Bromberger Bezirksrat anläßlich der Budgetberatung seinen Standpunkt in Sachen Bauern klar machen wollte, kam es zum Eklat. Die Leiter unterbrachen die Sitzung, obwohl den Gewerkschaftern vorher versprochen worden war, sie könnten unter dem Punkt „Allfälliges’’ zu Wort kommen. Ein Teil der Abgeordenten, auf Regimelisten gewählt, blieb bei den Gewerkschaftern sitzen und arbeitete mit ihnen ein Kommuniqué aus. Als es gerade unterschrieben wurde, griff die Polizei ein und räumte den Saal. Auf dem Tonband, das später in vielen Betrieben über die Lautsprecheranlage abgespielt wurde, hört man Rufe: „Die Frauen in die Mitte!“, man faßte sich an den Händen, die Nationalhymne erklang. Dann Rufe: „Hilfe, Hilfe!“

Ging die Räumung selbst noch ohne Knüppel vor sich, so wurden vor dem Gebäude drei Gewerkschafter von Polizisten in Zivil („unter den Augen der uniformierten Polizei“, wie der Regierungsbericht kritisch bemerkt) übel zugerichtet, so daß sie mit Gehirnerschütterung ins Spital mußten. Unter den Verletzten war Jan Rulewski, MKZ-Vorsitzender der Bromberger „Solidarität“.

Sogar Polizei streikt

Die Empörung war groß und löste in ganz Polen eine Schockwelle aus. Die Regierung setzte eine Untersuchungskommission ein, deren Bericht am 28. März zusammen mit den Kommentaren von Solidarnosc im Fernsehen verlesen wurde. Die Regierung desavouierte faktisch ihren eigenen Ordnungsapparat.

Die Polizeistation Nr. 2 in Danzig ging noch weiter; dort beschloß die Parteiorganisation am 31. März eine Resolution, wonach „die Polizeivollmachten neu definiert werden“ sollten und daß die „wachsende Feindschaft zwischen Polizei und Gesellschaft aufhören“ müsse und „alle Privilegien“ von Gesellschaftsgruppen veröffentlicht werden müßten; wenn die Verantwortlichen von Bromberg nicht bestraft würden, wollten die Polizisten der Station Nr. 2 ihren Dienst verweigern.

Den Dienst verweigerten dann die Gewerkschafter im ganzen Land bei einem vierstündigen allgemeinen Warnstreik am Freitag, den 27. März. Nur die notwendigen Dienste wurden aufrechterhalten. Die Forderungen betrafen nicht nur die Entlassung und Bestrafung der Schuldigen von Bromberg, sondern auch alle anderen unerledigten Punkte der Gewerkschaft: Medienzugang, Bauerngewerkschaft, politische Gefangene, Zensur- und Gewerkschaftsgesetz. Im Falle der Nichterfüllung wurde ein Generalstreik für Dienstag, den 31. März angekündigt. Die Gewerkschaftsleitungen begaben sich in die Betriebe und erklärten sich zu Streikkomitees.

Der Warnstreik, landesweit in kraftvoller Ruhe durchgeführt (sogar 90 Prozent der Parteimitglieder in den Betrieben hatten sich beteiligt), änderte das Kräfteverhältnis in Polen grundlegend. Anfangs war das nicht so deutlich sichtbar, da die Verhandlungen vom Montag (30. März) scheinbar mit einem Sieg der Regierung endeten: nur die personellen Forderungen bezüglich Bromberg wurden erfüllt, bei den vier anderen Punkten gab es die üblichen leeren Versprechungen.

Walesa hat sich vergangen

Als die Landeskommission (die Gewerkschaftsleitung) am nächsten Tag zusammentrat, traf ein empörter Brief von Jan Rulewski ein, dem Führer und Opfer von Bromberg:

Wir schreiben diesen Brief im Spitalsbett, wohin uns die Schlagringe der Sicherheitspolizei befördert haben. Die Gewalt, die gegen uns ausgeübt wurde, hat die ganze polnische Gesellschaft als Gewalt an der Nation selbst empfunden. Deshalb erreichen uns viele Solidaritätsbekundungen und Wünsche, eine gemeinsame Front gegen einige Parteigangster verdächtiger Herkunft zu bilden. Gemeinsam mit uns will auch die ganze Presse, wollen wissenschaftliche Vereinigungen, Schriftsteller, unsere mächtige Kirche, Studenten und Hochschullehrer sowie Branchengewerkschaften auftreten (was sie auch getan haben).

