MOZ, Nummer 56
Oktober
1990

Postindustrieller Sozialismus

Eine exemplarische Kritik an André Gorz

„Der Verräter“ ist die Geschichte eines Individuums in der fremden, feindlichen Welt des 20. Jahrhunderts; manchmal taucht ein verirrtes ‚Ich‘ auf, welches am Ende den Text für einen gewissen André Gorz beansprucht. Schreiben als Akt der Distanzierung des Realen zugunsten einer abwesenden, nur bedeuteten, imaginären Realität. Als der Versuch, die ekelige, infame Welt durch die Form der allgemeinen Negation abzuschaffen und für-sich zu sein. Verrat.

Heute kennen wir diese ehemals anonyme Stimme. In den fünfziger Jahren entstehen, neben „Der Verräter“ — eine Autobiographie —, die Grundlagen seines Denkens, welches ab Mitte der sechziger Jahre bis heute Anlaß kontroversieller Diskussionen in der traditionellen und neuen Linken sein sollte: die „Fondements pour une morale“ und „La morale de l’histoire“. Diese Texte bilden die Basis des Versuches einer Synthese von Marxismus und Existentialphilosophie, welcher in der Folge schrittweise und implizit entwickelt wird. Gewissermaßen ein stärkeres Einschreiben der Problematik des Individuums in die Marxsche philosophische Anthropologie, welche jener vor allem in seinen Frühschriften entworfen hatte. Von diesem Fundament aus schreitet Gorz nach vorne, vermittelt die Philosophie mit der erlebten und erfahrenen Wirklichkeit, vollzieht jene Bewegung der Überschreitung des Realen, welche wir kennen als z.B. „Abschied vom Proletariat“ (1980), „Wege ins Paradies“ (1983) und zuletzt als „Kritik der ökonomischen Vernunft“ (1989).

Eine Denkbewegung, welche ihn von der allgemeinen Negation zur bestimmten treibt. Er verabschiedet die Reinheit des Geistes zugunsten eines politischen und philosophischen Engagements: „Andre Gorz ... gehörte zur engeren ‚Sartre-Familie‘, zählte zu den großen Vordenkern der Neuen Linken, inspirierte eine ganze Generation von Wachstums- und Atomkraftkritikern, formulierte wesentliche Grundlagen einer politischen Ökologie und stiftete die neuere sozialpolitische Debatte um das von der Arbeit entkoppelte Sozialeinkommen an“, resümiert Claus Leggewie.

Es ist eben dieses Engagement, welches Gorz in seinem letzten Buch „Kritik der ökonomischen Vernunft“ in allen Fäden wieder aufnimmt und was ihn im Taumel der Ereignisse des Zusammenbruchs der realsozialistischen Systeme für viele ‚westliche‘ Linke als Rettungsanker erscheinen ließ. Das Produkt dieses Ausklammerungsversuches ist — besonders in der BRD — euphorische Kritiklosigkeit. Das wenige an Kritik artet andererseits aus in die reine Orthodoxie marxistischen Denkens, welche mindestens ebenso peinlich erscheint. Gemeinsam ist all diesen Rezeptionen das bloße Wahrnehmen der Überschreitung, ohne Auseinandersetzung mit den Fundamenten.

Die ‚Kritik‘ als programmatischer Aufruf, die Mythen, welche der Modernisierungsprozeß selbst hervorbrachte, zu zerstören und die „reflexive Modernisierung“ (Ulrich Beck) der Moderne voranzutreiben, steht mit Einschränkungen im Geiste der radikalen Aufklärungskritik eines Max Weber, Edmund Husserl und vor allem Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Und damit im Gegensatz zum französischen postmodernen Zeitgeist, der das, was „in Wirklichkeit die Krise der vernunftwidrigen, quasireligiösen Inhalte, auf die eine selektive und einseitige Rationalisierung“ in Gestalt des Industrialismus aufbaute, als Krise der Vernunft und Ende der Moderne verkündete. Gorz versucht die Herausarbeitung ontologischer, existentieller Grenzen der Rationalisierung, deren Überschreitung nur um den Preis von „vernunftwidrigen Pseudo-Rationalisierungen“ möglich ist, welche letztlich die Aufklärung in ihr Gegenteil verkehren und den Menschen, anstatt ihn zu befreien, in eine neue Herrschaftsstruktur einschreiben.

