FORVM, No. 460/461
Mai
1992

Polnische Reise

Erster Teil: Warschau

Serdecznie zapaszamy do hotelu Holiday Inn w Warszawal Soyez les bienvenus à l’hotel Holiday Inn de Varsovie! Welcome to Holiday Inn Warsaw! Dinner? No problema! Le 3 restaurants de luxe — Symfonia, Rotisserie and Brasserie vous invitent cordialment en vous propose une riche selection de plats. Fitness centre? Si, senior! Muy convenientemente! Guten Tag, einen sehr angenehmen Aufenthalt wünsche ich ...

Andrzej — pardon, Mr. Andrzej Szewcyk, Reception Manager, wie auf dem messingfarbenen Namensschild seiner hoteleigenen Lakaienuniform zu lesen steht, spricht viele Sprachen. Insgesamt sind’s — »exactly dwanascie, excuse me, twelve«, läßt er einen vielleicht 50jährigen, als »Mr. Dallas« apostrophierten Amerikaner wissen, der schon eine gute Viertelstunde auf seinen Schlüssel zum Hotel Safe wartet, dies aber — fasziniert von Andrzejs polyglotter Show — bereits vergessen zu haben scheint.

Wowww! Twelve Läänguages!

»Mr. Dallas« hat einen Star — was heißt einen Star? — einen echten Superstar entdeckt, und jetzt präsentiert er ihn: »Isn’t that guy great? He speaks twelve lääänguages! Can you imagine? Twelve lääänguages!«

In einem fort wiederholt er das schier Unfaßbare.

Einige der Umstehenden, die ebenfalls auf die Dienste des sprachkundigen Empfangschefs warten, fühlen sich genötigt, dem rotgesichtigen, nach Wodka riechenden »Mr. Dallas« beizupflichten: kein Zweifel, auch bei den Ostvölkern gäbe es brauchbares Menschenmaterial, anerkennt ein sehr distinguiert wirkender älterer Herr mit penibel gezogenem Scheitel, der sich im Verlauf des Gesprächs als Dr. Francke, Industriekaufmann aus Nordrhein-Westfalen, vorstellt, wenngleich, wie er aufgrund seiner »jahrzehntelangen Kenntnis der slawischen Mentalität« einschränkt, dies eher die Ausnahme denn die Regel sei.

Eine Dame aus St. Gallen, in einem schicken Kammgarn-Hahnentrittmantel, mit Slim-Food-Figur und blasiertem Gesicht, Unternehmers- oder Bankfilialleitersgattin, wie ich vermute, und ihren Ausführungen nach zum ersten Mal in einem »Oststaat«, kann sich Andrzej sogar als Saisonnier in einem eidgenössischen Beherbergungsbetrieb vorstellen.

»Denn«, sagt sie, »zu meiner Überraschung macht er auch einen verhältnismäßig reinlichen Eindruck«. Das gäbe Anlaß zur Hoffnung, daß »zumindest in Hotels à la Holiday Inn ein gewisses Maß an Hygiene« gewährleistet sei.

Ein sommersprossiger Theologiestudent aus Belfast — per Interrail zur wundertätigen Gottesmutter nach Jasna Gora unterwegs — meldet sich schließlich auch noch zu Wort. Er äußert die Überzeugung, daß der akklamierte Reception Manager nicht nur ein polnischer Intellektueller, sondern ganz gewiß auch ein überzeugter »Solidarnosc-Mann« sei.

»He looks like the young Lech Walesa«, stellt er fest, stößt aber damit auf Widerspruch. Denn Mrs. Podolski aus Toronto — ihren eigenen Worten nach aus altem masowischem Adel stammend und nach ihrer 1946 erfolgten Emigration erstmals wieder zu Besuch in der Heimat — erklärt, daß der livrierte Domestik mit den traurigen Augen eine frappante Ähnlichkeit mit Jan Matejkos »Court Jester (= Hofnarr) Stanczyk« besitze.

»Mr. Dallas« protestiert: »Ma’m, are you sure that this guy is a fool? He speaks twelve lääänguages!« Aber als er hört, daß Jan Matejko als einer der berühmtesten Maler Polens gilt, selbst in amerikanischen Kunstenzyklopädien erwähnt wird, und der von ihm gemalte Hofnarr Stanczyk kein Idiot, sondern eher eine Art »advisor« der angesehenen und in ganz Europa bekannten »Jagiellonian Kings« war, ist er wieder versöhnt. Freilich, mysteriös kommt ihm die Sache immer noch vor: denn schließlich hätten auch die amerikanischen Präsidenten Berater, meist wirkliche Narren — aber niemand würde sie »court jesters« nennen ...

Und ich? »I want to check in«, antworte ich schon ein wenig ungehalten, als mich Andrzejs redseliger PR-Manager — er heißt Bob Duffy, ist Businessman, stammt aus Pasadena near Houston, lebt aber in Dallas, hat einen neunzehn- & einen siebenjährigen Sohn, eine Frau namens Rose sowie eine Tochter aus erster Ehe, und ist nun schon seit drei Tagen in Warsaw, um einem smarten Ex-Landwirtschaftsminister gebrauchte Mähdrescher zu verkaufen ... — zum x-ten Mal fragt, ob ich denn je in meinem Leben einen »guy« gekannt hätte, der — can you imagine? — zwölf Sprachen, twelve lääänguages, spricht?

Was bleibt mir anderes übrig? »Jes«, sage ich, wahrheitsgemäß.

»Jes???« — Bob scheint ernsthaft verstimmt. Ich sei ein »liar«, sagt er, und würde eine »cock-and-bull story« erzählen ...

Aber, als wollte er mich vor weiteren Attacken in Schutz nehmen, plötzlich schüttelt Andrzej noch ein Atout aus dem Ärmel: er würde, präzisiert er jetzt zur Überraschung aller, nämlich nicht nur twääälve lääänguages sprechen (Andrzej hat Gefallen an Bobs hyperoffenem »ä« gefunden, das ihm eine Art phonetische Visitenkarte der Amerikaner zu sein scheint, weshalb er sich alle Mühe gibt, sein Vorbild noch zu übertreffen), sondern er kann encore, encore, more, more — als Draufgabe, sozusagen — auch eine ääänimal läänguage ...

Eine animal-language? Wie Tarzan, Peter Alexander oder Franz von Assisi?

Ja, lächelt Andrzej, er könne auch — Russisch!

Russisch? Das klingt verdächtig! Bob will wissen, warum?

Why? Ganz einfach! In der Schule, erläutert Andrzej, sei er gezwungen worden, Russisch zu lernen. Das sei unter den Kommunisten gang und gäbe gewesen, überall in Polen, auch in Przemysl, wo er in die Szkola — eight years in die Szkola Posztawona und dann ins Lyzeum — gegangen sei.

In Przemysl?

Andrzej hat einen neuen Fan gefunden! Przemysl — der Mittelpunkt der Welt, wie Helene Deutsch einmal schrieb — ist mein Reiseziel! Gerne hätte ich ihn jetzt über Przemysl gefragt: was vom berühmten Bahnhofsrestaurant Kohn übrig geblieben sei, ob das »Gizowski-Haus«, in dem Helene Deutsch, die Schülerin und spätere Assistentin Sigmund Freuds geboren wurde, noch stehe, oder ob nach dem Umsturz in Polen und in der Ukraine die politische Avantgarde der alten Festungsstadt erneut von der Errichtung einer unabhängigen »Republik Przemysl« träume ...

Aber »Mr. Dallas« fällt mir ins Wort: »Gosh! The communists forced you to speak their terrible lääänguage! The lääänguage of Stalin, Lenin and all the agents of KGB?«

Andrzej versteht es, Bob Duffy zu beruhigen: »Thänks to the hälp of the Holy Father, Mr. Rägan and the Bläck Madonna of Czestochowa«, doziert er, salbungsvoll, als würde er von der altehrwürdigen Barockkanzel der Franziskanerkirche in Pzemysl predigen, habe das Gute über das Böse gesiegt, Polska atme wieder den Geist der Freiheit, und kein Mensch müsse mehr Russisch sprechen. Warum auch?

»Soviet people not have money! No dollars, no marks, even zloty they not have«, führt er aus, weshalb sie jetzt — sehr zum Ärger von Polizja und Businessmäns — in Parks, in ihren verdreckten Autos oder auf Bahnhöfen schliefen und »not in a kulturny hotel like this«.

Ja, der Sozialismus ist tot, fügt er noch hinzu, finito for ever, und bekommt — einen Dollar Schmattes ...

Andrzej ist zu Tränen gerührt: »Dziekulje! Thääänks! Määänymäääny thääänks, mister ... thääänk you, thääänks, dziekulje«, stammelt er in einem fort, während er wie hypnotisiert auf den abgegriffenen Dollarschein starrt, den ihm Mr. Duffy — »You are a great hero, my boy!« — gerade verehrt hatte.

Ehrfürchtig, wie ein geweihtes, von Papst Wojtyla persönlich signiertes Devotionalienbild hält er ihn in seinen zittrigen Händen, und dann, als Mr. Duffy endlich in Richtung Fahrstuhl wankt (er ist sternhagelvoll, wie sich jetzt zeigt, und muß völlig vergessen haben, daß er ursprünglich zu seiner Save Box wollte) und es ohne jeden Zweifel feststeht, daß der Dollarschein unwiderruflich ihm, dem Reception Manager Andrzej Szewcyk aus Przemysl gehört, küßt er ihn — so inbrünstig, als wollte er Gott für ein Wunder danken.

Gott für ein Wunder danken? Ist nach dem vielgerühmten, in jedem Volksschullehrbuch zitierten Ersten Wunder an der Weichsel — als die von General Pilsudski geführten Truppen am 15. August 1920 (am Festtag der Heiligen Jungfrau Maria!) trotz widriger Umstände einen glorreichen Sieg gegen die gottlose »Rote Armee« errangen — am Ende gar noch ein zweites passiert?

Es scheint so ...

Denn Andrzej’s Dankesbezeugungen nehmen kein Ende: wie aufgeregte Gewehrsalven gellen jetzt seine »Thääänks« durch die ehrwürdige Reception Hall, nur gelegentlich von einem weniger schrillen, dafür wie »g’schamster Diener« klingenden »Dziekuje« (= Danke) unterbrochen, und jeder verbalen Kartätsche läßt er eine tiefe, mit größter Präzision ausgeführte Verbeugung folgen, einen K’ou-t’ou auf altösterreichische Art — adrett, honett und auch geziemend servil, aber irgendwie wirkt alles lächerlich, ein wenig hundsföttisch und degoutant ...

Freilich, Mr. Duffy ist längst nicht mehr in der Lage, die Huldigungen in würdiger Weise entgegen zu nehmen. Schwer wie Blei sind seine Beine, auch zunehmend eigenwillig, und dem massigen, in Schweiß gebadeten Koloß aus Texas gelingt es nur mit Mühe, sie in die richtige Richtung zu lenken.

Poor Bob! Nicht nur seine Motorik, auch seine gesamte Apperzeptionsfähigkeit ist sichtlich gestört. Einmal stolpert er über eine achtlos abgestellte Reisetasche, dann prallt er wieder mit einem Kofferträger zusammen und schließlich fällt er — unfreiwillig und ohne jede Nebenabsicht — einer in Liftnähe auf und ab trippelnden Prostituierten in die Arme.

Mr. Duffy’s Verhalten erregt Anstoß: »Yankees sollten grundsätzlich nur Coca Cola trinken«, bemerkt Dr. Francke suffisant, Mrs. Podolski verrät, daß man Wodka, polnischen Wodka nota bene, eben nicht wie Whisky trinken dürfe, und die Dame aus St. Gallen, durch das lange Warten ohnehin schon indigniert, kann nicht verstehen, warum sich manche Menschen bereits am hellichten Tag betrinken müssen.

Allein Patrick, der Theologe aus Belfast, erweist sich als Altruist. Ob er denn Hilfe brauche, fragt er besorgt, als Bob wieder einmal zu fallen droht, aber der will davon nichts wissen: »Shut up!« knurrt er nur und torkelt weiter in Richtung Fahrstuhl ...

Und Andrzej?

Das Geschehen an der Rezeption kümmert ihn nicht. Er schwebt in anderen Sphären. Mit verklärten Augen, wie verzückt steht er da, fassungslos, und starrt noch immer seinen Dollarschein an. Tränen kollern über seine blassen, eingefallenen Wangen. Sie glänzen und glitzern wie die im Diamantenkleid der wundertätigen »Schwarzen Madonna« von Tschenstochau eingenähten Perlen. Sein spitzbübisches Gesicht wirkt jetzt seltsam verwandelt. Lammfromm und gottesfürchtig sieht es plötzlich aus, und wüßte ich nicht, daß vor mir Herr Andrzej Szewcyk, Reception Manager aus Przemysl, steht, ich würde ihn glatt für einen Paulinermönch halten, der dem Heiligen Eusebius von Esztergom für eine besondere Gnade, wenn nicht gar für ein Wunder dankt ...