Wir hatten es also mit einer nationalen Erhebung zu tun. Ihr, unsere Delegierten, hattet also viele Trümpfe in der Hand, von denen ihr mindestens die Hälfte hättet ausspielen können. Ihr habt das kompromittierende ZK-Plenum nicht ausgenützt, wo die Parteibasis die Clique in der Luft zerrissen hat, ihr habt die Proteste der Jugendräte nicht ausgenützt, ihr habt solche Atouts nicht ausgespielt wie Zensur, politische Gefangene, Bauern.

Aus meinen häufigen persönlichen Kontakten mit Walesa und aus den Resultaten seiner Tätigkeit komme ich zu dem Schluß, daß er sich in gewisser Weise an unseren gemeinsamen Beschlüssen vergangen hat. Und jetzt das allerschlimmste: nach den zehntägigen Verhandlungen (von denen sich das Volk einen großen Durchbruch erwartete) habt ihr ein Kommuniqué unterschrieben, das vom übelsten Bürokraten stammen könnte und worauf die Regierung in ähnlichem Ton antworten würde. Es ist eine Schande für die Gewerk schaft, die weder ihre eigene Würde noch die der zusammengeschlagenen Menschen verteidigen konnte und die auch die Hoffnungen von anderen Gesellschaftsgruppen verkauft hat. Die Manipulationen, die in unserer Gesellschaft stattfinden (die mit den Einzeltreffen von Walesa und Kania usw. zusammenhängen), tragen die verdienten Früchte.

Ich warne Euch, meine Lieben, vor der übertriebenen Offenheit einigen Personen gegenüber, es kann passieren, daß euch nicht nur niemand mehr verteidigt, sondern daß ihr sogar angeklagt werdet. Ich denke, daß ihr diese Probleme bei der nächsten Sitzung lösen werdet, da man erst danach von einer Strategie und Taktik der Gewerkschaft reden kann. Ich bin kein Radikaler. Ich finde, daß man bei solchen Problemen wie Zwiebeln oder Löhnen einen Kompromiß anstreben soll. Dort aber, wo das Blut von Gewerkschaftern fließt, kann von Kompromiß keine Rede sein. Es ist ein Rückfall in das Jahr 1970, und nur dadurch, daß wir die Nationalhymne und die Verantwortlichkeit zu unserer Waffe gemacht haben, gab es keine Toten. Meine weiteren Aussagen über andere Probleme wird der von mir bevollmächtigte Krszystof Gotowski vortragen.

Jan Rulewski
Mariusz Labentowicz

Beim Kardinal umgedreht

Der erwähnte Bromberger Delegierte erklärte nach der Sitzung der Landeskommission einem österreichischen Fernsehteam:

Wir finden, daß das Abkommen mit der Regierung eine schwere Niederlage der Solidarität ist. Was wir haben, ist ein weiteres Stück Papier in unseren Aktentaschen. Konkret erreicht haben wir nichts. Wir hätten den Streik nicht absagen dürfen. Die Erfahrung zeigt uns doch, daß wir immer nur dann etwas erreicht haben, wenn wir streikten.

Ich habe das Gefühl, daß die Berater aus der katholischen Intelligenz im Laufe der Verhandlungen eine wesentliche Rolle gespielt haben. Sie haben unsere ganze Delegation auf Kompromißkurs und dann Walesa selbst gesteuert. Dafür spricht auch, daß sowohl der Premierminister als auch Walesa bei Kardinal Wyszynski waren. Nach diesem Treffen waren plötzlich alle kompromißbereit.

Der derart angegriffene Walesa-Berater Tadeusz Mazowiecki, Chefredakteur der neuen Gewerkschaftswochenzeitung mit dem Titel Solidarnosc, meinte: „Man sollte das in einer ruhigen Situation besprechen. Der eher gemäßigte Führer des Stettiner MKZ, Marian Jurczyk, sagte: „Es ist doch kein Zufall, daß für heute tausende Arbeiter zum Militär eingezogen wurden. Ich habe einem, der von meiner Belegschaft betroffen war, gesagt: Gehen mußt du, Jurek, du wirst schon jemanden zum Niederprügeln finden ‒ nur wen, das ist die Frage ...“

Der Pressesprecher der Landeskommission, der Historiker Karol Modzelewski, ein alter Mitstreiter Jacek Kurons (1964 verfaßten sie gemeinsam den „Offenen Brief an die Mitglieder der PVAP“), trat von seiner Funktion zurück. Er begründete das so: „Die Gewerkschaft beginnt einer feudalen Organisation zu gleichen. Es gibt einen König, einen Hofstaat und ein Parlament, das die Komparserie stellt.“ Walesa sei der mittelalterliche König, das Symbol der Einheit ...

