MOZ, Nummer 51
April
1990
Bulgarien:

Pulverfaß am Balkan

Die 1989er-Herbstrevolution hat auch vor Bulgarien nicht halt gemacht. Der jahrzehntelang engste Partner des großen sowjetischen Bruders brennt an drei Lunten: der drohenden sozialen Verelendung, dem ökologischen Desaster und dem anti-türkischen Nationalismus.

„BKP ... Mafia! BKP ... Mafia!“ Jedes Mal, wenn aus 200.000 Kehlen das Kürzel für die Bulgarische Kommunistische Partei erschallt, streckt der ganz in patriarchal-orthodoxes Schwarz gekleidete Priester die geballte Faust mit cäsarisch nach unten zeigendem Daumen der demonstrierenden Menge entgegen. „Nieder, nieder, nieder mit der BKP!“ Als Bühne dient dem bärtigen Gottesdiener die Treppe der Nationalbank, vor der sich am 25. Februar die bislang größte regierungsfeindliche Menschenmenge Sofias versammelt hat.

Emotionsgeladen auch die parallel dazu stattfindende Kundgebung direkt vor der Alexander Newskij-Kathedrale, dem Wahrzeichen der bulgarischen Hauptstadt. Dort predigt ein orthodoxer Priester einer mickrigen 300köpfigen Demonstrantenschar via überdimensionaler Lautsprecheranlage. „Wo sind die wahren Rechten in diesem Lande?“ fragt er über den gespenstisch leeren Platz, und ein knappes Dutzend Jugendlicher hebt die Hand zum Hitlergruß.

Die kirchlichen Autoritäten sind allgegenwärtig, in der Opposition wie in der regierenden KP, bei den streng antitürkischen und anti-islamischen Nationalisten sowieso. Und seit KP-Chef Petar Mladenov Mitte Februar an einer Totenmesse in der Sofioter Kathedrale teilnahm, um damit öffentlich die Versöhnung von Teufel und Weihwasser zu demonstrieren, gilt die bulgarisch-orthodoxe Kirchen-Nomenklatura als die unumstrittenste gesellschaftliche Kraft im Lande.

Zu Unrecht, denn wenn überhaupt irgend jemand nichts mit Glasnost zu tun haben wollte, dann waren es neben der alten Schivkov-KP die Mannen um den Sofioter Patriarchen. Nach dem Sturz Schivkovs und dem gesellschaftlichen Autoritätsverlust der Kommunistischen Partei bleiben die Kirchenväter dennoch in Amt und Würde. Die politische Opposition indes organisiert fast täglich Massenkundgebungen mit antikommunistischen Losungen — wie eben jene bisher größte am letzten Sonntag im Februar.

Der Haß gegen die ehemalige Parteiführung ist tief verwurzelt. Die Gesichter vieler Demonstranten tragen gnadenlose Züge. „Wenn jetzt wer nach gewaltsamer Rache riefe, dann ziehen sie los“, meint meine bulgarische Begleiterin. Und eine junge Demonstrantin am Rande der Kundgebung: „Mir ist etwas mulmig. Ich sehe hier viele meiner Arbeitskollegen in den ersten Reihen gegen die KP schreien. Noch vor einem halben Jahr waren dieselben die fleißigsten Denunzianten im Dienste der Partei. Je mehr Opportunisten hier sind, desto schwärzer sehe ich für die Zukunft Bulgariens.“

Um 18 Uhr besteigen ein paar hundert Demonstranten — auf eine indirekte Aufforderung des Oppositionsführers Schelju Scheljew — „... seht das Mausoleum, dieses Symbol orientalischen Totalitarismus’ ...“ — das nahe Dimitrov-Mausoleum und fordern die Herausgabe der Mumie des sozialistischen Staatsgründers. Nur die schweren Eisentore verhindern, daß die Menge Zeuge einer Leichenschändung wird. „Das Mausoleum muß weg!“ so am Tag darauf auch der Sprecher der Radikalen Partei, die als kleine Gruppe im oppositionellen Dachverband SDS („Union demokratischer Kräfte“) Mitorganisatorin der Massenkundgebung war. Die versuchte Leichenschändung bezeichnet Michael Nedelschev als „Geste der Freude und der Freiheit. Es war Karneval. Das Dimitrov-Mausoleum ist für uns eine Barbarei, weil es nicht in der christlichen, sondern in der totalitären Tradition steht“. Die ganze erste Märzwoche hindurch stehen zehntausende Menschen drohend vor dem Mausoleum. Abend für Abend zünden sie ihre Kerzen an und singen das ‚Vater unser‘. Die Wachen am Tor zur Grabstätte Dimitrovs werden nicht verstärkt. Sechs Soldaten in der Phantasieuniform einer studentischen, antiosmanischen Revolutionsbewegung der 1860er Jahre patrouillieren um das schwach umzäunte marmorne Gebäude.