»God bless you, Mister Dallas!« ruft er schließlich mit bewegter Stimme durch die lärmende Entrance Hall, und — ist es Zufall oder nicht? — just in diesem Augenblick schließt sich die Lifttür hinter Mr. Duffy.

Endlich! Er ist weg!

Sofort erwacht Andrzej aus seiner Ekstase. Er lächelt, als wollte er sich bei uns allen entschuldigen, weil er uns so lange warten ließ. Er hält seinen Dollarschein gegen das Licht, erklärt, daß in Warszawa viele Dollarblüten im Umlauf seien, daß aber er, Andrzej Szewcyk, zwischen echten und gefälschten Dollars sehr genau zu unterscheiden wisse, und daher mit absoluter Sicherheit sagen könne: »This dollar is hundred percent good!« Dann läßt er den Geldschein in seinem Hosensack verschwinden.

Es war eine 100-Dollar-Note!

Hat sich der stockbesoffene Mr. Duffy geirrt? Ist er ein großzügiger Millionär? Oder hat der liebe Gott one ganz einfach in hundred verwandelt? Warum eigentlich nicht? An der Weichsel sind schon viele Wunder passiert ...

Und was sagt man dazu? Noch ein — wenngleich nicht annähernd so spektakuläres — Wunder geschieht! Andrzej, dieser Schlaumeier, findet endlich meine Zimmerreservierung in seinem sphynxischen, wie von früheren Geheimdienstleuten programmierten Computer — ich bin unter »Bush« und nicht unter »Pusch« registriert.

Aber das ist in Polen kein Nachteil mehr!

»Warum haben Sie nicht gleich gesagt, Mister ... daß Sie der Präsident von Amerika sind?« scherzt er, und spricht mich ab diesem Zeitpunkt nur mehr mit »Mister President« an.

10.000 Zloty sind der Dank!

»Zloty« — so steht’s in meinem Wörterbuch — heißt eigentlich »der Goldene«, oder »Goldstück«, und wenn auch die neuen Zlotych der Narodowy Bank Polski nur aus Papier sind, frei konvertibel sind sie seit Einführung der Marktwirtschaft allemal. Kurzum — 10.000 Zloty, sollte man meinen, sind nicht zu verachten ...

Aber weit gefehlt!

Laut Tageskurs sind 10.000 polnische »Goldstücke« nur einen einzigen Dollar wert, und selbst am schäbigsten »Russenmarkt« bekommt man dafür kein Fläschchen Kartoffelschnaps mehr, von Wodka Wyborowa oder erlesenem Jarzebiak (Eberschenschnaps) ganz zu schweigen. Ja, sogar für lumpige 0,33 l »Piwo Beck’s« werden 20.000 Zlotych — und mehr — verlangt!

Aber paradoxerweise bleibt jetzt auch eine Wiederholung der wundersamen »Banknotenverwandlung« aus: sei es, weil ich im Gegensatz zu Mr. Duffy halt doch ein Geizhals bin, und sorgsam darauf achte, nur ja keinen Zehntausender-Schein mit 100.000 oder gar 1.000.000 Zlotych zu verwechseln, oder weil der liebe Gott — noch erschöpft von der Vorstellung zuvor — gerade ein Kunstpause eingelegt hat.

Es ist schier zum Verzweifeln!

Da kann Andrzej den Geldschein drehen und wenden wie er will — es ändert sich nichts: vom Avers blickt ihm der todernste Krakauer Tragödiendichter Stanislaw Wyspianski (»Selbst wenn du mir spaltest mein Herz, nichts anderes findest du dort, als einzig diesen Schmerz«) entgegen, auf der Rückseite prangt unverrückbar ein von Bäumen verdecktes Schloß. Und auf beiden Seiten steht deutlich lesbar »Ziesiec tysiecy Zlotych«, 10.000 Zloty, geschrieben ...

Trotzdem, der Reception Manager Andrzej Szewcyk wahrt die Contenance!

»What can I do for you, Mister President?« fragt er höflich, und ohne erst lange auf Antwort zu warten, bietet er mir eine verwirrende Potpourri der verschiedensten Vergnügungen an: zunächst einmal legt er mit einen Besuch im Chopin-Geburtshaus — in »Zelazowa Wola near Sochaczew« — ans Herz, dann einen Spaziergang durch den wunderschönen Lazienkipark, wo — allerdings nur im Sommer — beim Chopin-Denkmal auch Chopin-Konzerte stattfinden würden, und ... das Chopin Museum im Ostrogski Castle hätte auch geöffnet.

Freilich, lange verstand ich nicht so recht, was er meinte, denn statt Chopin sagte er immer »Szöpin« — mit Betonung auf der ersten Silbe und einem »i« wie in »Martin«. — Ich verstand immer »Shopping«, aber Gott sei Dank klärte er mich zwischendurch auf: »Szopin, the piano-man! Polonaise! Mazurka! Not know?«, fragte er, dann erst kannte ich mich aus.

Aber ob Chopin tatsächlich das Richtige für mich sei — dessen ist sich Andrzej jetzt nicht mehr so sicher. Vorsichtshalber empfiehlt er daher auch einen Besuch der John Paul II Collection am Bankowy Square — weltweit berühmte Paintings gäb’s dort zu sehen und ein besonderes Kleinod sei das »Muzeum Wojsky Polskiego«, das Militärmuseum, von dem auch »Mr. Dallas« sehr begeistert gewesen sei.

Nun — auch das scheint eine wirkliche Empfehlung ...

Aber Andrzej läßt mir ohnehin keine Zeit für Einwände: »Warszawa now has everything«, sagt er, auch ein »original Japonska restauracja« — das »Isubame« — mit »sushi bar and super China kitchen«, weiters eine »Art Pizza«, wo jeden Abend Konzerte & Ausstellungen stattffänden und wo man auch aus Frankreich importierte Schnecken essen könne, und wenn, ja wenn ich einmal »like a real king« ausgehen wolle — mit »business friends« oder einem »beautiful Polish girl« etwa — dann müßte ich ihm das nur rechtzeitig sagen, und er würde mir einen Tisch im »Business Club« — Smocza Street 27 — bestellen.

Das sei zwar nicht leicht, deutet er an, weil dort die halbe Regierung verkehre, aber er, Andrzej, habe Beziehungen und darauf käme es in Polen jetzt an.

Apropos Girls!

Grundsätzlich seien Girls kein Problem, weiß Andrzej — jetzt mit merklich gedämpfter Stimme sprechend — aber man müsse vorsichtig sein: Night Clubs und Striptease gäb’s in fast jedem Hotel, im Marriot ebenso wie im Victoria Intercontinental oder im Europejski, doch Leistung und Preis stimmten nur selten überein. Einem Amerikaner, er wohne hier im Holiday Inn, einem businessman aus Texas sei vor zwei Tagen beispielsweise folgendes passiert: im »Europejski« hätten zwei blonde Girls auf seine Kosten 5 Flaschen teuersten »Wino Musujace« (= Sekt) und dazu noch etliche Gläschen Likör getrunken. Dann, um vier Uhr Früh, seien sie zwar wie vereinbart mit aufs Zimmer gegangen, aber — statt „making love« hätten sie ihm Uhr und Brieftasche gestohlen.

»Thääänks to God« — Andrzej spricht plötzlich wieder das hyperoffene »e« von vorhin — habe er Dollars, Checks und Credit Cards in seiner Safe Box deponiert gehabt, sonst stünde er jetzt wie ein Bettler da. Gewiß, auch die 200.000 Zlotych, die er in der Brieftasche gehabt hätte, seien ein Verlust, aber polnisches Geld sei ohnehin nichts mehr wert.

Andrzej seufzt!

Wie zufällig entdeckt er plötzlich den zerknüllten Wyspianski in seiner Hand. Achtlos steckt er ihn ein und in mir wächst das Gefühl, einen unverzeihlichen faux pas begangen zu haben ...

Soll ich dem Herrn Reception Manager nicht doch einen Moniuszko — Stanislaw Moniuszko, Komponist und Schöpfer der polnischen Nationaloper »Halka«, ziert die imposanten 100.000-Zlotych-Scheine — verehren?

Verschämt beginne ich in meinen Rocktaschen zu kramen, aber Andrzej scheint meine Verlegenheit zu ignorieren. Denn er setzt — nun noch um eine Spur leiser — seine Ausführungen über Girls: »You must know ... Mister President ... Polish girls are not like the girls in the other countries — not in the Night Clubs!« belehrt er mich: »You understand?«

»No!« gebe ich freimütig zu.

»You are first time in Poland?« fragt er jetzt.

»Yes!« antwortete ich unschuldig.

Andrzej lächelt zufrieden. Er scheint meine Antwort erwartet zu haben. In mir keimt ein schrecklicher Verdacht! Hat mich Andrzej, dieses gottverdammte Schlitzohr, nur deshalb eine geschlagene Stunde lang vor seiner Recepcja dunsten lassen, um mir jetzt — ungestört und unter Ausschluß der Öffentlichkeit sozusagen — seine schmierigen Dienste offerieren zu können?

Gott sei Dank! Der Muniuszko, den ich leichtsinnigerweise schon zu opfern bereit war, ist noch in meiner Hand! Sofort stecke ich ihn wieder ein, und ehrlich gesagt — am liebsten hätte ich sogar meinen Wyspianski zurückverlangt ...

Aber Andrzej kommt erst so richtig in Fahrt: »Polska is different!« warnt er, und daher seien auch die Girls in den Night Clubs mit Vorsicht zu genießen.

Welcher Ausländer würde schon wissen, beklagt er seufzend, daß bis vor kurzem 99,9 Prozent dieser Schönen überzeugte Mitglieder der PVAP (»Vereinigte Polnische Arbeiterpartei«) gewesen seien und für Innenministerium, ZOMO (Sicherheitsdienst) oder ORMO (KP-Miliz) gearbeitet hätten. Und viele, beteuert er, hätten auch mit dem KGB kollaboriert.

Gewiß, manche sähen sehr sexy aus, räumt er ein, insbesonders seit sie Make-up, Unterhosen und BHs aus dem Westen hätten, aber, seufzt er, in Wahrheit seien viele krank, und leider sei auch Aids keine Seltenheit mehr.

Selbst Kardinal Glemp habe diese Girls bereits als Gefahr für die Volksgesundheit bezeichnet und Präsident Lech Walesa habe von der Regierung Sofortmaßnahmen verlangt.

Ja, resumiert Andrzej, eigentlich müsse der arme Businessman aus Amerika dem lieben Gott sogar dankbar sein, daß es die zwei diebischen Elstern aus dem Night Club im Europejski nur auf seine Brieftasche abgesehen gehabt hätten ...

Freilich, spendet Andrzej jetzt Trost, es gäbe auch andere, völlig ungefährliche Mädchen: Olga oder Alina vom Limousine Service zum Beispiel!

Beide wären Studentinnen, würden fließend Englisch, auch ein wenig Deutsch sprechen, und am besten, sagt er, könnten sie Französisch.

Wahre Perlen!

Olga sei rothaarig, Alina blond, und ginge es nach ihrem Aussehen, müßten beide Filmstars sein. Und beide, versichert er, seien auch »100% anti-Communist!«

Ich bin perplex!

Hat der gottesfürchtige Andrzej aus Przemysl zwei Pferdchen laufen? Ich provoziere ihn: »Und Aids? Aids haben die zwei Hübschen nicht?« frage ich.

Andrzej scheint tief beleidigt: nein, das seien keine Night Club Girls, läßt er mich wissen, sondern Angestellte einer seriösen, privaten Tourist Agency! »You must know, Mister President«, erklärt er, »it is up to the client, where to go!« Ich könne zum Kampinowskiego Parku Narodowego, 12 km außerhalb Warschaus fahren und dort das Haus von Henryk Sienkiewicz besichtigen, die Black Madonna in Czestochowa besuchen oder hier in Warschau bleiben, die Mädchen hätten — »officially« — nur die Aufgabe, mir alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen, die ich sehen wollte, zu dolmetschen und meinen Aufenthalt in Polen so angenehm wie möglich zu gestalten.

Sie seien, stellt er klar — »tourist guides and nothing else!«

Aber — und jetzt lächelt er wieder — natürlich könne die Dyrekcja der Agency keinem der Mädchen verbieten, sich auch einmal zu verlieben ...