Wir wären die nächsten!

Andrzej Gwiazda, Walesas Stellvertreter, im Nachhinein von Reue über seinen Umfall geplagt, bot ebenfalls seinen Rücktritt an, was aber von der Landeskommission abgelehnt wurde. Gwiazda gehört mit Rulewski zum Typ der Ingenieure, welche die freien Gewerkschaften eigentlich geschaffen haben. An den technischen Hochschulen kamen sie mit der intellektuellen Opposition in Berührung, deren Anliegen sie dann in ihrer Berufstätigkeit mit der Arbeiterradikalität verbunden haben. Aus seiner Gewissensnot schrieb Gwiazda an Walesa einen offenen Brief (leicht gekürzt):

Lech,

in Sorge um die Lebensfragen von Solidarnosc wende ich mich in einem offenen Brief an Dich. Vor drei Jahren, am 30. April [1978], entstand das Gründungskomitee der freien Gewerkschaften. Seit Jahren habe ich die Willkürentscheidungen der Staatsverwaltung mit angesehen, und auch die Machtlosigkeit der Arbeiter. Die Hauptquelle des Übels sah ich in der Erniedrigung der vor Angst gelähmten Gesellschaft. Das Durchbrechen der Angstbarriere, die Fähigkeit, etwas zu formulieren, die Verteidigung der eigenen Ansichten sowie die Fähigkeit, diese eigenen Ansichten zu verwirklichen: das waren die wichtigsten Ziele der freien Gewerkschaften, die wir beide gegründet haben.

Die Erreichung dieses Zieles erforderte die Zusammenarbeit der Intelligenzija und der Arbeiter. Mit der Entstehung des KOR wurde die Isolierung der einzelnen Gesellschaftsschichten beendet, weil isolierte Proteste ‒ der Intelligenzija 1968 und der Arbeiter 1970 ‒ immer mit einer Niederlage enden müssen.

Unsere Tätigkeit lief gleich mit jener des KOR, auch in der Hinsicht, daß wir die Verteidigung jedes einzelnen Menschen, der seiner Ansichten wegen unterdrückt wird, als unsere wichtigste Aufgabe betrachtet haben. (...)

Innere Demokratie ist notwendig für unsere Gewerkschaft. Die antidemokratische Umgebung, die äußere Gefahr, die ständigen Kämpfe und Spannungen all das bewirkt, daß sich in der ganzen Gewerkschaft, von der Spitze bis zur Basis, die Tendenz zeigt, von den demokratischen Grundsätzen abzugehen. Aber wenn die Gewerkschaft mit Methoden kämpft, die ihr von den Gegnern aufgezwungen werden, dann muß sie verlieren.

Es ist meine Pflicht, darüber zu sprechen, denn mein Name wird neben Deinem, Lech, und Anna Walentynowicz zu einem Symbol für alle jene, die die Gewerkschaft in den Auguststreiks erkämpft haben. Eigentlich ist es das Resultat eines Zufalls, denn unsere Verdienste sind nicht größer als die von anderen, aber auf uns lastet eine größere Verantwortung, die Verantwortung dafür, daß wir eine Situation zugelassen haben, in der die Achtung der Menschen für Symbole uns erlaubt hat, die demokratischen Regeln der Gewerkschaft durch eigenmächtige Entscheidungen zu ersetzen.

Sagen wir es offen heraus: das Kommuniqué vom 31. März über die Verschiebung des Streiks bedeutete praktisch seine Absage. Ich will jetzt nicht darüber urteilen, ob diese Entscheidung meritorisch richtig war, aber wir waren überhaupt nicht befugt, eine derartige Entscheidung zu treffen.

Als sich die Gespräche mit der Regierung in die Länge zogen, hätte man die Landeskommission einberufen müssen. Daß wir das nicht getan haben, dafür bin ich mitverantwortlich. Ich habe es nicht vermocht, die autokratische Entscheidung zu verhindern, die ohne Verständigung mit den statutarischen Organen der Gewerkschaft getroffen wurde. (...)