Die Gorzsche Kritik der Megatechnologie, der hochspezialisierten Arbeitsteilung, der Kolonisierung der Lebenswelt durch die ökonomische Rationalität und des entfremdeten, rein quantitativen, da mathematisierten Denkens als Grundlage dieser Erscheinungen ist nun nicht bloß „normativ — kulturkritisch moralisierend“ (Götz Rohwer), sondern steht auf dem Fundament des leiblichen In-der-Welt-Seins. In den 1946-1955 entstandenen „Fondements pour une morale“ hatte Gorz versucht, stärker als Sartre eine leibliche Verankerung moralischen Engagements zu skizzieren. Das Existenzbewußtsein, das „präreflexive cogito“ (Sartre), welches eine untrennbare „Einheit mit dem Bewußtsein bildet, dessen Bewußtsein es ist“ (Sartre) und das reflexive cogito allererst möglich macht, wird wesentlich aus der Qualität des leiblichen Er-lebens gespeist. Es ist dieses Er-leben, welches den „ureigenen Riß“ erzeugt, der „das individuelle Subjekt daran hindert, völlig in der ‚Identität‘ aufzugehen, die ihm seine soziale Zugehörigkeit verleiht“. Hier liegt die Quelle der Autonomie des Ethischen und des Politischen. Der „ureigene Riß“ ist „das Ferment von Negativität in jeder Kultur, das Ferment des Zweifels inmitten der praktischen Gewißheiten, das Ferment der Fremdheit inmitten der Vertrautheit, des Unsinns mitten im Sinn“, also potentielle emanzipatorische Sprengkraft.

Natur als Abstraktion

Wird diese Qualität — wie in der Aufklärung seit Francis Bacon durch die reine Mathematisierung der Natur — negiert, muß also auch das Denken selbst verkümmern, kritische Reflexionsfähigkeit verlieren. So wird das möglich, was Horkheimer und Adorno „Dialektik der Aufklärung“ nannten und uns an den Abgrund der Apokalypse gedrängt hat. Das Selbst ist nichts als transzendentales oder logisches Subjekt, ist Ausgeburt jenes anthropozentrischen Denkens, das uns die Furcht vor der Unbestimmtheit der Natur dadurch nehmen will, insofern sie unterworfen wird. Natur nicht mehr als Er-leben, sondern als Abstraktion. Das Ideal des Menschen als Welt- und Selbstschöpfer, das in der „Produktion einer Welt ohne sinnliche Werte“ seine höchste Entfaltung als „selbstherrlicher Intellekt“ (Horkheimer/Adorno) findet.

Dieses Ideal beruht auf dem „patriarchalen Paradigma des Mannes als Jäger/Krieger und seiner dualistischen Weltsicht und dichotomen Logik“ (Maria Mies). Das Herrschaftsdenken über die Natur als ursprünglich gesetzte Hierarchie von Natur und übergeordnetem Menschen spiegelt sich im aristotelischen Ansatz der Dualität von Notwendigkeit und Freiheit. In der griechischen Philosophie schließen sich beide Reiche aus. Frei sind Individuen nur dann, insofern sie sich den Notwendigkeiten entziehen können. Die Hierarchie von freien Männern und unfreien Frauen und Sklaven in der griechischen Sklavenhaltergesellschaft wie auch von Kapital und Arbeit bzw. Männern und Frauen im Kapitalismus sind gesellschaftliche Kristallisationen dieser Spaltung.