Andrzej Szewcyk aus Przemysl, geboren am 15. August 1955, am Festtag der »Krulowa Polska« (der »Königin Polens«, wie die Heilige Jungfrau Maria seit 1. April 1656 offiziell genannt wird) — genau 35 Jahre nach General Pilsudski’s mirakulösem Sieg gegen die Rote Armee — lebt seit zwei Jahren in Warschau und seit zwei Jahren ist er auch in der Hotelbranche tätig.

Zuvor war er Lehrer — in Nova Huta, Przasnysz, Pruszkow und Ruszki, und weil es von Vorteil war, trat er auch der Gewerkschaftsjugend bei.

Seine Eltern sind beide tot, sie kamen vor zweieinhalb Jahren bei einem Verkehrsunfall um. Jozef Szewcyk — sein Vater — diente im 2. Weltkrieg in der »Armia Krajowa« (Heimatarmee), in der von der Londoner Exilregierung befehligten Untergrundarmee, die gegen die deutsche wie auch gegen die sowjetische Besatzungsmacht kämpfte.

Er bekleidet den Rang eines Hauptmanns. Nach dem Krieg half ihm das wenig — im Gegenteil: nach dem Sieg der Kommunisten bei den Wahlen im Jahre 1947 konnte er von Glück reden, nicht in die Sowjetunion deportiert zu werden. Er mußte froh sein, eine Anstellung zu finden — zuerst als Hilfsarbeiter in einer Fabrik und dann als Lehrer in einem Dorf bei Przemysl.

Vor dem Krieg war er Hochschulassistent am Institut für Polnische Geschichte in Lublin.

Auch Andrzej’s Mutter war während des Krieges in der Widerstandsbewegung aktiv, allerdings nicht in der bürgerlich-nationalen AK, sondern in der AL, der »Armia Ludowy«, der kommunistischen, erst nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gegründeten »Volksarmee«.

Sie entstammte einer Ärztefamilie in Lublin, wo sie sich nach der Befreiung der Stadt von den Deutschen und nach der — im Juli 1944 erfolgten — Konstituierung der ersten polnischen Nachkriegsregierung (»Lubliner Komitee«) in der kommunistischen Frauenorganisation engagierte und eine einflußreiche Position in der städtischen Sozial- und Gesundheitsverwaltung erhielt.

Ende der 40er Jahre (ungefähr zu der Zeit, als die stalinistische »Moskau-Fraktion« rund um KP-Chef Boleslaw Bierut den damaligen Generalsekretär der Partei, Wladyslaw Gomulka, wegen »ideologischen Abweichlertums« zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilen ließ) wurde auch Andrzej’s Mutter aus der »Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei« ausgeschlossen und sämtlicher Ämter enthoben.

Der Grund: ihre Heirat mit dem ehemaligen AK-Offizier Jozef Szewcyk, der als »Klassenfeind« galt.

Später erfuhr Frau Szewcyk allerdings eine Art »Rehabilitierung«: sie bekam eine Stelle als Kindergärtnerin in Przemysl. Ihre »Reintegration in die sozialistische Gesellschaft« erfolgte in jener Phase der »Liberalisierung«, als nach dem blutigen Aufruhr in Posen (offiziell 48 Tote und über 300 Verletzte) der bei den Massen populäre Nationalkommunist Gomulka wieder enthaftet und zum neuen Parteichef gekürt wurde und Nikita Chruschtschow am XX. Parteitag der KPdSU den »Machtmißbrauch« Stalins anprangerte.

Andrzej war damals zwei Jahre alt ...

Später, bei seinem Eintritt ins »Lizeum« war der Name Szewcyk bei Gott keine Empfehlung! Andrzej wurde gefragt, ob seine Mutter ident mit jener Teresa Szewcyk, geborene Kowalski sei, die nach dem Krieg eine zeitlang Mitglied der Stadtverwaltung in Lublin gewesen sei, wegen »Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung« aber abgesetzt habe werden müssen, ob es denn stimme, daß sein Vater Kontakte zu »illegalen faschistischen Organisationen im Ausland«, im Konkreten zu emigrierten ehemaligen AK-Kameraden unterhalte, und natürlich wollte man wissen, was seine Eltern über die politische Lage dächten.

Aber Andrzej war immer schon clever!

Linientreu, als hätte er die Leitartikel der Parteizeitung auswendig gelernt, pflegte er dann zu antworten: seine Mutter hätte ihre Fehler bereut und sei jetzt glücklich, gerade in einem Kindergarten beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung mitwirken zu können, sagte er beispielsweise, sein Vater habe längst erkannt, daß die seinerzeitige Sikorski-Clique (General Sikorski war Oberbefehlshaber der von London befehligten »Armia Krajowa«) den Idealismus vieler polnischer Patrioten mißbraucht hätte oder seine Eltern hätten ihm gesagt, daß der US-Imperialismus den Weltfrieden gefährde.

Andrzej war ein braver Junge! Er wußte in »Marxismus und Gesellschaftslehre« zu brillieren, er protestierte und demonstrierte nicht. Er war weder 1968 auf der Staße, als die Jugend unter dem Motto: »Polen wartet auf seinen Dubcek« für einen besseren Sozialismus kämpfte und dafür mit brutaler Gewalt niedergeknüppelt wurde, noch 1970, als im ganzen Land erneut Unruhen ausbrachen und der zur Unperson gewordene Gomulka, der zuvor noch ein »internationales Komplott von Zionisten und Revisionisten« für sein Scheitern verantwortlich zu machen versucht hatte, durch den »liberalen Wirtschaftstechnokraten« aus Kattowitz, Edward Gierek, abgelöst wurde.

Und als 1980 die neue Gewerkschaftsbewegung »Solidarnosc« wie ein Wirbelwind über die verkrustete »Volksdemokratie« hinwegfegte und auch Gierek wieder das Handtuch werfen mußte, hielt sich Andrzej, mittlerweile bereits im Schuldienst, abermals fern. Zehn Millionen Mitglieder (fast ein Drittel der Bevölkerung!) zählte 1981, ein paar Wochen vor Ausrufung des Kriegsrechts durch General Wojech Jaruzelski, die Bewegung, nur der Herr Reception Manager — er unterrichtete damals noch Mathematik und Physik an einer technischen Fachschule Nova Huta — war nicht dabei.

Freilich, als Walesa dann endgültig an die Macht kam und auch die Kirche — vor allem in den Schulen — zunehmend an Einfluß gewann, galt Andrzej plötzlich als Anhänger des alten Systems. Er sei ein in der Wolle gefärbter Roter, wußte nun ein Kollege von der katholischen Lehrervereinigung zu berichten, und der neue Schuldirektor legte ihm nahe, freiwillig den Lehrberuf zu quittieren.

Aber ist das nicht alles Schnee von gestern?

Andrzej ist heilfroh, nicht mehr Lehrer zu sein. Denn jetzt — als Reception Manager im Holiday Inn — zählt er im neuen Polen zu den Privilegierten: 2.000.000 Zlotych beträgt sein monatliches Fixgehalt, mindestens eine Million bekommt er pro Woche an Trinkgeld und — bei »Limousine Services« ist er mit 25 Prozent an jedem von ihm vermittelten Auftrag beteiligt. Kurzum, er kommt auf zehn, zwölf Millionen im Monat, manchmal sogar auf mehr — während ein Lehrer in seinem Alter bestenfalls drei verdient ...

Freilich, die gebratenen Tauben fliegen nicht vom Dach!

Wer in der »freien Marktwirtschaft« reussieren will, der muß tüchtig sein!

Tüchtig wie Andrzej!

Zehn, zwölf und oft auch mehr Stunden steht er Tag für Tag hinter dem Schalter seiner »Recepcja«, Samstag, Sonntag und an Feiertagen, und Urlaub gibt’s praktisch nicht! Denn die Konkurrenz ist groß am Arbeitsmarkt und das Heer der Arbeitslosen nimmt täglich zu.

Andrzej fühlt sich seit Wochen krank. Er hüstelt ständig und beim Atmen sticht es ihn so merkwürdig im Rücken. Er sollte zum Arzt, aber krank sein — welcher Reception Manager kann sich das leisten?

Business hat Vorrang!

Und Mr. Andrzej ist jetzt Businessman — einer der besten weit und breit!

»What can I do for you?« will er von jedem Gast wissen und der Tonfall seiner Frage verrät, daß er sie nicht nur aus Höflichkeit stellt.

Es muß ja nicht immer ein Girl oder — um Andrzej korrekt zu zitieren — ein reputierlicher Ausflug mit Olga oder Alina von »Limousine Services« sein. Nein, Andrzej ist in allen Sparten daheim: ob ein Farbposter von Papst Wojtyla, handsigniert oder nicht, eine Walesa-Büste, aus Gips oder erlesenem Marmor, oder — die Gusti dieser Touristen sind äußerst verschieden — ein grimmiger, in Bronze gegossener Stalin-Schädel: über Andrzej ist alles erhältlich. Auch das »Kapital«, in Leder gebunden und mit Gorbatschow-Widmung, ein Tapferkeitsorden von der Roten Armee oder eine Sonnenbrille à la General Jaruselski.

Er weiß die Adressen privater Poker Bars, kann ein Appointment im Central Stockbroker Bureau — 6/12 Novy Swiat Street — vermitteln, und will jemand einen Termin im Ministry of Finance — Andrzej kann ihm sagen, an wen er sich wenden müsse ...

Andrzej steht auch mit preiswerten Antique Shops in Geschäftsverbindung, mit Malern und Kunstgalerien, treibt Karten für jedes Chopinkonzert auf, und ängstlichen Gästen empfiehlt er »Sparta« — eine neue Security Agency, die »temporary and permanent protection anywhere within Poland« garantiert.

Ja, erstmals seit 1795, als Stanislaw August Poniatowski, Polens letzter »Wahlkönig«, von Rußland, Preußen und Österreich zur Abdankung gezwungen wurde, hält in Warschau wieder ein König Hof — Seine Exzellenz, König Zeitgeist! Und Andrzej Szewcyk aus Przemysl ist sein beflissenster Assistent ...

Dabei hatten die Polen mit ihren Königen seit jeher ein G’frett! Der Jammer begann anno 965, als der Polanenherzog Mieszko, ein an sich tüchtiger Bursche, der die slawischen Stämme gegen die landgierigen Deutschen geeint hatte, die böhmische Prinzessin Dabrowka kennenlernte.

Er wurde ihr sexuell hörig und heiratete sie.

Aber die verführerische Blondine mit dem einschmeichelnden Namen — »Dabrowka« heißt »die Gute« auf Deutsch — war eine Top-Agentin des vatikanischen Intelligence Service und ihr Auftrag lautete, den mächtig gewordenen Hinterwäldler zu missionieren.

Eiskalt und mit großem Raffinement führte sie ihre Order aus. Ihr Führungsoffizier, der in Merseburg stationierte Bischof Thietmar, konnte bereits ein Jahr nach der Hochzeitsnacht eine Erfolgsmeldung (sie wurde später in seiner berühmten »Chronik« publiziert) nach Rom depeschieren: »Mieszko spie das Gift des angeborenen Unglaubens aus und reinigte sich in der heiligen Taufe von der Erbsünde.«

Nach dem erfolgreich verlaufenen Exorzismus schickte Papst Johannes XV bestens geschulte, in Dabrowskas Heimat rekrutierte Spezialeinheiten ins Land. In Windeseile katholisierten sie Mieszko’s Untertanen, brannten wie Barbaren ihre Tempel und Kult(ur)stätten nieder und errichteten an ihrer Stelle — natürlich katholische — Kirchen und Klöster.

Manus manum lavat! Denn kaum war Mieszko bekehrt, verbreiteten vatikanische Agitprop-Leute in ganz Polen das Gerücht, der gefügige Polanenchef sei ein Urururenkel das sagenhaften Bauern Piast.

Das war eine Königsidee!

Piast stand nämlich im Ruf, Stammvater eines künftigen Herrscherhauses zu sein. Zwei Fremde — Kyrill und Method, wird notorisch behauptet — hätten ihm das vor vielen, vielen Jahren prophezeit. »Gottes Gnade ruht über deinem Stamm«, sollen die zwei Schwadroneure mit zum Himmel erhobenen Armen erklärt haben, und — »einer der Deinen ist auserwählt, dereinst über allen anderen zu stehen, und Jahrhunderte hindurch werden die Piasten regieren!«

Tatsächlich war seitens des Vatikan geplant, bereits Mieszko zum ersten polnischen König zu ernennen. Er brachte alle Voraussetzungen mit: er war ein fanatischer Katholik, ein sogenannter Piast, und willens, gegen die Pruzzen (= Preußen) zu kämpfen, die nicht und nicht ans orientalische Jesukind glauben wollten. Aber Kaiser Otto aus Deutschland — selbst auf Polen erpicht — war zunächst noch dagegen, und mit der führenden Militärmacht Europas wollte es sich auch der Stellvertreter Gottes nicht verscherzen.

