FORVM, No. 126/127
Juni
1964

Portrait des Mörders

Gavrilo Princip wurde 1894 als Sohn einer Kmet-(Leibeigenen-) Familie im Grahovo-Tal, Nordwest-Bosnien, geboren. Geschichtliche Umstände hatten die Entwicklung der bosnischen Gesellschaft verzögert; eine urtümliche Stammeskultur war unter türkischer Herrschaft bis tief in die Neuzeit erhalten geblieben. Der Einbruch des kolonialen Kapitalismus im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zerstörte diese Kultur in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Einheit, aber nicht wenige ihrer Züge blieben in der Sozialpsychologie des Volkes erhalten. Die Familie, worin Princip geboren wurde, war immer noch die Zadruga, jene großfamiliale Basis der Stammeskultur; und der alte Volksglaube wie Volksbrauch waren fester Bestandteil des täglichen Lebens. Die österreichisch-ungarischen Behörden betrieben systematisch die Konservierung dessen, was sie von ottomanisch-feudaler Rückständigkeit ererbt hatten; noch 1910 waren 87 Prozent der bosnischen Bevölkerung Analphabeten.

Mit Schwierigkeiten und gegen den Willen seines Vaters, aber mit Hilfe seiner Mutter, vollendete Princip die Pflichtschule im Alter von dreizehn Jahren und verließ sodann sein heimatliches Tal. Nach einem Fußmarsch von vier Tagen, während dessen er zum erstenmal in seinem Leben Spuren technischen Fortschritts sah, gelangte er nach Sarajevo. Er hatte die Absicht, in die Militärkadettenschule einzutreten, aber sein älterer Bruder überredete ihn, statt dessen die Handelsschule zu besuchen. Man schrieb das Jahr 1907. Princip fand befriedigende Unterkunft bei der Witwe Stoja Ilić. Die alte Dame hatte einen Sohn, Danilo, der Gedichte schrieb und Student an der Lehrerbildungsanstalt war. Sieben Jahre später war er der eigentliche Urheber des Mordkomplotts; er war der beste Freund, den Princip je hatte.

In der Familie Princips scheint es keine psychischen Abnormitäten gegeben zu haben; Princip selbst war ohne Zweifel geistig gesund, d.h. er befand sich in keiner größeren geistigen Erregung, als sie damals unter Jugendlichen seines Alters normal war. Aus seinen Schriften wie aus seinen Gesprächen mit dem Psychiater, Dr. Martin Pappenheim, Professor an der Universität Wien, gewinnt man den Eindruck, daß er ein außerordentlich sensibler Junge war, welcher seine Umgebung scharf beobachtete; in seiner Neigung, die Leiden der Menschen rund um ihn als seine eigenen zu fühlen, war er bereit, bis zum Äußersten zu gehen.

Persönliche Motive spielten bei seiner Tat keine entscheidende Rolle. Sein Großvater Jovo war ermordet worden, als die österreichisch-ungarischen Truppen Bosnien besetzten; seine Familie glaubte, daß lokale Würdenträger den Mord anstifteten. Jedenfalls erwähnte Princip den Tod seines Großvaters niemals als ein Motiv, das ihn zur Rache an Erzherzog Franz Ferdinand bewogen hätte.

Immerhin stand Princips eher allgemeine Motivation für den Mord in Verbindung mit einem persönlichen Antrieb. Princip war ein junger Mann mit unerfülltem Ehrgeiz. Zunächst litter darunter, daß er die Handelsschule besuchte, deren Lehrplan all das enthielt, was seine Freunde bewußt verachteten. Mit Mühe erlangte er späterhin die Einwilligung seines Bruders, eines kleinen Geschäftsmannes in einem Dorf bei Sarajevo, zum Übertritt in ein humanistisches Gymnasium. Es war für ihn ein großer Tag, als er dort in der vierten Klasse begann — mit Julius Caesar. Als er 1912 wegen Teilnahme an einer politischen Demonstration relegiert wurde, wechselte er nach Serbien hinüber und wollte dort als Freiwilliger in die Armee eintreten; aber Major Vojin Tankosić, der Führer der Komitadschi, wies ihn mit einem Scherz zurück: „Du bist zu klein, um gegen die wilden Türken zu kämpfen.“ Princip litt unter seinem geringen Körpermaß; jener Spott bestärkte ohne Zweifel seinen Entschluß, Tankosić und den anderen zu zeigen, daß er dennoch etwas darstelle und einer großen Tat fähig sei.

