FORVM, No. 428/429
August
1989

Politvergnügen

Wahlergebnisse im TV. Die einen kleben weiterhin an ihrer jeweiligen Großpartei — der Posten oder der erwarteten Schlagworte und vertrauten Slogans wegen — und die anderen, diese Zuwachsin-Prozent-Sieger, sind schon dabei, ihre alte politische Heimat neu zu besetzen. Das am Wahlabend vom TV ausgestrahlte Siegerlächeln ist so unverschämt breit, daß ich beinahe das Wichtigste übersehe: Es gibt einen renitenten Rest von im engeren Sinne politischen Abstinenzlern. Mühelos hat also dieses Wahlspektakel aus meinen recht unterschiedlichen Freunden und mir eine Gruppe gemacht: Merkmal „Nichtwähler“.

Was immer beauftragte Soziologen auch zum Besten geben: Verfassen und Verteilen von Flugblättern, das Erlebnis staatlich verordneter Prügel, Gruppendruck und Profilierungskämpfe in der Organisation, Berufsverbot und die Arbeit in Bürgerinitiativen mit Fraktionierung und Austritt — das sind Teile unserer persönlichen Geschichten. Hartnäckig haben sich alte Gewohnheiten erhalten: Zeitunglesen, die Interpretation der breitgetretenen Nachrichten „gegen den Strich“, die Suche nach schwer zugänglicher Information und das Aufstellen von politischen Hypothesen und Prognosen mit ein, zwei Freunden.

Das gilt für halsstarrige Snobs, die schon aus Prinzip darauf Wert legen, ihre Ideen und Geschäfts abseits von all den Empfehlungen der Trend- und Wirtschaftsmagazine zu entwickeln. Gebildete Adelige, die in ihrer Fähigkeit zum Konsumverzicht beispielhaft sind und denen es kaum verübelt werden kann, daß sie „diese Politik nachgerade degoutant“ finden. Das gilt auch für verkrachte Existenzen und ungefragte Privatgelehrte, deren geschärfter Blick von außen unliebsame Enthüllungen liefert. Für einige Widerspenstige in der Basis, für die der gesellschaftliche Betrug handfeste Folgen hat; nur ihr Mutterwitz hilft ihnen. Schließlich noch ein paar gewitzigte Geschäftsleute, die teils aus Risikolust, teils um ihren Betrieb vor der Liquidierung zu retten, Gesetze umgehen.

In dieser heterogenen Gruppe wird die Zeitungslektüre mit einem Schrei oder einem Stöhnen abgebrochen, die Zeitung fliegt ins Eck und der Unmut wächst. Kaum einer, der sich die TV-Nachrichten, ohne Fernsteuerung in der Hand, zumutet. Selbst unter Freunden gibt’s Äußerungen zur Politik nur, wenn gerade ein bon mot auf der Zunge brennt. Oder wir erzählen uns politische Witze — die ja in Hülle und Fülle vorhanden sind, ebenso wie Arbeitslose, Waffensysteme, Möchtegern-Politiker und Schuldenlasten.

Ein guter politischer Witz ist eine Wohltat. Er taucht Erzähler, Zuhörer und den aufs Korn genommenen politischen Funktionsträger in ein helles Schlaglicht: Der Feind wird sichtbar. Daß unsere Politiker selbst dafür Videoaufzeichnungen und ihre Berater zur Interpretation bräuchten, liefert nicht nur Stoff für Spott und weitere Witze.

Einen ausgewachsenen Individualisten bringt dieser Umstand unverschuldet in eine Notsituation: Sein Wunsch nach gezieltem Eingreifen bricht zusammen angesichts solcher low-profile-Politiker, die außer ihrer Zugehörigkeit zu einem der Lager sowie zwei, drei von Karikaturisten längst überstrapazierten Eigenschaften rein gar nichts zu bieten haben. Er weiß, daß ihn diese dreisten Darstellungen einer Politik, die vor allem aus Nichthandeln, Fehlentscheidungen und Desinformation besteht, im blow up-Verfahren der Massenmedien auch dann erreichen werden, wenn er seine Abstinenz auf die Spitze treibt. Sei es Überdruß, Wut, Abenteuerlust oder sonst ein denkbares Motiv: Er träumt von einem ebenbürtigen Feind. Er will sich einen politischen Intimfeind suchen — ja, notfalls wird er sich einen persönlichen Feind unter den Politikern schaffen. Und von sorgfältiger Recherche bis zur Entwicklung eines listenreichen Konzeptes keinen Aufwand scheuen, um für maßgeschneiderte Bedrängnis zu sorgen.

Nicht nur Freundschaften wollen gepflegt werden, und mit den ersten Erfolgen wird eine intime Feindschaft erst lohnend. Gelingt es auch nicht, eine eindeutige Niederlage herbeizuführen, so ist doch der in diesen ungewohnten Kampf verwickelte Politiker zu einiger Anstrengung genötigt, um sich zu behaupten. Der Erzindividualist hat sein Forum und langsam kommt eine politische Kultur auf die Beine — weil Mitmischen ein intelligentes Vergnügen bietet.

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