Erst am Ostersonntag 1025 war es soweit: Boleslaw, Mieszkos Sohn, von Lokalpatrioten auch »Chrobry« (= der Tapfere) genannt, wurde in der ehrwürdigen Kathedrale von Gniezno, wo ein paar Jahre vorher am Grab des Heiligen Adalbert das erste Wunder auf polnischem Territorium stattgefunden hatte, mit großem Pomp zu Polens erstem König gekrönt.

Freilich, kaum war er ein gekrönter König — starb er ...

Es folgten weitere Piasten: Mieszko II., Boleslaws Sohn, erwies sich leider als Flasche. Was Vater & Großvater in jahrzehntelangen Kriegen zusammenerobert hatten, verluderte er binnen kürzester Zeit, und sein Sohn, Kazimierz der Erneuerer, hatte alle Hände voll zu tun, um das ramponierte Königreich wieder einigermaßen ins Lot zu bringen.

Unter Boleslaw dem Kühnen, der 1058 ans Ruder kam, schien es eine Zeit lang bergauf zu gehen. Er verlegte die Hauptstadt vom bigotten Gniezno nach Krakau und versuchte, den Einfluß der Kirche, die im Lauf der Jahrzehnte immer dreister geworden war, auf ein erträgliches Maß zu stutzen.

Eigenhändig brachte er den Krakauer Bischof Stanislaw Szczepanowski um, aber der Befreiungsversuch hatte fatale Folgen: der tapfere Boleslaw wurde von teuflischen Gewissensbissen geplagt, ließ das Königreich Königreich sein und verdrückte sich als Büßer ins Ausland, während der Papst seinen erschlagenen Statthalter kanonisierte.

Und — als ob ein Nationalheiliger nicht genug gewesen wäre, bekam Polen noch einen zweiten ...

Schließlich kam noch ein Boleslaw auf den Thron. Er wurde »Krzywousdy« — der »Schiefmäulige« — genannt, was schließen läßt, daß er bereits von schweren Degenerationserscheinungen gezeichnet war.

Militärisch gesehen war er zwar der mit Abstand tüchtigste Piastenkönig, er schlug die Deutschen am »Psie Pole« (= Hundsfeld) bei Wroclaw, baute Grenzfestungen entlang der Oder und bekehrte — zur Freude des Heiligen Stuhls — das heidnische, allen gütlichen Missionierungsversuchen unzugängliche Pommern. Doch von Kinderpsychologie verstand er nichts: statt nach altem Brauch den ältesten Sohn mit der Nachfolge zu betrauen, teilte Krzywousdy sein Königreich unter allen fünf Söhnen auf, was — wie sich alsbald herausstellte — blanker Schwachsinn war.

Denn kaum lag der Alte in der Gruft, begannen sich seine fünf, zu Herzögen avançierten Sprößlinge untereinander zu befehden. Keiner scherte sich um den anderen, selbst gegen die Deutschen oder die Tartaren hielten sie nicht zusammen, und Konrad, Herzog von Mazowsze und mit Abstand der Dümmste von allen, rief schließlich gar die Deutschen Ordensritter ins Land.

Diese halfen ihm zwar bei der Katholisierung der Pruzzen und rotteten sie sicherheitshalber auch aus, aber einmal im Land, wollten sie bleiben. Sie gründeten einen vom Vatikan anerkannten Mitlitärstaat, erkoren Gdansk zu ihrer Hauptstadt und terrorisierten Jahrhunderte hindurch Litauen und Polen.

Erst im 15. Jahrhundert — am 15. Juli 1410 — gelang es Wladyslaw Jagiello, sie bei Tannenberg zu besiegen ...

Allmählich dämmerte auch den Nachfahren des »Schiefmäuligen«, daß die Aufteilung des Reiches in kleine Herzogtümer nicht gerade ein Geniestreich war.

Wladyslaw, der zwergenhafte Herzog von Kujawien (von Historikern despektierlich »der Kurze« genannt) ließ sich daher im Krakauer Wawel wieder zum König krönen, und sein Sohn — er ging als Kazimierz der Große in die Geschichte ein — bemühte sich redlich, das Image der verlotterten Dynastie zu retten. Er schlug sich mit den Deutschen Rittern, eroberte Lwow (Lemberg) und hatte auch ein Herz für die Bauindustrie, aber — letztlich entpuppte sich gerade der große Kazimierz als Versager: in den 37 Jahren (1333-1370), die er regierte, vermochte er kein einziges Kind zu zeugen.

Kazimierz war impotent!

Sein Erbe trat daher ein Neffe, Ludwig von Anjou, seines Zeichens König von Ungarn an. Aber — mit Verlaub gesagt — auch mit Ludwigs Zeugungskraft war’s nicht weit her. Trotz hochkarätiger Fürbitter (in Esztergom ließ der Erzbischof sogar hl. Messen lesen) wollte und wollte ihm kein Thronfolger gelingen, und Töchterchen Jadwiga blieb die einzige Ausbeute der königlichen Vermehrungsversuche.

Das arme Ding!

Die mitgiftträchtige Promi-Tochter aus der älteren Linie Anjou-Neapel wurde bereits als Säugling zu einem Spekulationsobjekt des Hochadels in ganz Europa und auch dem Heiligen Vater in Rom blieb die Existenz der jungen Katholikin nicht verborgen.

Zunächst schien es, als würde ein junger Prinz aus Österreich das große Los ziehen, denn er wurde — obwohl selbst noch in den Windelhosen — mit Jadwiga verlobt ...

Aber es sollte alles ganz anders kommen: anno 1382 segnete Vater Ludwig völlig unerwartet das Zeitliche und die 8jährige Jadwiga wurde zum König — nicht zur Königin! — Polens ausgerufen, zwei Jahre später wurde sie vom Herrn Erzbischof auch feierlich gekrönt. Ihr Verlobter, der österreichische Prinz, hatte jetzt ausgeschissen.

Denn Rom hatte in Osteuropa anderes vor!

Die kränkliche Jadwiga wurde dem Großfürsten von Litauen — einem gewissen Jagiello — zur Frau versprochen, der zu dieser Zeit ein mächtiger Mann, nicht nur im Baltikum, sondern auch in einem Teil der heutigen GUS-Staaten war und Millionen — heidnischer — Untertanen besaß.

Natürlich bekam Jagiello die kleine Königin nicht gratis: er mußte sich vertraglich verpflichten, sich und seine Völker umgehend karholisieren zu lassen.

Anno 1386 war es soweit: Jagiello wurde von einem päpstlichen Emissär vorschriftsgemäß der heiligen Taufe unterzogen, erhielt postwendend die mittlerweile 12jährige Jadwiga zur Frau, und das Königreich Polen wurde mit dem Großfürstentum Litauen zu einer neuen katholischen Supermacht vereint.

Für das zarte Mädchen dürfte die Verbindung mit dem bulligen, gut zwanzig Jahre älteren Baltenhäuptling zwar auf Dauer ein wenig zu anstrengend gewesen sein — der Tod raffte Jadwiga schon in jungen Jahren hinweg — aber dafür wurde sie stets wie eine Heilige verehrt und Papst Wojtyla sprach sie 1983 selig ...

Ansonsten schien unter den »Jagiellonen« vorerst alles in Butter: König Wladyslaw Jagiello lehrte erstmals die Deutschen Ritter bei Tannenberg Mores, Kazimierz Jagiello, der fast ein halbes Jahrhundert lang regierte, jagte ihnen wieder Gdansk und Pommern ab, und Zygmunt der Alte verdonnerte den Großmeister des auch heute noch existierenden Ordens (prominentestes Mitglied ist Deutschlands Bundeskanzler Kohl) nicht nur zu geschmalzenen Reparationszahlungen, sondern ließ aus deutschen Beutekanonen auch die prunkvolle »Zygmunt-Glocke« gießen — sie bimmelt noch immer im Krakauer Wawel ...

In Polen, hieß es, sei das »Goldene Zeitalter« angebrochen.

Handel und Wirtschaft florierten, der in Nürnberg stiefmütterlich behandelte Wit Stowsz (Veit Stoß) durfte in der königlichen Residenzstadt seine berühmten Altäre schnitzen, aus Italien wurden Renaissance-Architekten importiert und ein Pole namens Kopernik, Astronom, Arzt und Kirchenrechtler, schuf an der international renommierten »Jagiellonen-Universität« in Krakau die Grundlagen für sein »kopernikanisches Weltbild«.

Auch Polens »Schlachta« (Adel) durfte zufrieden sein: unter König Jan Olbrecht wurde 1493 der »Sejm«, das in Lublin und später in Warschau tagende »Adelsparlament« zum obersten gesetzgebenden Organ des Landes.

Aber das Glück währte nicht lange!

König Zygmunt August, der 1548 in den Wawel eingezogen war, versagte bei der Erfüllung seiner wichtigsten Herrscherpflicht ebenso kläglich wie sein berühmter Berufskollege Kazimierz der Große aus dem Geschlecht der Piasten: trotz vermutlich verzweifelten Bemühens gelang es ihm nicht, einen Erben zu zeugen.

Die Folgen waren fatal ...

Denn nach dem unrühmlichen Ende der Jagellonen-Dynastie gebar der Sejm seine bislang größte Schnapsidee: die Einführung des »Wahlkönigtums«.

Das skurrile, unmittelbar nach Zygmunt Augusts Tod verabschiedete Gesetz sah vor, daß sich auch ausländische Potentaten um den Job eines polnischen Königs bewerben konnten, was fremde Mächte förmlich einlud, sich in die inneren Angelegenheiten des Staates einzumischen.

Auch die Kirche kam nicht zu kurz: denn in der Zeit zwischen dem Ableben eines Königs und der Wahl des nächsten regierte fortab ein »interrex« — und hiefür, so wollte es die neue Verfassung, kam nur der ehrwürdige Herr Erzbischof aus Gniezno in Frage.

Bereits die erste Wahl erwies sich als Flop. Henri de Valois, der Bruder des französischen Königs, der nach einjähriger Regierungszeit des »interrex« im Krakauer Wawel feierlich zum neuen Staatsoberhaupt gekürt worden war, schmiß bereits nach wenigen Monaten Zepter und Krone wieder hin.

Warum? Nun, es war purer Zufall! Sein Bruder war überraschend gestorben, auch Frankreichs Krone bot sich plötzlich an, und da nahm er — wer will es ihm verübeln — halt lieber sie.

Au revoir, Cracovie!

Oder hätte der arme Henri de Valois, der kein Wort Polnisch verstand, sein ganzes Leben im galizischen Krakau statt im geliebten Paris verbringen sollen?

Aber verglichen mit den meisten seiner Nachfolger war der fahnenflüchtige Henri noch fast ein Glückstreffer ...

Die aus Schweden importierten Könige beispielsweise — Zymunt III. Wasa und seine beiden Söhne Wladislaw und Jan Kazimierz — erwiesen sich als weitaus schlechtere Wahl.

Im Gegensatz zu ihren königlichen Verwandten in Stockholm, die den lutheranischen Unglauben angenommen hatten, waren sie stets aufrechte Streiter für päpstliche Anliegen geblieben und kämpften verbissen gegen alle Irrlehren, die von allen Seiten das Abendland bedrohten.

Aber es war gerade ihr Glaubenseifer, der Polen ins Unglück stürzte. Pausenlos führten sie irgendwelche Kriege: einmal gegen die muslimischen Türken, dann wieder gegen die bösen Moskowiter, die ja auch nicht römisch-katholisch waren, oder — auch dafür spendete ihnen der ehrwürdige Herr Erzbischof seinen Segen — gegen die widerspenstigen Kosaken, die ihnen im Kampf gegen die Ungläubigen nicht beistehen wollten.

Als sie sich auch noch mit ihren protestantischen Landsleuten anlegten, war die Katastrophe perfekt: humorlos, wie Schweden nun einmal sein können, marschierten sie in Polen ein und eroberten binnen weniger Monate das ganze Land.

Hätte die »Schwarze Madonna« von Tschenstochau — auf Fürbitte des gesamten Episkopats — nicht in letzter Minute ein Wunder bewirkt und die Schweden wieder zum Abzug bewogen, Polen wäre schon damals verloren gewesen.