Marx nimmt diese Dualität in abgemilderter Form wieder auf. Die beiden Reiche schließen sich nun nicht mehr aus. Vielmehr ist das Ideal der Existenz der gleitende Übergang der Individuen zwischen beiden Sphären, wobei das Reich der Notwendigkeit im Sinne der Überschreitung von Natur durch die volle Entwicklung der Produktivkräfte minimiert werden muß, um die freie Entfaltung der Individualitäten als Sinn der Geschichte möglich zu machen.

Dieses Paradigma bleibt auch bei Gorz. Die Basis seiner „realen Utopie“ eines postindustriellen Sozialismus als „Gesellschaft der befreiten Zeit“ verbindet ihn zugleich mit dem späten Marx. „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zwänge bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. ... Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung“ (Marx). Die freie Entfaltung der Individualitäten als potentiellen Sinn der Geschichte kann es nur geben, insofern die Notwendigkeit dieser dualen Logik akzeptiert wird. Das patriarchale Paradigma steht durch die Anklage der Naturausbeutung und der Unterdrückung der Individuen bei Gorz in einem gedämpften Licht. Doch Herrschaft ist hier immer schon mitgedacht, da die ursprüngliche Hierarchie bleibt. Schon Horkheimer und Adorno hatten auf diesen Punkt aufmerksam gemacht: „Die Herrschaft bis ins Denken selbst hinein als unversöhnte Natur zu erkennen aber vermöchte jene Notwendigkeit zu lockern, welcher als Zugeständnis an den reaktionären common sense der Sozialismus selbst vorschnell die Ewigkeit bestätigte.“

Mikroelektronik total

Die Beibehaltung dieses Ansatzes zeitigt weitreichende Konsequenzen im Gorzschen Denken. Zunächst wirkt sie auf sein Verständnis von Technologie zurück, welche als hochentwickelte notwendig ist zur Minimierung des Reiches der Notwendigkeit, um zuallererst die „Wege ins Paradies“ zu ebnen. Gorz hatte sich vom Progressismus der traditionellen Linken schon längst verabschiedet, indem er die Korrelation von Produktionsund Herrschaftstechniken in der industriellen Megamaschine herausgearbeitet und gezeigt hatte, daß „die destruktive Gewalttätigkeit der Menschen gegen sich selbst ... in den entmenschlichten Megatechnologien angelegt“ ist.

So steuert er aber auf ein Dilemma zu, welchem er sich dadurch zu entziehen versucht, daß er auf die kleinen, niedlichen, handlichen, flexiblen, sauberen, menschenfreundlichen, friedlichen und ökologischen neuen Technologien der dritten Industriellen Revolution setzt. Auf Geräte, welche „stumm“ sind, da „ihr Aussehen nichts mehr von ihrer Bewandtnis verrät“ (Günther Anders). Es liege an uns, diese Geräte für die Emanzipation im Sinne mikrosozialer Selbstgestaltung und Selbstbetätigung zu nutzen oder in der Barbarei einer totalitären „Selbstüberwachungsgesellschaft“ (Jacques Attali) zu versinken. Gorz entfaltet einen reflektierten, aber nichtsdestotrotz Progressismus. Er negiert Forschungs- und Produktionszusammenhänge der neuen Technologien, um sich einzig auf Anwendungszusammenhänge zu konzentrieren. Allein durch diese verkürzende Negation ergibt sich die Ambivalenz der Anwendung. Werden erstere mitgedacht, so offenbart sich der prinzipiell totalitäre Charakter der Mikroelektronik. Gorz ist Opfer ihrer „Stummheit“.