Die Kritik an der von uns beiden am 31. März getroffenen Entscheidung und die Kritik der eigentlich jämmerlichen Ergebnisse der Verhandlungen mit der Regierung wurde Ausgangspunkt für eine Aktion der Feinde von Solidarnosc bzw. von naiven Leuten: man verteidigt uns gegen irgendwelche erdachten Leute aus dem KOR. Der Sinn dieser Aktion ist klar: es geht darum, die Gewerkschaft zu spalten und Unfrieden hineinzutragen. Es geht darum, daß wir uns mit der Repression gegen Aktivitäten und Experten vom KOR einverstanden erklären.

Aber wir werden die nächsten sein! Für mich will ich feststellen, daß ich eine solche „Verteidigung“ zurückweise. (...) Die wählbaren statutarischen Körperschaften verlieren an Bedeutung. Den entscheidenden Einfluß üben Angestellte und Berater aus, die ‒ unkontrolliert und nicht unter dem Druck der Verantwortung ‒ jede Freiheit der Manipulation haben. Das muß einmal laut gesagt werden, damit unsere Gewerkschaft nicht in eine Sackgasse gerät und Werte über Bord wirft, für die wir gekämpft haben. Als Vizevorsitzender der Landeskommission fühle ich mich verantwortlich. Daher habe ich am 1. April meinen Rücktritt erklärt. Das war kein Akt der Desertion ‒ ich habe meinen Rücktritt aufgrund der Entscheidung der Landeskommission zurückgezogen.

Ich werde meine Funktion solange erfüllen, wie die Landeskommission das für richtig hält. Ich werde dann zurücktreten, wenn die demokratischen Werte, in deren Namen wir die Gewerkschaft gegründet haben, verraten werden. Diese Erklärung erwarte ich auch von Dir, Lech.

Andrzej Gwiazda
Ohne Bauerngewerkschaft nichts zu essen:
Bauersfrau bei Versammlung der Land-Solidarität in Warschau, 20. Dezember 1980

Gegen das Abenteurertum

Lech Walesa antwortete mit folgendem:

Ich will dasselbe wie Du: daß Polen polnisch ist, daß wir etwas zu sagen haben und daß man in unserem Land leben kann. Diesem Ziel muß Solidarnosc dienen. Du machst mir Vorwürfe wegen der letzten Gespräche mit der Regierung. Ich könnte darauf antworten, daß Du dafür zumindest mitverantwortlich bist und könnte daran erinnern, was Du in Warschau gemeint und gesagt hast. Aber ich drücke mich nicht vor der Verantwortung. Im vollen Gefühl der Verantwortung erkläre ich, daß das Abkommen, das wir mit der Regierung am 30. März unterzeichnet haben, den besten Ausweg für das Land und für die Gewerkschaft darstellte, und daß wir errungen haben, was es damals zu erringen gab. Und was das Wichtigste ist: daß wir nichts verloren haben. Wir haben damals beschlossen, die Landeskommission nicht am Montag (30. März), sondern am Dienstag einzuberufen. Ich bin immer noch der Meinung, daß das unter den damaligen Umständen die einzig mögliche Entscheidung war und ich verstehe nicht, warum Du Deine Meinung in dieser Frage geändert hast. (...)

Das Schreiben von offenen Briefen können wir uns für die Pension aufheben. Ich selbst habe ja schon oft daran gedacht, in die Gewerkschafts,‚rente“ zu gehen, die Führungsarbeit in der Gewerkschaft aufzugeben. Ich bin aber zur Auffassung gelangt, daß ich das nicht tun darf, solange die Möglichkeit besteht, daß Abenteurertum oder Unverantwortlichkeit die Oberhand gewinnen könnten. Ich glaube, daß ich für die Gewerkschaft und für unser Land noch etwas tun kann ‒ mit Mut und Besonnenheit. Das wünsche ich auch Dir.