Freilich, das Erbe, das die drei frommen Wahlkönige hinterließen, war trotz des Mirakels schrecklich genug: das Land war verwüstet, die Bevölkerung um die Hälfte dezimiert, Ostpreußen, die »Dzikie Pola« (Siedlungsgebiete der Kosaken), die Ukraine samt Kiew und Livland gingen verloren und der verzweifelte Jan Kazimierz sah sich gezwungen, die heilige, aber politsch unerfahrene Jungfrau Maria offiziell zur »Krolowa Polska« (= Königin Polens) zu ernennen.

Aber es kam noch schlimmer!

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gelangte August der Starke, ein übel beleumundeter Playboy aus Sachsen, auf den polnischen Thron. Amtlichen Darstellungen zufolge verdankte er seine Wahl dem Umstand, daß er rechtzeitig — ein paar Monate vor der entscheidenden Abstimmung — reumütig in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehrte, aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Denn tatsächlich hatte er den ehrenwerten Sejm bestochen und Zeitzeugen berichten, daß bereits lange vor der Abstimmung aus der kurfürstlichen Staatskasse in Dresden Unsummen an Schmiergeldern in die Portefeuilles des polnischen Hochadels flossen.

Warum der 27jährige Bonvivant, dessen Leidenschaft sonst eher seinen zahlreichen Mätressen — der schönen Aurora von Königsmarck oder der Bauchtänzerin Fatime —-, denn aufreibenden Staatsgeschäften galt, unbedingt die polnische Krone wollte?

Ganz einfach!

In Polen gab’s viele Soldaten! August der Starke brauchte sie: als Kanonenfutter für einen Krieg mit Karl XII. von Schweden.

Der Krieg dauerte dann fast dreißig Jahre und endete mit der neuerlichen Zerstörung des Landes. Jahrhundertelang litt Polen an den Folgen.

Nein, auch die Wahlkönige aus Deutschland — nach August dem Starken wurde mit russischer Unterstützung sein Sohn August II. auf den Thron gehievt — brachten Polen kein Glück ...

Freilich, die vier heimischen Regenten waren nicht besser. Michal Korybut Wisniowiecki, der nach dem Fiasko mit den drei bigotten Schweden Zepter und Krone erhalten hatte, wird selbst von Monarchisten als Fehlgriff bezeichnet. Er war nur vier Jahre an der Macht, aber um ein Haar hätte er sogar die staatliche Unabhängigkeit verspielt.

Daß er bald wieder starb, gilt als sein größtes Verdienst.

Auch sein Nachfolger Jan Sobieski, der berühmte »Verteidiger der Christenheit«, machte das Kraut nicht fett. Gewiß, er profilierte sich als Türkenschreck und rettete (von Papst Innozenz XI. flehentlich darum gebeten) 1683 Kaiser Leopold von Österreich aus dem Schlamassel, doch Hand aufs Herz, was hatten die armen Polen davon?

König Stanislaw Leszczynski — ein Protegé des Schwedenkönigs Karl XII. — war nicht nur ein innen-, sondern auch ein außenpolitischer Dilettant. Er war gegen den erklärten Willen des preußischen Königs und dessen Verbündeten, des Zaren von Rußland, gewählt worden. Aber das ließen sich die zwei Supermächte nicht gefallen: bei der erstbesten Gelegenheit (nach der vernichtenden Niederlage seines schwedischen Gönners in der Schlacht bei Poltawa) erklärten sie ihn für abgesetzt und wiesen den Reichsrat an, einen anderen, genehmeren »Krol« zu wählen.

Do widzenia!

Leszczynski floh nach Paris, wo er ein kümmerliches Dasein als »Parallelkönig« fristete.

Wesentlich schlauer als der Unglücksrabe Leszczynski stellte sich der schöne Graf Stanislaw August Poniatowski an, der sich 1764 — nach dem Tod von August III. — um den wohldotierten Posten eines polnischen Königs bewarb.

Er hatte im Sejm zwar mehr Feinde als Freunde, machte aber dieses Handicap durch ganz andere Fähigkeiten wett: er war ein mit allen Wassern gewaschener Diplomat — und ein höchst erfolgreicher Charmeur. In St. Petersburg, wo er jahrelang als Botschafter der Kurfürstentums Sachsen akkreditiert war, lieferte er sein Meisterstück: er eroberte das Herz der mächtigen Zarin Katharina II. und avançierte zu ihrem Liebhaber.

Damit war das Rennen um die polnische Königswürde gelaufen. Widerreden duldete die strenge Zarın von ihrem Liebhaber freilich nicht. »König« Stanislaw August Poniatowski mußte stets nach der russischen Pfeife tanzen. Als er — anno 1795 — einmal aufbegehrte, wurde er kurzerhand abgesetzt. Drei Deutsche — Zarin Katharina II. (eine Tochter des Fürsten Christian August von Anhalt-Zerbst), der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. und Kaiser Franz II. von Österreich (drei deutsche Herrscher, so nebenbei) — teilten das »herrenlos« gewordene Königreich untereinander auf.

Und Polen gab’s nicht mehr — 123 Jahre lang ...

Auch nach 1918 nahmen die Turbulenzen kein Ende. Ignacy Paderewski, Klaviervirtuose von Weltruf, konnte US-Präsident Wilson zwar bewegen, die Forderung nach einer unabhängigen »Republik Polen« zu unterstützen und unterschrieb — gemeinsam mit Roman Dmowski von der antisemitischen, in den ersten freien Sejm-Wahlen siegreichen »Nationaldemokratischen Partei« — den Friedensvertrag von Versailles, doch die junge Demokratie funktionierte nicht.

Wie sollte sie auch?

Erst gab es den Krieg mit der Sowjetunion, dann gerieten alle wegen der Schwarzen Madonna und ihres »Wunders an der Weichsel« aus dem Häuschen, und 1926 errichtete Marschall Pilsudski — übrigens ein Mitbegründer der 1893 konstituierten »Polnischen Sozialistischen Partei« — eine von breiten Schichten der Bevölkerung unterstützte Militärdiktatur.

Lauthals verkündete Polens starker Mann jetzt die große »Sanacja« — die Gesundung — des leidgeprüften Landes, aber das wollten die Deutschen nicht.

Generaloberst Hans von Seeckt, in der Weimarer Republik für den Aufbau der Reichswehr zuständig, hatte bereits am 11.9.1922 in einem Memorandum an die Reichsregierung unmißverständlich festgehalten: »Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands — es muß verschwinden. Dieses Ziel zu erreichen, muß einer der hehrsten Zielpunkte der künftigen deutschen Politik sein!«

Der monokeltragende preußische Offizier der alten Schule war kein Mitglied der NSDAP!

Im Gegenteil: Reichspräsident Ebert hatte ihn 1924 mit der Niederwerfung des Münchner Hitlerputsches betraut und nach dessen Machtergreifung verdingte er sich im Ausland — als Militärberater bei General Tschiang Kai-schek.

Van Seeckt war ein ehrenwerter Mann — ein »guter« Deutscher sozusagen.

Ob jetzt — unter der Ägide des Königs Zeitgeist — die »Sanacja« der Republik Polen gelingt?

An der Hotelbar des Warschauer Holiday Inn sind die Meinungen geteilt. Jan, der Barkeeper, ist eher skeptisch, während ein bestens gelaunter, elegant gekleideter Pole mittleren Alters — er hat mich bereits zum zweiten Gläschen »Jarzebiak« (doppelt gebrannter Ebereschenwodka) überredet — die Zukunft des Landes in rosigsten Farben zeichnet.

»In two, three years Poland will be a country like Niemcy — Germany — France or even America«, prophezeit er und da ich zu widersprechen wage, ruft er Jan als Kronzeugen an.

»Jan! You also know Poland! Correct — what I say?«

Barkeeper sind Diplomaten. Zunächst scheint er die Frage zu überhören, dann ist er mit dem Abwaschen einiger Kaffeetassen beschäftigt, und schließlich erregt eine hübsche junge Dame seine Aufmerksamkeit, die suchenden Blicks die Hotelbar berritt.

Aber mein Visavis insistiert: »In two, three years Polska will be like Niemcy or America! Correct — what I say?« will er vom Barkeeper unbedingt wissen.

Jan ist in einem schrecklichen Dilemma: beide, der Stammgast wie auch ich, sind trinkgeldverdächtig — der beschwipste Pole ist sogar höher einzuschätzen, aber meine eher düstere Prognose — alle ehemaligen COMECON-Staaten, Polen nicht ausgenommen, liefen Gefahr, zum Lateinamerika Westeuropas, vor allem Deutschlands, zu werden — scheint ihm die richtigere zu sein.

Was tun?

Er kann sich nicht länger um eine Antwort drücken.

»Maybe in two years, but maybe in ten years, twenty or — never«, sagte er schlußendlich.

Mr. »Ted« Tadeuz Polanski — mit dem Filmregisseur gleichen Namens weder verwandt noch verschwägert, sondern ein erfolgreicher Businessman, wie er mir zuvor voll Stolz erklärte — ist bitter enttäuscht: »Never? Are you a communist, towarzysz?« zürnt er und verlangt demonstrativ die Rechnung.

»Prosze o rachunek!« Das klingt gefährlich ...

Jan versucht zu retten, was noch zu retten ist: »Two years are possible«, räumt er ein — »this is exactly what I think!« — und wegen des ungebührlichen »Never«, beziehungsweise des dadurch bedingten Vorwurfs, ein Kommunist und Towarisch zu sein, beruft er sich auf Walesa. Der Präsident, führt er aus, habe gesagt, daß zwei Drittel von Polen reif zum Abriß seien, und daß das Land Jahre und Jahrzehnte benötigen werde, um die Hinterlassenschaft des Kommunismus zu beseitigen.

Mr. Polansky unterbricht ihn: »Who was saying this? Walesa?« »Tak, Mr. Walesa!« bestätigt Jan, aber jetzt ist er erst recht ins Fettnäpfchen getreten. Denn vom gelernten Elektriker aus Popowo, der 1983 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde und seit 22.Dezember 1990 das erste frei gewählte Staatsoberhaupt Polens ist, hält der Businessman rein gar nichts: »He’s the biggest idiot of total Poland« stellt er fest, und nur Idioten würden den Unsinn glauben, den er Tag für Tag verzapfe.

Jan protestiert. Er sei kein Anhänger Walesas, versichert er, und beteuert, ihn auch nicht gewählt zu haben, aber Mr. Polanski läßt sich mit dem verzweifelt um seine Rehabilitierung — und wohl auch sein »napiwek« (Trinkgeld) — kämpfenden Barkeeper auf keine weiteren Debatten mehr ein.

»Chcialabym zaplacic, prosze o rachunek«, sagt er nur — ich möchte zahlen, die Rechnung bitte ...

Während Jan die Schnäpse zusammenzählt, wendet sich Ted — er ist stockbesoffen, wie sich zeigt, und fast wäre er vom Barhocker gefallen — wieder mir zu.

»People like Walesa or him«, sagt er mit schwerer Zunge und zeigt dabei auf Jan, »are really ... idiots ... they not under...stand ... economics!« Er, Tadeusz — Ted — Polanski, hingegen schon. Tak. Er, Tadeusz — Ted — Polansky, sei nämlich Unternehmer — businessman — und auf den Import westlicher Landmaschinen ... spezialisiert. Tak. Und er, Tadeusz — Ted — Polanski, wisse wovon er rede ... er, Tadeusz — Ted — Polansky, habe nämlich eben erst — keine zwei Stunden sei es her — einen Superdeal mit einem ... amerikanischen ... genauer gesagt ... einem texanischen Geschäftsfreund ... abgeschlossen.

Mit einem Texaner? Aus Pasadena bei Houston vielleicht?

»Correct!« lobt mich Ted ob meiner offensichtlichen Ortskenntnisse in Texas und bestellt — zwei weitere »Jarzebiak« ...

Ich versuche abzuwehren. Zwei auf nüchternen Magen waren mehr als genug, aber Jan ist jetzt voll auf der Seite seines Landsmannes: »You must drink«, befiehlt er, und schon steht ein randvoll gefülltes Glas vor mir.

»Na zdrowie!« tönt Ted, und weil er so konsequent für die Einhaltung der altpolnischen Trinksitten eingetreten war, darf sich — Ted ist nicht nachtragend, wie er betont — auch Jan einen Doppelten genehmigen.

Dann setzt Ted seinen Exkurs über Economics fort: »Polska ... hick ... has the best ... chances in ... future«, führt er aus, und Jan — hinsichtlich der ‚Sanacja‘ Polens nun wieder optimistisch — bestätigt die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes durch emsiges Kopfnicken.

Na zdrowie!

Ted kommt wieder auf den Deal mit dem Texaner zurück.