Kundgebung der 200.000, Sofia, 25. Februar 1990

Bulgarische Wiedergeburt

Das königlich-zaristische Bulgarien stand bis 1944 an der Seite Hitlers, ohne daß es sich de facto im Kampf gegen die Alliierten befand. Der Zweite Weltkrieg ging in dieser Ecke Europas an Menschen und Gebäuden relativ spurlos vorüber. Nicht jedoch die innerstaatliche politische Auseinandersetzung. Nach einem pro-zaristischen Militärputsch im Jahre 1935 ging aus den Wahlen 1940 eine quasi-faschistische Einheitspartei als Siegerin hervor. Die über 30 oppositionellen linken Abgeordneten wurden ein Jahr später aus dem Parlament verjagt. Im Untergrund bildeten daraufhin demokratische Offiziere zusammen mit der später KP genannten Arbeiterpartei, den Radikalen, Sozialdemokraten und dem Bauernbund die „Vaterländische Front“, die am 9. September 1944 — nachdem die Sowjetunion Bulgarien den Krieg erklärt hatte — das sozialistische Bulgarien ausrief. Die Abgeordneten des faschistischen Parlaments wurden — nach Schauprozessen hingerichtet, die Bauernpartei — nach der Liquidierung ihres Führers Nikola Petkov — in eine Liaison mit den Kommunisten gezwungen, die bis in diese Tage die politische Landschaft Bulgariens bestimmte.

Der 9. September galt seither als Nationalfeiertag — bis am 26. Februar dieses Jahres die Regierung Mladenov die Ausrufung des sozialistischen Bulgariens im Jahre 1944 als Grund für einen nationalen Gedenktag offiziell verwarf. Seither — die Änderung von politischen Symbolen im Osten kommt der Wirklichkeit kaum nach — gilt der 3. März, der Tag der Befreiung Bulgariens vom osmanischen Reich im Jahre 1878, als konstitutiv für das Ex-Ostblockland auf seinem Weg in Richtung Europa.

Statt des pervertierten sozialistischen Experiments gedenkt man nun eben der nationalen bulgarischen Wiedergeburt in Abgrenzung an die 500 Jahre dauernde türkisch-osmanische Herrschaft. Folgerichtig wird auch die bisher größte bulgarische Zeitung, das KP-Organ „Arbeitersache“, in „Wiedergeburt“ umgetauft.

Der 10. November 1989

Als „bulgarische Wiedergeburt“ wird ab sofort auch der 10. November 1989, der Tag der Vertreibung Todor Schivkovs von der politischen Macht, gefeiert.

Die entscheidende ZK-Sitzung zum Sturz des 70jährigen Diktators, der sein Land jahrzehntelang im Stile eines nach außen hin gnädig wirkenden Patriarchen führte, im Inneren jedoch erst Ende der 70er Jahre gnadenlos jede politisch-oppositionelle Regung erstickte, fand am 9. November vorigen Jahres statt. Was von den Menschen vor den Fernsehschirmen als befreiender Akt empfunden wurde, ist für politische Insider ein interner Parteiputsch. „Das ganze war eine Palastrevolution. Die Signale dafür kamen aus Moskau“, meint etwa Koprinka Tscherwenkowa, Chefredakteurin der Sofioter Zeitschrift „Volkskultur“ und Initiatorin einer KP-internen Oppositionsgruppe. „Wahrscheinlich war es ein Putsch“, meint auch Vesselin Antov, Konsulent der bulgarischen Nachrichtenagentur „Sofiapress“.