Lech Walesa

In zwei Interviews, die eine Woche nach der Sitzung der Landeskommission in Danzig aufgenommen wurden, erklärt Walesa, warum er „schnelle Wahlen“ in den Gewerkschaften will (Stettiner Kurier und Solidarität vom 10. April): in den MKZ (Regionalleitungen von Solidarnosc) seien die Männer der ersten Stunde, die „Männer des Kampfes“ tätig, die solle man „durch Vernünftigere ergänzen’’, die es verstünden, Probleme „auf friediichem Weg zu lösen“. Für die „normale Tätigkeit“ seien einige von den „Kampfmenschen“ nicht geeignet. Vor einer Spaltung fürchte er sich nicht, Konkurrenzgewerkschaften hätten für „5 bis 10 Jahre keine Chance“.

Walesa hat meiner Ansicht nach insofern recht, als der Generalstreik am 30. März wohl von einem Teil der polnischen Arbeiterklasse als überzogene Reaktion angesehen worden wäre und zu Spaltungsmanövern Anlaß gegeben hätte. Eine solche Großaktion muß spontan geschehen, aus einem für alle glaubwürdigen Anlaß, dem „beleidigten Rechtsgefühl“ des Volkes (Otto Bauer) entspringend.

Die geübte Zurückhaltung bewirkte eine Solidarisierung weiterer Schichten, vor allem der Partei, mit Solidarnosc, und die Drohung mit neuen Aktionen dieser breiten Einheitsfront führte dann Mitte April zum endgültigen Durchbruch.

Partei macht dem Kreml Kopfweh

Selbst Leo Breschnew konzedierte den Polen am KPC-Parteitag in Prag neuerlich, daß sie ihre Probleme selbst lösen könnten. Unmittelbar vorher hatte Gustav Husak noch die nackte „Konterrevolution“ am Werk gesehen. Und die Westbanken geben weiterhin Kredit, Reagan hebt sogar das Getreideembargo gegen die Sowjetunion auf. Also alles in Butter?

Das eigentliche Kopfweh für den Kreml beginnt erst mit dem, was sich in Polens Staatspartei jetzt anbahnt.

Wir haben in unserem letzten Heft auf die Flügelkämpfe am 8. ZK-Plenum Anfang Februar hingewiesen. Als am 29. März das 9. Plenum zusammentrat, kam es dort unter dem Eindruck des Warnstreiks vom 27. zu einer wahren Revolte der Arbeiterdelegierten, die diesem Gremium sonst nur als Aufputz zwischen den Apparatschiks dienen. Etliche dieser „Basisvertreter“ bekannten sich zum Streik und protestierten offen gegen die Scharfmacherresolution des Politbüros vom 22. März, in der Parteimitglieder aufgefordert worden waren, am Streik nicht teilzunehmen. Die Arbeiter im ZK forderten, mit der Gewerkschaftszusammenarbeit endlich ernst zu machen.

Der erste öffentliche Kampfruf aus der Partei war vom Journalistenpräsidenten Stefan Bratkowski gekommen, der am Tag nach Kanias und Jaruzelskis Abstimmungsniederlage im Politbüro vom 22. März einen offenen Brief an die Parteimitglieder richtete, in dem es heißt:

Die Lage wird immer dramatischer. Wir treten in eine neue Krise. Machen wir uns keine Illusionen: das ist die Krise der letzten Chance für diejenigen, die unsere Partei vom Weg der gesellschaftlichen Verständigung abbringen wollen, indem sie unseren Staat und die Gesellschaft in eine unvermeidbare Katastrophe führen.

Das sind diejenigen, (...) die sich vor Wahlen fürchten und mit allen Mitteln danach streben, den außerordentlichen Parteitag hinauszuschieben. (...) Es sind diejenigen, die sich bemühen, die öffentlichen Ordnungskräfte in Konflikt mit der eigenen Bevölkerung zu bringen, so daß diese keinen anderen Ausweg mehr haben, als gegen sie zu kämpfen. Es sind diejenigen, die sich unseren Nachbarn als einzige Kraft präsentieren, die in der Lage ist, die Dauerhaftigkeit unserer Bündnisse und der Gesellschaftsordnung des Staates zu garantieren. In Wirklichkeit sind sie überhaupt keine Kraft und können niemanden, nicht einmal sich selbst garantieren. (...)

Unsere Hartköpfe vertreten kein Programm außer Konfrontation und Desinformation. Sie versprechen uns keine Perspektive außer dem Drama. Ich beobachte ihre Tätigkeit seit Monaten und entdecke keinen einzigen Vorschlag, der über die Verteidigung der eigenen Stellung, über Postenehrgeiz hinausginge. (...) Ich sage offen: wir haben alle unsere Hoffnungen auf den Genossen Kania, auf Barcikowski gesetzt. Wir sehen auch keine Alternative zur Regierung von General Jaruzelski. (...) Ein anderer Weg führt auf den politischen Friedhof.