Ein Bombengeschäft — na zdrowie! — sei das ... 100 generalüberholte combine harvesters — Mähdrescher — bekäme er innerhalb der nächsten sechs Monate geliefert ... zum Okkasionspreis von ... nur ... 10.000 Dollar das Stück, inclusive shipping costs — also für one million dollar insgesamt.

»A lot of money!« entfährt es Jan.

»Correct!« gibt Ted zu, aber — in Polen sei so ein amerikanischer Mähdrescher mindestens das Doppelte, wenn nicht gar das Dreifache wert, vor allem wenn er frisch lackiert sei und wie neu aussehe.

Na zdrowie!

Die Aussicht auf den Millionenprofit hilft Polanski, die alkohlbedingte Schwächeperiode zu überwinden. Sein Kopf scheint wieder klar und die Artikulationswerkzeuge funktionieren normal.

Er gerät ins Schwärmen: wenn erst einmal der erste Deal erfolgreich über die Bühne gegangen sei, erläutert er mit glänzenden Augen, dann würden zwei, drei, zehn oder zwanzig — weiß Gott, wie viele — weitere folgen ...

Na zdrowje!

Denn in Polen — das wüßte er noch aus der Zeit, als er selbst im Landwirtschaftsministerium tätig war — würden gut und gerne 20.000 Erntegeräte fehlen, während in den USA zehntausende — oft nocht bestens erhaltene — buchstäblich verrosteten oder um einen Bettel nach Mexiko oder Südamerika verhökert werden würden.

Na zdrowie!

Und zum Beweis, daß er, Tadeusz — Ted — Polanski, nicht wie viele polnische Businessmen nur herumflunkere, zieht er mit theatralischer Geste ein in Polnisch und Englisch abgefaßtes AGREEMENT aus seinem Samsonite. Erraten!

Es ist von einem gewissen Bob Duffy — »President« der in Pasadena residierenden »Pasadena Farm Equipment Inc.« — unterzeichnet.

»Two bottles of Jarzebiak — Jan is my witness — I had to invest in that guy«, lacht er, dann erst hätte er ihn soweit gehabt, daß er auch die shipping costs — satte 25 Prozent des Gesamtpreises — schluckte.

Na zdrowie!

Freilich, noch sei der Deal nicht 100prozentig sicher, seufzt er. Auch die Regierung müsse ihr Scherflein dazu leisten — oder etwa nicht?

»Tak! Of course!« assistiert Jan eilfertig, aber ich verstehe das nicht. »The government? Do you expect the government to buy your antique harvesters?« frage ich fassungslos.

Ted lächelt. »That’s a great idea!« sagt er, und bestünde diese Regierung nicht aus lauter Idioten, würde sie es auch tun. Aber als privater Businessman und überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft verlange er das gar nicht. Er bestehe nur darauf, daß sie ihm die Einfuhrzölle erlasse.

»And why?«

Ganz einfach! Es gehe darum, die rückständige polnische Landwirtschaft aus ihrer Existenzkrise zu führen, klärt mich der Agrarexperte auf, und das sei nur mit Hilfe westlicher Technologie möglich — correct? Aber sie sei teuer und daher müsse der Preis der Mähdrescher der Kaufkraft der polnischen Bauern angepaßt werden.

»Na zdrowie! Three cheers for Polska!« sage ich jetzt, um mir das Geschwätz nicht länger anhören zu müssen, und wie gut die Chancen auf Zollbefreiung tatsächlich stünden, möchte ich schließlich auch noch wissen.

»Not bad, my friend!« antwortet Ted und deutet an, daß die meisten, die jetzt das Sagen hätten — »officially they earn peanuts« — bestechlich seien. Und außerdem seien sie »idiots« — vom kleinen Zöllner bis hin zu Walesa ...

Apropos Walesa! Ob ich wüßte, warum Walesa immer mit der Heiligen Maria abgebildet sei, fragt Jan und lacht schon, ehe ich noch geantwortet habe.

Warum schon? Weil er sehr katholisch ist?

Auch Tadeusz Polanski kennt die richtige Antwort nicht, obwohl er den Witz schon einmal gehört hat, wie er betont.

Jan — immer noch hinter seinem »napiwek« her — verrät schließlich die Pointe: die Heilige Maria sei früher — als sie noch auf Erden weilte — immer auf einem Esel geritten und ließe sich daher gerne mit ihrem Lieblingstier ablichten ...

Ha! Ha! Ha!

Er wüßte viel bessere Walesa-Witze, behauptet Ted, dessen Zustand sich jetzt wieder verschlechtert, ordert aber — ehe er den ersten zum besten gibt — neuerlich eine Runde »Jarzebiak«.

Auch eine junge Dame, die am anderen Ende der Bar Platz genommen hat, ständig auf die Uhr oder in Richtung Lobby blickt, und nicht im mindesten ungehalten scheint, daß wir ihre Anwesenheit bisher ignorierten, ist herzlich eingeladen.

»One glass szampan for this girl!« brüllt Ted, und wenn sie nicht wisse, was Champagner sei — instruiert er Jan — dann solle er ihr halt ein »Piwo«, »Likier« oder »Woda Kolonska« (»Woda Kolonska« heißt »Kölnischwasser«) kredenzen.

Schrecklich! Doch die junge Dame bleibt vergleichsweise gelassen: nachmittags trinke sie grundsätzlich nichts Alkoholisches, erwidert sie, und außerdem erwarte sie jemanden.

»Excuse me, are you waiting for ...«

Meine Frage geht unter. Polanski hat inzwischen striktes Silentium verordnet, um — wie er einleitend feststellt — den besten Walesa-Witz aller Zeiten zu erzählen: »Ladies ... and gentlemen! Who of you ... knows ... what our ... honorable Mister ... President ... did ... first when ...«

Schweigen. Ted droht einzuschlafen.

»... when after his election he came first time to his new office, in Belveder?« setzt Jan fort, als die Pause immer länger wird. »Yes, when ... he first ... came to Belvedere?« wiederholt Mr. Polanski lallend.

Schweigen.

»You don’t know? Nobody ... knows?« dröhnt Ted jetzt noch einmal, um gleich danach — für längere Zeit, wie sein lautes, von fallweisen Gimm- und Pfeifgeräuschen unterbrochenes Geschnarche ankündigt — in tiefen Schlaf zu verfallen.

Teilnahmslos, wie ein abgebrühter Leichenbeschauer betrachtet Jan die Schnapsleiche.

»Polish people drink too much«, stellt er lakonisch fest und serviert die halbvollen Jarzebiak-Gläser ab. Auch ich fühle mich zu einem Nachruf verpflichtet: »Poor Mister Polanski!« sage ich.

»Poor Mister Polanski?« Jan lacht bitter ...

Die junge Dame wartete tatsächlich auf mich. »Tak, tak«, lächelte sie, als ich sie fragte, ob sie zufällig Anna — Anna ... Tomaszkiewicz — sei, aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, ihr Lächeln wirkte gekünstelt.

Denn plötzlich meldete sich wieder Polanski zu Wort: »Attention ... my friend! This ... lady is not ... drink ... ing szampan«, gröhlte er.

Jan versuchte ihn zu beruhigen — umsonst!

»I know this typ of ... lady«, krächzte er jetzt, »fucking ... costs 200 dollar ... with them!«

Anna dämpfte ihre Zigarette aus. »Und Sie sind also der Mr. President aus Wien — ein Kasztany, wie man bei uns Österreicher nennt«, fragte sie scheinbar ungerührt.

Dann stand sie auf, schlüpfte wortlos in ihren safrangelben, für kalte Herbsttage viel zu kalten Kunstledermantel und bewegte sich federnden Schritts in Richtung Ausgang.

Dieser Scheiß-Polanski! Ich hätte ihn erwürgen können!

Beim Ausgang hielt Anna inne. »Ich möchte Sie ja nicht drängen, Mr. President«, rief sie mir jetzt zu, »aber falls Sie Warszawa tatsächlich noch heute kennenlernen wollen, dann sollten wir die Nachmittagssonne ausnützen und endlich aufbrechen!«

Ihre Stimme klang wie ein Mazurek in meinen Ohren.

»One moment, szanowna panil« antwortete ich verwirrt, griff hastig nach meinem Ulster und rannte ihr nach.

»He Mister! You must sign the bill!« tönte es hinter mir, und zu Jan’s Entsetzen vergaß ich aufs »napiwek«, aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit.

»Am besten wir nehmen ein Taxi«, meinte Anna trocken. Das würde Zeit sparen und teuer sei es auch nicht.

Ich stimmte zu, obwohl ich nach vier — oder waren’s fünf? — Gläsern Jarzebiak lieber ein Stück zu Fuß gegangen wäre. Aber was machte ich nicht alles, um den schlechten Eindruck, den Anna aufgrund des rüpelhaften Benehmens meines »Freundes« auch von mir gewonnen haben mußte, wieder zu verwischen!

Ich redete übers — Wetter: »Jest ladna pagodal« gab ich stolz zum besten, was laut Langenscheidts Sprachführer »das Wetter ist schön« heißen soll, und nach längerem Nachdenken fiel mir auch der bedeutungsvolle Satz »Slonce swieci« ein — die Sonne scheint.

Anna lächelte wieder. »Sehr brav, Mr. President! Sie haben ja Polnisch gelernt«, lobte sie mich, und das Eis schien gebrochen ...

Anna Tomaszkiewicz war blond, gertenschlank und sicher noch keine dreißig, eine hübsche Frau mit verträumten, ein wenig traurigen Augen.

Sie hatte Kunstgeschichte und Germanistik studiert, wie sie mir später bei einem Glas Pejsach-Kufka erzählte, und hatte ursprünglich vor, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Aber weil sie allein für eine dreijährige Tochter zu sorgen hatte, war sie gezwungen, sich um eine besser bezahlte Stelle umzusehen.

Von Montag bis Freitag arbeitete sie als »sekretarka« bei einem deutschen Sportartikel-Importeur und an Wochenenden war sie »przewodnika« — Fremdenführerin ...

Andrzej, der quirlige Reception Manager — wer sonst? — hatte sie mir vermittelt — »believe me, Mr. President, she is the best tourist guide of totally Warszawa« — und für drei Uhr in die Hotelbar bestellt.

Keine Angst! Anna Tomaszkiewicz ist keine von Limusine Sevices, aber irgendetwas ist außergewöhnlich, rätselhaft an ihr.

Wir fahren die Aleja Jerozolimskie entlang — vorbei am schlafenden »Centralna«, dem größten Bahnhof der Welt, wie Zbigniew, unser Taxifahrer, fälschlicherweise behauptet, passieren den »Palac Kultury i Nauki«, das Danaergeschenk der Sowjetunion aus der Ära des »sozialistischen Realismus«, und biegen dann beim verwaisten »Haus der Partei«, dem ehemaligen Sitz des Zentralkomitees der PVAB, in die Nowy Swiat Straße ein.

Aber wollten wir nicht zuerst in die Marszalkowska-Straße? Zbigniew — er war früher Chauffeur an der polnischen Botschaft in der DDR und spricht tadellos Deutsch — übt Selbstkritik: »Wat bin ik für’n Idiot! Logo, Marszalkowska ham’se jesacht!« jammert er, und dreht wieder um.

Endlich schaltet er die Heizung ein. Draußen ist es bitterkalt. Ein eisiger Nordostwind pfaucht zornig die wenigen Spaziergänger an. Eine weißgekleidete Braut flüchtet mit zerzausten Haaren in ein wartendes Taxi und bricht sich dabei den linken Stöckel. Ein blaugesichtiger Polizist, der mit seiner Maschinenpistole vor dem Glaspalst der PKO-Sparkasse wacht, vergräbt beide Hände in seinen Hosentaschen, während sich sein Kollege, der Ranghöhere offenbar, in den in unmittelbarer Nähe abgestellten Streifenwagen verdrückt.

Nur ein Betrunkener, der ungerührt bei Rotlicht über die Kreuzung torkelt — ein Sympathisant der »Partia Biwa«, der neuerdings auch im Sejm vertretenen Biertrinkerpartei, wie Zbigniew voll Abscheu vermutet — scheint wetterfest: »Jeszcze Polska nie zginela, poki my zyjemy«, singt er mit heiserer Stimme — noch ist Polen nicht verloren, solange wir am Leben sind ...

Kahlgeschorene Alleebäume, gedemütigt, als wären sie Strafgefangene, haben sich in ihr Schicksal gefügt — fröstelnd erwarten sie das Herannahen des Winters. Mißmutig hocken ein paar einsilbige Spatzen herum, bitter enttäuscht, beleidigt, weil sich weit und breit nichts zum Fressen findet. Wie Sozialhilfeempfänger, um einen sorgenfreien Lebensabend geprellte Rentner oder Arbeitslose sehen sie aus.