Jene, die Princip kannten, beschrieben ihn als einen treuen, selbstlosen Freund, heißgeliebt von seinen Kameraden und begabt mit Humor, oftmals von schneidender Schärfe. Auf der bedeutungsschweren Reise von Belgrad nach Sarajevo las er die Zeitung; plötzlich schrie er: „Der Zar ist ermordet worden!“ Er wollte, kommentierte er später, am Mienenspiel seiner Mitverschwörer ablesen, ob sie wohl wirkliche Revolutionäre seien.

Agrarischer Terrorist

Nach Ansicht eines überlebenden Mitglieds der Verschwörung hatte Princip große Ähnlichkeit mit einem Hajduken, einem Einzelgänger also, der die Wahrung des Rechts selbst in die Hand nimmt, die großen Herren attackiert und insgesamt so etwas wie agrarischen Terrorismus betreibt. Unmittelbar nach dem Mord, als Princip dem Untersuchungsrichter Pfeffer vorgeführt wurde, beschrieb ihn dieser wie folgt:

Der junge Mörder, erschöpft von den empfangenen Schlägen, konnte zunächst kein Wort herausbringen. Er war ungewöhnlich klein, abgezehrt, von gelblicher Blässe und scharfen Zügen. Es war schwierig, sich vorzustellen, daß ein so hinfällig aussehendes Individuum eine so schwerwiegende Tat begangen habe. Auch seine klaren blauen Augen, brennend und durchdringend, aber von heiterer Gelassenheit, hatten nichts Grausames oder Verbrecherisches in ihrem Ausdruck. Sie sprachen von angeborener Intelligenz, von stetiger und harmonischer Energie. Als ich ihm sagte, daß ich der Untersuchungsrichter sei, und ihn fragte, ob er sich nun genügend gesammelt habe, um zu sprechen, antwortete er völlig klar und mit einer Stimme, die im Verlauf der Befragung immer kräftiger und selbstgewisser wurde.

Vom ersten Verhör an, den ganzen Prozeß hindurch und während der dreieinhalb Jahre im Gefängnis Theresienstadt — die Knochentuberkulose ließ seinen Körper buchstäblich verfaulen, ein Arm mußte amputiert werden — blieb Princip bei ein und derselben Erklärung für sein Verbrechen. Sie lautete: „Rache und Liebe.“ Die Rache bezog sich auf die Situation der Leibeigenen in Bosnien: „Ich habe gesehen, wie es mit unserem Volk ständig bergab geht. Ich bin der Sohn eines Leibeigenen und weiß, was in den Dörfern passiert.“ Die Liebe aber galt „meinem Volke“. In solcher Geistesverfassung starb er am 28. April 1918. Am 29. Januar 1937 nutzte Karl Radek das Schlußwort in seinem Moskauer Prozeß zu einem Hinweis auf Princips stoische Standhaftigkeit im Kerker.

Princip und seine Komplizen hatten nichts weiter gegen Erzherzog Franz Ferdinand im besonderen; sie waren bereit, jeden beliebigen habsburgischen Würdenträger zu töten, als Protest gegen die Bedingungen, unter denen ihr Land leben mußte. Sie hatten gegen Kaiser Franz Joseph konspiriert, gegen dessen Minister Burian und Bilinski sowie gegen alle habsburgischen Gouverneure in Bosnien.

Überleben durch Hoheit

Als Kaiser Franz Joseph im Sommer 1910 Bosnien und Herzegovina besuchte, wurde er beinahe ermordet. Am 3. Juni stand der Student Bogdan Zerajić auf dem Bahnhof von Mostar, mit einem Revolver in der Tasche, nur wenige Schritte vom alten Kaiser entfernt. Zerajić schoß nicht, weil „die Hoheit, die vom Gesicht des alten Mannes ausstrahlte, ihn so tief beeindruckte“. Aber einige Tage später, am 16. Juni, feuerte er fünf Schüsse auf General Varešanin, den kaiserlichen Gouverneur von Bosnien; mit der sechsten Kugel beging er Selbstmord. An seinem Grab schwor Princip im Jahr 1912, er werde ihn rächen und den ersten Habsburger töten, dessen er habhaft werden könne; am Vorabend des 28. Juni 1914 legte er einen Kranz auf dieses Grab.