Bratkowski nannte für die Falkenfraktion keine Namen, aber die Mitglieder von Polens „Viererbande“ meldeten sich am 9. Plenum selbst zu Wort: Stefan Olszowski sagte, Bratkowski habe mit seinem offenen Brief den „Weg zur Spaltung der Partei und ihrer Führung“ eingeschlagen, den „Weg der Fraktionstätigkeit“. Sein Adjutant Tadeusz Grabski sprach sogar von einer „subversiven, parteifeindliichen Tätigkeit“ Bratkowskis, dessen offener Brief „Konfusion und Desorganisation unter den Massen der Parteimitglieder verbreite“.

Wir warten vor dem Haus des ZK

Bratkowski bekam eine Rüge der Parteikontrollkommission (er möge ein derartiges Verhalten „in Zukunft“ unterlassen), während Olszowski und Grabski dem ZK zunächst ihren Rücktritt erklärten, aber dann doch zum Bleiben bewegt wurden. Zeitweise soll sogar das gesamte Politbüro seinen Rücktritt angeboten haben.

Die fraktionelle Aktivität der Reformer in der PVAP erreichte ihren Gipfel, als am 15. April in der Universität von Torun mehr als 500 Delegierte von Basisorganisationen zusammentrafen, um ihre Forderungen an die Parteiführung zu richten. Diese Basisbewegung war schon im vergangenen Herbst von Zbigniew Iwanow in Torun gestartet worden, der die Idee hatte, die Betriebsorganisationen der Partei (POP) horizontal, ohne Einschaltung der Sekretariate, zu verbinden, wie es die Gewerkschaft „Solidarität“ vorexerzierte.

Iwanow wurde aus der Partei ausgeschlossen, aber die Mitglieder im Betrieb erkannten ihn nach wie vor an, und so blieb er ihr Sekretär. Gegenwärtig soll die Bewegung der Basisorganisationen bereits eine Million Parteimitglieder erfassen, ein Drittel der Mitgliedschaft. Iwanow sagte (laut Le Monde): „Man muß einen gewissen Druck auf das 10. Plenum ausüben, damit man uns nicht wieder betrügt wie beim 9. Plenum.“ Die Sekretäre der großen Betriebsorganisationen sollten an der nächsten ZK-Sitzung teilnehmen und dabei telefonisch Kontakt mit ihren Betriebsorganisationen halten, um der Stimme der Basis im ZK Gehör verschaffen zu können. Die ZK-Sitzung solle im Fernsehen übertragen werden. Iwanow: „Wenn man uns nicht hineinläßt, werden wir vor dem Haus des ZK warten.“ Eine neue Version von Volksdemokratie, fürwahr!

Professor Lamentowicz von der Parteihochschule sagte auf der Toruner Konferenz, man müsse am Parteitag „15 bis 20 Prozent der alten Führung wiederwählen, um eine Kontinuität zu sichern“. Er sollte die Stimmung der Mitglieder kennen ...

Lamentowicz ist einer der Aktivisten des „Klubs Karl Marx“, der Anfang März in Warschau gegründet wurde und eine große Zahl liberaler Parteimitglieder (aber auch Nichtmitglieder), umfaßt. Dazu gehören wiederum Reformergruppen wie Bratkowskis DIP („Erfahrung und Zukunft“). Sogar Konservative wie der frühere Parteiideologe Andrzej Werblan versuchen, auf den Zug von Torun aufzuspringen.

Die Partei wird also ihren Weg der langsamen Öffnung beim 10. Plenum am 29. April weitergehen. Womöglich nicht unter Ausschluß des Olszowski-Flügels, das dürfte sich Suslow bei seinem Besuch in Warschau am 24. April ausgebeten haben. Ob der Waffenstillstand noch bis zum Parteitag hält?

Die Regierung hat inzwischen ein Arbeitsprogramm veröffentlicht, das fünf Punkte der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften beinhaltet. Einer davon ist die Gründung der „paritätisch besetzten Kommission“, wo beide Seiten keimende soziale Konflikte behandeln sollen. Das klingt schon sehr Österreichisch ...

27. April 1981
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