Und verstört, als hätte sie genug gesehen, zieht sich die kraftlos gewordene Sonne hinter ein dichtes Wolkenfeld zurück. Sight-seeing in Warszawa — an einem Sonntagnachmittag im November.

Und Anna?

Anna erzählte ein Märchen ...

Vor langer, langer Zeit lebte am Ufer der Weichsel — dort, wo nun das »Pomnik Syreny«, das Monument der wehrhaften Warschauer Sirene, steht — ein altes Fischerweib, das zwei Kinder hatte: den braven Wars und die schöne Sawa. Die beiden Geschwister waren ein Herz und eine Seele. Ob Wars nun zur Jagd ging oder zum Fischen — immer war Sawa an seiner Seite, und die arme, alte Mutter war oft allein.

Abends, wenn die beiden noch immer nicht zu Hause waren, ging sie daher immer zum Uferrand und rief besorgt: »Wars! Sawa! Kommt heim! Das Essen wartet! Wars, Sawa!« Wars-Sawa, Warszawa ...

»Jenau! Jenau so war es!« bekräftigte Zbigniew. Auch die Lehrer in der Schule hätten die Story nicht anders erzählt. Dann bog er in die Swietokrzyska-Straße ein und brauste in Richtung Altstadt.

Früher war Warszawa noch schön. Der Venezianer Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, Hofmaler in Dresden, Wien und München, ehe er sich — auf Einladung König Stanislaw August Poniatowskis — anno 1768 für immer in der stolzen, freilich auch ein wenig schwermütig wirkenden Weichselmetropole niederließ, hat von seiner Lieblingsstadt eine ganze Reihe höchst eindrucksvoller Veduten gemalt.

In der Kunstsammlung des Königsschlosses sind die mit unübertroffener Detailtreue ausgeführten Meisterwerke zu bewundern: »Palais Wilanow vom Schloßgarten aus gesehen«, »Dluga-Straße«, »Blick auf die Straße Krakowskie-Przedmiescie in Richtung Zygmunt-Säule« oder das 1770 entstandene Bild »Die Stadt Warschau vom Pragaer Ufer aus gesehen«.

Letzteres gilt als sie schönste Gesamtansicht der historischen Altstadt und wird in Polen wie eine Reliquie verehrt ...

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war Warszawa eine blühende Stadt, die 120.000 Einwohner zählte. Bereits 1596 — nach dem Brand des Krakauer Wawel — hatte sie König Zygmunt III. Wasa zur Hauptstadt des Landes gemacht, und rund um den mittelalterlichen, von Wehrmauern umgebenen Stadtkern waren zahlreiche »Jurydyki«, autonome, eigenständig verwaltete kleine Stadtteile entstanden, die reichen Klöstern oder einflußreichen Magnaten gehörten.

Prachtvolle Bauten prägten das Stadtbild: der gotische Dom in der vom Marktplatz zum Schloßplatz führenden Swietojanska-Straße, die von König Zygmnut 1620 gestiftete Jesuitenkirche oder die aus dem 13. Jahrhundert stammende Burg, die in eines der schönsten Königsschlösser umgewandelt worden war.

Auf dem Schloßplatz prangte die 1644 von König Wladyslaw errichtete »Zygmunt-Säule« — neben der Syrena das zweite Wahrzeichen der Stadt — und die vom Schloßplatz südwärts führende Straße, die Krakowski-Przedmiescie (»Krakauer Vorstadt«), war von luxuriösen Residenzen der Hautevolee gesäumt: von den Palästen der Czatoryskis, der Krasinskis oder Raszynskis, vom prunkvollen, später in klassizistischem Stil erneuerten »Koniecpolski-Palac« aus dem 16. Jahrhundert oder von den ehrfurchtgebietenden Klöstern der Dominikaner, Pauliner und Bernhardiner. Gleich in der Nähe stand auch die protzige Abtei der Barfüßigen Karmeliter und natürlich durfte in dieser Nachbarschaft auch der Palast des »Interrex«, des Primas von Gniezno, nicht fehlen.

Unter König Poniatowski legten die hervorragensten Gärtner Europas den bezaubernden — damals natürlich nicht allgemein zugänglichen — »Lazienki-Park« an, nach Vorbild des römischen Theaters in Herkulanum ließ er ein pläsantes, zum Teil auf einer künstlichen Insel gelegenes Freilicht-Theater erbauen, und Dominikus Merlini — ein mit Canaletto befreundeter Stararchitekt — erhielt den ehrenvollen Auftrag, das romantische (später häufig als Filmkulisse verwendete) »Wasserpalais« zu errichten, die neue Sommerresidenz des königlichen Bonvivants.

Kuzum, daß Meister Cananletto ausgerechnet Warszawa als ständigen Wohnsitz erkor — wen wundert’s?

Aber auch nach dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit — trotz zaristischer Unterdrückung, wirtschaftlicher Rezession und fehlgeschlagener Aufstände — büßte die Stadt an der Wisla nichts von ihrer Schönheit ein.

»Im Gegenteil«, erklärte Anna, die mich ungeachtet der klirrenden Kälte jetzt zu Fuß von einer Sehenswürdigkeit zur anderen führte, »gerade unter dem Terrorregime des zaristischen Stadthalters Nikolai Novosilcev wurde sich Warszawa seiner großen Vergangenheit bewußt«.

Ein wahrer Denkmal-Boom entstand: ein mächtiges Kopernikus-Standbild — geschaffen von Bertel Thorvaldsen, dem in ganz Europa gefeierten Hohepriester des »nordischen Klassizismus« — zierte nun den Platz vor dem Staszic-Palais, dem Sitz der »Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft«, und ein martialischer, ebenfalls aus der Werkstatt des dänischen Klassikaners stammender Jozef Poniatowski, vormals Freiheitsklämpfer und 1809 napoleonischer Marschall im Galizien-Feldzug gegen Österreich, heizte patriotische Gefühle am Koniecpolski-Platz an ...

Nach Entwürfen des extravaganten Modearchitekten A. Corazzi wurde das »Teatr Wielki« — Polens Burgtheater — errichtet, Piotr Aigner erbaute am Trzech-Krzyzy-Plac die Alexanderkirche und zwischen Marszalkowska-Straße und Jerozolimskie-Allee, den neuen Luxusboulvards, entstanden die vornehmen Wohnviertel des aufstrebenden Bürgertums.

Warschau — »das Warschau, wie es Canaletto sah« — veränderte sein Antlitz, aber der Schönheit der Stadt schadete diese Metamorphose nicht.

Denn Architekten wie Mikolaj Tolwinski, Henryk Stifelman oder Jan Heurich hatten sie mit prachtvollen Jugendstilgebäuden verschönt, und Künstler vom Range eines Jozef Dziekonski, Wladislaw Marconi, Stefan Szyller oder Bronislaw Brochwicz-Rogoyski gestalteten die Fassaden und Interieurs vieler Hotels, öffentlicher Gebäude oder reicher Bürgerhäuser — beispielsweise der Technischen Universität oder des mondänen, 1901 eröffneten Hotels Bristol, das ob seines exquisiten Art Nouveau Interieurs bald in aller Munde war.

Selbst in der krisengeschüttelten Phase nach dem ersten Weltkrieg (während der turbulenten Dmowski-Jahre und in der operettenhaften Pilsudski-Ara) ging’s mit der hektischen Weichselmetropole weiter bergauf: die Stadtplaner hatten ehrgeizige Konzepte für ein neues »Groß-Warschau« entwickelt. Nicht alle Ideen wurden verwirklicht.

»Gott sei Dank!« sagte Anna, erbärmlich frierend, aber immer noch mit messianischem Eifer unterwegs.

Denn zu Ehren des glorreichen Pilsudski — des polnischen Dollfuß, wie ihn Anna nannte — sollte auch eine monumentale »Jozef Pilsudski-Stadt« samt einer 50 Meter hohen »Jozef Pilsudski-Säule« und einem von Bohdan Pniewski geplanten »Tempel der Vorsehung« entstehen ...

Aber in der Rakowiecka-Straße errichtete Jan Koszczyc-Witkiewicz, einer der führenden Exponenten des polnischen Art Deco, die Hochschule für Handelswissenschaften, Wojciech Jastrzebowski und Romuald Miller gestalteten Theatertsäle, Ministerien oder die Fassade der Nationalbank, und auch die Vertreter moderner, revolutionärer Architekturauffassungen kamen zum Zug: Maksymilian Goldberg, Hipolyt Rutkowski oder Julian Puterman, Bohdan Lachert, Szymon Syrkus oder Barbara und Stanislaw Brukalski.

Und viele — auch öffentliche — Bauten dieser Zeit waren von den Ideen der russischen Konstruktivisten, von Le Corbusier oder vom Dessauer Bauhaus beeinflußt.

Aber dann kam der 1. September 1939 ...

Es dämmert schon, als Zbignew seinen klapprigen »Polski Fiat« in Richtung Muranow, einen wenig eingeladenen, im Westteil der Innenstadt gelegenen Wohnbezirk, lenkt.

Plötzlich hält er an.

»Oje! Auto kaputt?« zeige ich mich besorgt.

Zbigniew schüttelt den Kopf. Was dann?

»Stawki-Straße!« läßt er mich wissen.

»Was heißt Stawki-Straße?«

»Endstation!« erwidert Zbigniew und steigt aus.

»Endstation? Steht nach Zentralbahnhof & Kulturpalast vielleicht auch noch die Besichtigung einer Autobushaltestelle oder Straßenbahnremise auf dem Programm?« wage ich zu protestieren. Ich zünde mir eine Zigarette an. Gelangweilt schaue ich aus dem schmutzverhangenen Fenster: ein unansehnliches Hochhaus ist alles, was mir auffällt. Riesige Lettern in greller Leuchtschrift verraten, wie es heißt — Iltraco, wenn ich mich recht erinnere, und bei näherer Betrachtung hätte man gewiß noch in Erfahrung bringen können, ob die Errichtung des traurigen Monsters beim V. oder beim VI. PVAP-Parteitag beschlossen wurde.

Und Wohnsilos — im Dutzend errichtet, normkonform, Betonfertigteile — standen auch herum ...

Stawki-Straße — Endstation! Was hatte ich hier verloren?

Ich schmollte. Trotzig blieb ich im Taxi sitzen, begann in einem zuvor erstandenen Bildband — »Warschau. 1945, heute und morgen«, erschienen im Verlag Interpress, Warszwaw 1979 — zu blättern und gab mich entschlossen, eher zu erfrieren oder in Zigarettenqualm zu ersticken, als auch nur einen Schritt in diese wie hieß sie nur?, ach ja — Stawski-Straße zu setzen.

»Was soll ich hier?« antworte ich daher unwirsch, als mich Anna — auch sie ist aufgrund meines provokanten Verhaltens jetzt nicht mehr die Freundlichkeit in Person — auffordert, doch endlich auszusteigen.

Anna bleibt mir nichts schuldig: »Aber Sie waren es doch, der unbedingt hierher wollte! Haben Sie das vergessen? Vergessen Österreicher grundsätzlich alles?«

»Ich? Ich wollte hierher?« versuche ich zu protestieren, aber Anna läßt sich nicht unterbrechen: »Oder haben Sie vielleicht geglaubt, zu Ihrer Begrüßung geigen am Umschlagplatz Klezmorim (jiddische Bezeichnung für Musikanten) auf?«

Habe ich sie beleidigt? Verletzt? Jedenfalls halte ich es für angebracht, die Wogen wieder zu glätten: »Przepraszam, Anna! Was reden Sie denn?«, erwidere ich vergleichweise freundlich — »haben wir nicht gemeinsam beschlossen, nach der Besichtigung der Altstadt auch noch das jüdische Ghetto zu besuchen?«

»Ja! Und deshalb sind wir auch hier! Hier am Umschlagplatz!«

»Am Umschlagplatz?«

»Ja! Am Umschlagplatz!«, wiederholt Anna mit Nachdruck, immer noch aufgebracht.

Ich entdecke keinen Zusammenhang.

»Welcher Umschlagplatz?« frage ich gedankenlos.

»Welcher Umschlagplatz? Das — fragen Sie?«

»Tak!«, sage ich — cool.

»Tak? Ja?«, vergewissert sich Anna noch einmal. Sie sieht mich mit traurigen Augen an, und über ihre zarten, von der Kälte geröteten Wangen kollern Tränen. Meine charmante Przewodnika, die mir den ganzen Nachmittag über das Gefühl vermittelt hatte, ein willkommener Gast, ja fast ein Freund, zumindest aber kein ungeliebter »Kastany« oder »Swaby« (= pejorative Bezeichnung für »Deutscher«) zu sein, ist bitter enttäuscht: »Und ich dachte schon, Sie wären anders!«, klagt sie mich, aber noch mehr sich selber an.