Das patriarchale Paradigma besiegelt einen prinzipiellen Status von Entfremdung, welche nur minimiert und nicht überwunden werden kann. „Die empirische Welt ist nicht so beschaffen, daß sich die Freiheit ihrer als Mittel zu ihrer Selbstverwirklichung schaffend bedienen könnte. Entfremdung besteht in der Unmöglichkeit, das Gegebene zum Mittel irgendeines lebenswerten Zwecks zu machen.“ Wir müssen uns demnach das Gegebene allererst durch spezialisierte Arbeitsteilung und Mikroelektronik möglichst rationell aneignen, um aus der Dimension der vitalen Werte auf die Ebene der ästhetischen und letztlich der ethisch-praktischen aufsteigen zu können. Freilich nicht als kulturelle Sprünge, sondern als immer wiederkehrende Aufgabe der menschlichen Existenz. „Das Ideal ist eine Existenz, in der reibungslos von einer Ebene zur anderen übergegangen werden kann.“ Diese Dreiheit kann nur negativ überwunden werden als Negation des Individuums durch die Aufgabe der fakultativen ästhetischen und Freiheitswerte und die bloße Existenz in der Erhaltung des nackten Lebens, was allein notwendig ist. Wieder findet sich die Festschreibung von Natur als feindlicher Kraft. Moralität als Freiheit existiert nur in der Befreiung des Menschen von den äußeren Notwendigkeiten, da er nur dann frei sein kann, insofern er das, was er tut, auch wollen kann.

Der vordergründig emanzipatorische Charakter der Gorzschen Gedanken versinkt in die hintergründige logische Kontinuität eines mit der Natur unversöhnten Denkens.

Effiziente Dorfgemeinschaft

Das Gorzsche Sozialismusverständnis, als „Unterordnung ökonomischer Zwecke unter gesellschaftliche“ weit gefaßt, erscheint offen und internationalisierbar — im Gegensatz zum sattsam bekannten ökonomischen Sozialismus der real-nicht-mehr-existierenden sozialistischen Systeme, welche auf der Grundlage eines materiellen Überflusses wachsen sollten. Tatsächlich aber steuert Gorz auf eine Theorie von zwei Klassen von Sozialismus zu: „Sozialismus de luxe für den Norden und Armutssozialismus für den Süden“ (Saral Sarkar). Für die sogenannte „Dritte Welt“ schlägt Gorz mit Alvin Toffler vor, diesen Ländern — in welchen der Eigenproduktion noch hohe Bedeutung zukommt und Geldwirtschaft wie Warenproduktion noch unterentwickelt sind — einen direkten Übergang „von der vorindustriellen ... zur postindustriellen Zeit“ zu ermöglichen, um ihnen so den „mühsamen und kostspieligen Umweg über den Industrialismus“ zu ersparen. Die Dorfgemeinschaften könnten nach dieser Ansicht ihrer Eigenproduktion mit Hilfe der Mikroprozessoren eine unerhörte Effizienz verleihen.

Es zeigt sich ein versteckter Ökonomismus, der implizit eine untere Grenze der Produktivkraftentwicklung als Voraussetzung sozialistischer Verhältnisse festschreibt. Und damit sind diese nicht universalisierbar, da dieser Entwicklung allein von der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen her eindeutig Grenzen gesetzt sind. Ganz abgesehen vom Eurozentrismus, den dieses Denken entfaltet, insofern es dem ’Rest der Welt’ mit seinen differenten Strukturen und Denkweisen unseren zweifelhaften Ausweg aus der industriegesellschaftlichen Sackgasse überzustülpen versucht. Der Industrialismus erscheint als notwendige Stufe auf dem Weg zur Menschwerdung, die als freie Entfaltung der Individualitäten einzig postindustriell denk- und realisierbar erscheint.

Bleibt also die Frage, wie der feminine Charakter des postindustriellen Sozialismus à la Gorz, der entweder „feminin sein oder ... nicht sein“ wird, geprägt ist. Bei Gorz erscheint er als Überstülpung femininer Werte wie Zärtlichkeit, Gegenseitigkeit, Uneigennützigkeit und Zuwendung über eine patriarchale Basis.

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