Princip und seine Freunde lebten in einem besonderen psychischen Zustand, sozusagen mit erhöhter Seelentemperatur. Sie beschäftigten sich unablässig mit den verschiedensten Komplotten; sie gingen mit Plänen zu Bett, und erwachten mit Plänen, und sie kämpften ständig mit ihrem Gewissen, voll Unruhe und in ständiger Überreiztheit. Sie suchten nach einem Ziel und fühlten sich von jeder Seite behindert.

Diese jungen Menschen waren nicht nur Rebellen gegen eine Fremdherrschaft, die ihr Land im kolonialen Zustand hielt; sie rebellierten auch gegen ihre Eltern und Lehrer, denen sie mit der Beschuldigung des Konservativismus und der Sklavengesinnung entgegentraten. Insbesondere haßten sie die lokale serbische Bourgeoisie. Am Vorabend des 28. Juni 1914 sagte Princip: „Am liebsten würde ich ganz Carsija (das Handelsviertel von Sarajevo) in eine Zündholzschachtel quetschen und anzünden.“ Verwandte Gefühle äußerte ein Mitverschwörer, Cabrinović, gegenüber dem Untersuchungsrichter: „Ich spielte mit der Idee, in den Sabor zu gehen und von der Galerie eine Bombe unter die Abgeordneten zu werfen, denn ich bin überzeugt, daß sie feige Schufte sind, die nicht arbeiten und, auch wenn sie einmal zu arbeiten versuchen, nichts zustande bringen.“

Princip und seine Freunde glaubten, daß die Veränderung der Gesellschaft nur möglich sei durch den Einfluß moralisch starker und sozial entwickelter Persönlichkeiten, die durch ihr Beispiel neue, bessere Menschen schaffen würden. Diese Haltung ist sowohl von Tschernischewskij beeinflußt, wie auch vom Begründer des serbischen Sozialismus, Svetosar Marković. „Insbesondere in kleinen Ländern“, sagt J. Skerlić zur Kennzeichnung des sozialistischen Idealismus von Marković, „sind die Ideen nur soviel wert wie die Männer, von denen sie vertreten werden.“

Princip und seine Freunde glaubten an den sittlichen Wert des einfachen Lebens und der gegenseitigen Hilfeleistung; in ihrem Privatleben neigten sie zum revolutionären Asketizismus und Puritanismus. Sie tranken nicht; einem Mädchen Liebe zu bezeugen galt ihnen als Verletzung von dessen Würde; die physiologische Seite des Lebens hatte wenig Bedeutung für sie.

Vladimir Gaćinović, der Ideologe des Kreises um Princip, schrieb in einem für Trotzkij bestimmten Artikel: „In unserer Organisation gilt die Regel der Enthaltsamkeit von Liebe und Alkohol; sie müssen mir glauben, wenn ich ihnen sage, daß wir alle dieser Regel treu bleiben.“ Princip sagte Dr. Pappenheim, daß er noch niemals mit einem Mädchen zu tun gehabt hatte; dasselbe gilt von Zerajić, der im Alter von 25 Jahren starb. In einem Aufsatz über den Tod von Zerajić kritisierte Gačinović die ausschließlich materialistische Haltung mancher bosnischer Studenten im Ausland, deren „physische, intellektuelle und moralische Degeneration“ sich in stundenlangem müßigem Kaffeehaussitzen erweise. „Diese jungen Menschen“, schloß er, „verlieren die auffallendsten Züge der inneren Schönheit unserer Rasse, indem sie in der Gosse von Wien, Berlin und Paris aufsaugen, was an Europa am häßlichsten ist, und gerade das von dort zu uns bringen.“