Es folgen endlose Sekunden eisigen Schweigens — dann wirkt Anna Tomaszkiewicz wieder gefaßt: »Wissen Sie, Herr ... entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen ...«, erläutert sie jetzt mit fester Stimme, »von diesem Umschlagplatz haben Ihre Landsleute 310.322 Menschen nach Treblinka — in die Gaskammern — geschickt. Oder soll ich jetzt wieder ›umgesiedelt — umgesiedelt in den Osten‹ sagen?«

Und wieder dieses eisige Schweigen, ehe Anna fortfährt: »Aber warum erzähle ich das? Meine Großeltern waren ohnehin privilegiert! Sie durften im Ghetto — pardon, »jüdischer Wohnbezirk« hieß das damals — sogar eines »natürlichen Todes« sterben ... und meine Mutter hat — überlebt! Tak! Überlebt — unter falschem Namen und bei polnischen Bauern versteckt.« Anna lacht: »Ja, das war ein Regiefehler sozusagen«, hallt es durch die Stawski-Straße, »meine Mutter stand nicht hier — am Umschlagplatz!« Hilflos stammle ich irgendwelche Entschuldigungen daher ...

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges lebten in Warschau fast 380.000 Juden — ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug etwas mehr als 30 Prozent.

Nach der Eroberung der Stadt durch die Deutschen wurden sie alle in das Ghetto gepfercht, ein 3,07 km2 großes Gebiet westlich der Innenstadt, das nunmehr »jüdischer Wohnbezirk« hieß und seit November 1940 durch eine hohe, von SS-Einheiten bewachte Mauer hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt war.

Durch Zwangsumsiedlungen aus dem »Distrikt Warschau« und den dem Deutschen Reich eingegliederten Teilen Polens erhöhte sich die Zahl der Ghettoinsassen trotz Hungersnot und Seuchen sprunghaft: im Frühjahr 1941 war sie auf über 460.000 gewachsen, wie die NS-Bürokraten penibel festhielten.

Zehntausende sterben jetzt eines »natürlichen Todes«: sie verhungern oder fallen den zahlreichen, sich rasch ausbreitenden Epidemien zum Opfer.

Im Juli 1942 beginnen die Deutschen ihre »Umsiedlungsaktion«. Der Judenrat wird aufgefordert, Listen über alle »unproduktiven Juden« anzulegen. Adam Czerniakow, der Vorsitzende des Rates, lehnt jede Mitwirkung ab und begeht Selbstmord.

In der Zeit zwischen 22. Juli und 3. Oktober 1942 werden täglich tausende Warschauer Juden in plombierten Güterwaggons in das Vernichtungslager Treblinka transportiert. Deutschen Protokollen zufolge genau 310.322 Männer, Frauen und Kinder. Insgesamt 5961 Personen — vorwiegend Kranke und Greise oder solche, die sich Anordnungen widersetzten — wurden »auf der Flucht« erschossen. Ende 1942 lebten im Warschauer »Restghetto« noch ungefähr 60.000 Menschen.

Am 16. Februar 1943 erhielten die deutschen Dienststellen in Krakau folgende Weisung aus Berlin:

An den Höheren SS- und Polizeiführer Ost SS-Obergruppenführer Krüger, Krakau

Aus Sicherheitsgründen ordne ich an, daß das Ghetto Warschau nach der Herausverlegung des Konzentrationslagers abzureißen ist, wobei alle irgendwie verwertbaren Teile der Häuser u. Materialien aller Art zu verwerten sind.

Die Niederreißung des Ghettos und die Unterbringung des Konzentrationslagers ist notwendig, da wir Warschau sonst wohl niemals zur Ruhe bringen werden und das Verbrecherwesen bei Verbleiben des Ghettos nicht ausgerottet werden kann.

Für die Niederlegung des Ghettos ist mir ein Gesamtplan vorzulegen. Auf jeden Fall muß erreicht werden, daß der für 500.000 Untermenschen bisher vorhandene Wohnraum, der für Deutsche niemals geeignet ist, von der Bildfläche verschwindet und die Millionenstadt Warschau, die immer ein gefährlicher Herd der Zersetzung und des Aufstandes ist, verkleinert wird.

gez. H. Himmler

Im Morgengrauen des 19.April 1943 begannen deutsche SS-, Polizei- und Wehrmachtseinheiten mit der endgültigen »Pazifizierung« des Warschauer Ghettos. Sie hatten Befehl, mit »größter Härte und unnachsichtiger Hartnäckigkeit vorzugehen«, um das gesteckte Ziel — »die totale Vernichtung des jüdischen Wohnbezirks unter Abbrennen sämtlicher Wohnblocks« — raschestmöglich sicherzustellen.

Zu ihrer Überraschung stießen sie jedoch auf erbitterten Widerstand, der von der jüdischen Untergrundbewegung »Zydowska Organizacja Bojowa« (ZOB) unter Führung des 24jährigen Mordechaj Anielewicz organisiert wurde.

Erst nach wochenlangen Kämpfen, bei denen sie auch Panzer, schwere Artillerie und die Luftwaffe einsetzten, gelang es den deutschen »Elite-Einheiten«, die mangelhaft, nur mit Pistolen, Gewehren und selbstgebastelten Handgranaten ausgerüsteten Aufständischen niederzuringen. Am 16. Mai sprengt ein SS-Kommando die Synagoge in die Luft, und Generalmajor Jürgen Stroop, der Leiter der »Großaktion Warschau«, rapportiert triumphierend nach Berlin:

ES GIBT KEINEN JÜDISCHEN WOHNBEZIRK IN WARSCHAU MEHR!

Auch den Polen sollte »ein für allemal das Genick gebrochen werden«, wie aus dem Tagebuch des aus Karlsruhe stammenden Rechtsanwaltes Hans Frank — von 1933 bis 1934 bayerischer Justizminister und ab 1939 Generalgouverneur in Polen — zu ersehen ist.

Dr. Ludwig Fischer, seit 26. Oktober 1939 mit der Verwaltung der zum »Distrikt« degradierten Hauptstadt betraut, erhielt daher die Weisung, »alles zu tun, um Warschau seines bisherigen Charakters als Mittelpunkt der Republik Polen zu entkleiden«.

Wie die deutsche Besatzungsmacht dabei vorzugehen gedachte, veranschaulicht der vom Würzburger Architekturbüro Papst Anfang 1940 ausgearbeitete Plan »Warschau. Die neue Deutsche Stadt«, der nach der Flucht Franks in seinem Arbeitszimmer gefunden wurde. Demnach sollte auf knapp einem Zwanzigstel der Fläche Warschaus, das damals an die 1,4 Millionen Einwohner zählte, eine neue Stadt für 100.000 bis 130.000 Deutsche entstehen. Nur in Praga, einem rechts der Weichsel gelegenen Stadtteil, war auch Wohnraum für 80.000 Polen vorgesehen — in einem neu zu errichtenden Straf- und Arbeitslager ...

Die Vernichtung Warschaus war vorprogrammiert.

Bereits zu Beginn des Krieges, während der dreiwöchigen Belagerung der zur »Festung« erklärten Stadt, fanden bei den pausenlosen Artillerie- und Luftangriffen an die 50.000 Zivilisten den Tod, ganze Stadtteile standen in Flammen und rund 10 Prozent aller Gebäude wurden zerstört.

Nach der — am 28. September 1939 erfolgten — Kapitulation setzten Massenverhaftungen ein, und unweit des Dorfes Palmiry wurden (wie von den Sowjets in Katyn) tausende Akademiker, Offiziere und potentielle Widerständler erschossen. Es war das erklärte Ziel der neuen Machthaber, die in der Hauptstadt ansässige »Führungsschicht« zu liquidieren. Überall dort, »wo polnische Herren vorhanden seien«, wurde dekretiert, »sollten sie, so hart das klingen möge, umgebracht werden«.

Ab 1940 wurde der Terror intensiviert. SS, Gestapo und Wehrmacht führten großangelegte Straßenrazzien durch. Nicht nur, um den beginnenden Widerstand bereits »im Keim zu ersticken«, sondern vor allem auch aus »beschäftigungspolitischen« Gründen: Zehntausende wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland oder — Auschwitz deportiert — insgesamt waren im Deutschen Reich mehr als 1 Million polnischer Arbeiter »beschäftigt«.

Polen war ausersehen, Deutschlands »Reservoir an Arbeitskräften für niedrige Arbeiten« zu sein, und eine vom Reichsführer SS 1940 verfaßte »Denkschrift über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten« gibt Aufschluß, welche Ansprüche an die polnischen Arbeitssklaven (Gastarbeiter? Saisonniers?) gestellt wurden: sie mußten »ehrlich, fleißig und brav« sein und zur Kenntnis nehmen, daß es ein »göttliches Gebot ist, den Deutschen Gehorsam zu erweisen ...«

Der dritte Akt der Zerstörung Warschaus beginnt am 1. August 1944, um 17 Uhr, als nach dem Zusammenbruch der deutschen »Heeresgruppe Mitte« die polnische Exilregierung in London das heiß erwartete Signal zum Aufstand gibt.

Unterstützt von der gesamten — seit Kriegsausbruch allerdings bereits um fast 50 Prozent dezimierten — Bevölkerung führt die von General Bor-Komorowski geführte »Armia Krajowa« (AK) 63 Tage lang einen verzweifelten Kampf gegen die verhaßten Besatzer. Doch der Aufstand war zum Scheitern verurteilt: nicht nur aufgrund der unvorstellbaren Grausamkeit, mit der SS, Wehrmacht und Polizei gegen die Aufständischen vorgingen — auf dem Gelände der Ursus-Werke wurden allein am 5. August fast 5.000 Zivilisten exekutiert — sondern weil Stalin die vorrückende Sowjetarmee hinderte, rechtzeitig in die Kämpfe einzugreifen.

Am 2. Oktober brach der Aufstand, der 160.000 Polen (davon 150.000 Zivilsten) das Leben kostete, zusammen.

Die Rache der Deutschen war fürchterlich: »Warschau ist dem Erdboden gleichzumachen, um Europa zu zeigen, was es bedeutet, einen Aufstand gegen Deutsche zu unternehmen«, lautete jetzt die Direktive aus Berlin.

Der Befehl wurde von SS-Obergruppenführer und General der Polizei Erich von dem Bach, dem Kommandeur der gegen die Aufständischen kämpfenden deutschen Einheiten, gewissenhaft ausgeführt: Warschau wurde in »Vernichtungsbezirke« eingeteilt, und rund um die Uhr waren jetzt hunderte Sonderabteilungen und Sprengkommandos unterwegs, die assistiert von einem ganzen Stab wissenschaftlicher Berater Haus um Haus, Häuserzeile um Häuserzeile sprengten.

Besonders gründlich wurde alles zerstört, was mit polnischer Kultur und Geschichte zusammenhing — ob es sich dabei nun um das zuvor restlos ausgeraubte Königsschloß, das Mickiewicz-, Poniatowski- oder Chopin-Denkmal handelte (auf das Hören und Spielen von Chopin-Musik stand ab 1940 übrigens die Todesstrafe), das Baryczkow-Haus mit seiner berühmten Varsaviana-Sammlung oder um den aus dem 14. Jahrhundert stammenden Dom in der Swietojanska-Straße ...

Von den 957 kunsthistorisch als besonders wertvoll geltenden Baudenkmälern Warschaus wurden 782 (!) vollständig und 141 teilweise zerstört. Nur 34 blieben unversehrt, weil die Vernichtungstrupps keine Zeit mehr fanden, sie zu sprengen.

Als am 17. Jänner 1945 polnische Verbände und die Rote Armee die Weichsel überschritten und nach kurzem Kampf auf den Ruinen des Hauptbahnhofs die weißrote Flagge hißten, fanden sie eine Geisterstadt vor — eine menschenleere, verschneite Ruinenlandschaft.

Warschaus Opferbilanz nach mehr als fünf Jahren deutscher Besatzung war erschütternd: rund 90 Prozent aller Bauten und technischer Einrichtungen waren zerstört, und von den fast 1,4 Millionen Menschen, die vor dem Krieg in der polnischen Hauptstadt lebten, hatten 800.000 den Tod gefunden — etwa 200.000 bei Kämpfen in der Stadt und 600.000 infolge vorsätzlicher, minutiös geplanter Ausrottungsaktionen.

Wieviele Mörder kamen ungeschoren davon?

Wird fortgesetzt.

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