Revolution durch Literatur

Die Welt Princips und seiner Freunde war die Literatur. Im Prozeß sagte ein Zeuge, der Princip vom Gymnasium her kannte, daß „Gavrilo immer behauptete, daß keiner literarisch besser beschlagen sei als er“. Princip selbst betonte in seinen Gesprächen mit Dr. Pappenheim immer wieder, was Bücher für ihn seit seiner Kindheit und erst recht während seiner Haftzeit bedeuteten: „Immer ernst, mit Büchern, Bildern usw. ... einsam, immer in Bibliotheken ... immer lesend und selten sich in Diskussion einlassend ... hatte eine hübsche Bibliothek, weil er immer Bücher kaufte ... Bücher bedeuten für ihn das Leben ... daher ist es jetzt für ihn schwer ohne Bücher ... las viele anarchistische, sozialistische, nationalistische Pamphlete, schöne Literatur und überhaupt alles ...“ Die Polizei fand in Princips Zimmer, außer zwölf Schuß Munition und einem Portrait Bakunins, Bücher von Puschkin, Gorki, Leonid Andrejev, Fürstbischof Njegos, Björnson, eine Übersetzung der „Lügen des Parlamentarismus“ von Ramuz, Bakunins „Pariser Commune“, André Girards „Anarchie“ und ein Werk mit dem Titel „Liebe und Funktion des Weibes“.

Literatur und literarische Klubs spielten eine hervorragende Rolle in der Arbeit der geheimen Gesellschaften, denen Princip und seine Freunde angehörten. Die Literatur formte ihre Ideen und gab ihnen den nötigen organisatorischen Vorwand. Der Mangel an politischer Freiheit zwang dieses Junge Bosnien, in literarischer Aktivität einen Ausweg zu suchen, der überdies bei den politischen wie pädagogischen Autoritäten den geringsten Verdacht wachrief.

Das Junge Bosnien

Gedichte zu schreiben galt als ein Kennzeichen für besonderen Rang. Tatsächlich brachte das Junge Bosnien eine Reihe begabter Poeten und Literaten hervor. Einige von ihnen — Miloš Vidaković, Jovo Varagić, Dragutin Mras machten sich noch vor Vollendung ihres zweiten Jahrzehnts einen Namen als Lyriker. Vladimir Gaćinović war überdies Literaturkritiker; von ihm stammt eine Studie über J. M. Guyau, den Begründer der anarchistischen Ethik (wie Kropotkin ihn nannte). Nur wenige aus dem Kreis des Jungen Bosnien überlebten den Ersten Weltkrieg, darunter der Träger des Nobelpreises für Literatur 1962, Ivo Andrić; er war Ende 1911 Vorsitzender der geheimen Gesellschaft „Srpsko-hrvatska napredna omladina“, welcher auch Princip angehörte.

Alle diese Männer strebten, wie in der Politik, so auch in der Kunst nach Neuerung. Insbesondere wandten sie sich dem Symbolismus und dessen neuer Ästhetik zu, um solcherart ihre Verachtung alles Konservativen zu bezeugen.
Obgleich sie die Theorie des sozialen Realismus, wie Tschernischewskij und Markovic sie aufgestellt hatten, zu akzeptieren bereit waren und auch deren Glauben teilten, daß die Literatur eine Waffe zur Emanzipation der Gesellschaft sei, fanden sie dennoch in der „Moderna“ — so nannten die slowenischen und kroatischen Schriftsteller den Symbolismus — ein geeignetes Mittel, ihre Ungeduld mit der abgestandenen, archaischen Literatur ihrer Heimat auszudrücken. Das Junge Bosnien revoltierte mittels des „vers libre“.

Im Kreise des Jungen Bosnien hatte Princip das geringste lyrische Talent, obgleich er bis zu seinem letzten Atemzug mit dem Blechlöffel Verse an die Kerkerwand schrieb. Seine poetischen Neigungen sind im Geflecht der politischen und persönlichen Motive für sein Verbrechen gewiß nicht irrelevant. Man weiß, daß er zweimal versuchte, seine Gedichte Freunden zu zeigen, denen er besonders vertraute. „Zitternd wie ein Kind“ brachte er Dragutin Mras Verse über Rosen, die auf dem tiefen Grund des Meeres für die Geliebte blühen; das von Mras gesprochene Urteil war negativ. Beim zweiten Mal gelangte Princip nicht so weit; er gestand Ivo Andrić, daß er ein Gedicht geschrieben habe, Andrić erwiderte, er möge es ihm bringen, aber Princip wagte es nicht. Als Andrić fragte, warum er es nicht gebracht hatte, antwortete Princip leichthin, daß er es vernichtet habe.

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