48 Stunden lang wurden alle strategisch wichtigen Plätze der Hauptstadt und insbesondere alle möglichen Aufenthaltsorte und Kontaktstellen Todor Schivkovs von Militärs bewacht. „Es war eine perfekte Inszenierung“, führt Koprinka Tscherwenkowa ihre Innenansicht der Ereignisse aus. „Schon einige Tage zuvor waren im Park hinter dem Dimitrov-Mausoleum demonstrierende Ökoglasnost-Leute von der Polizei geschlagen worden. Es gab keine Verletzten. Trotzdem entwickelte sich daraus ein riesiger internationaler Skandal, und Radio Free Europe hat die ganze Aktion immer wieder als Topmeldung gebracht. Und doch bin ich mir nicht sicher, ob dieser Machtwechsel nicht eigentlich von Moskau initiiert wurde.“

Ein mögliches gemeinsames sowjetisch-amerikanisches Interesse ortet Tscherwenkowa in der Angst der beiden Supermächte vor einer vereinigten EGFestung in Westeuropa: „Westeuropa soll über die Revolutionen in Osteuropa destabilisiert werden. Durch die Umwälzungen im Osten kann die EG nicht wie geplant 1992 ihren Binnenmarkt konstruieren, sondern ist gezwungen, anders zu handeln.“

Und daß dabei den Sowjets nicht ganz Osteuropa aus den Händen gleitet, dafür toleriert man in Washington die politische Kosmetik, wie sie in Sofia und Bukarest versucht wird. Am Balkan, so scheint es, könnte sich die runderneuerte Nomenklatura durchaus an der Macht halten. Vor allem auch deshalb, weil die Opposition außer ihrer Gegnerschaft zur KP kein programmatisches Profil besitzt.

Ökoglasnost

Durch eine ganz andere Brille betrachten die außerhalb der KP agierenden Oppositionsgruppen den Lauf der revolutionären Ereignisse. Sie selbst waren es, so der allgemeine Tenor, die ihre eigene Revolution gemacht haben. Demnach hat alles in Ruse begonnen, einer Hafenstadt an der Donau, die die Grenze zwischen Bulgarien und Rumänien markiert. „Hier in Ruse“, so die Vorsitzende der örtlichen Grünen Partei, Swoboda Stefanowa, „haben wir schon im Jahre 1987 die ersten spontanen Demonstrationen gegen das jenseits der Donau gelegene Chemiewerk in Giurgiu gehabt.“ 250 Teilnehmer/innen, großteils Hausfrauen, sind damals mit Einkaufstaschen und Kinderwagen zum Parteihaus marschiert. „An manchen Tagen“, erzählt eine andere grüne Aktivistin, „war soviel Chlor in der Luft, daß sich unsere Nylonstrümpfe einfach zersetzt haben. Alle unsere diesbezüglichen Petitionen und Eingaben hat die Parteiführung einfach ignoriert.“

Stattdessen wurden die Demonstrant/inn/en von der Stadtverwaltung als Gegner/innen der bulgarisch-rumänischen Freundschaft denunziert und politisch verfolgt. Doch die Bewohner/innen von Ruse gaben ihren Widerstand nicht auf. Und aus dem „Komitee zur Rettung von Ruse“ wurde schließlich das erste bulgarienweit agierende oppositionelle Forum „Ökoglasnost“.

Warum Glasnost in Bulgarien von Anfang an mit ökologischem Denken in Verbindung stand, ist auf die — auch im internationalen Vergleich — drastische Umweltsituation des Landes zurückzuführen. Diese ist mehr als triste. Das stalinistische Industrialisierungsideal hat binnen einer Generation aus einem armen Agrarland eine Industriemetropole schaffen wollen. Entstanden sind jedoch völlig unstrukturiert wirtschaftende ökologische Zeitbomben — Chemiekombinate, Stahlwerke, Uranabbaufelder —, die großteils für den Export in die Sowjetunion die heimische Umwelt ruinieren. In Rakowski bei Plovdiv z.B. wird Uran für sowjetische AKWs im Tagbau abgebaut. Auf einer Fläche von 2.000 Hektar strahlt der ganze Boden.
„Dort beträgt die Kindersterblichkeit 39 auf 1.000 Geburten im 1. Lebensjahr“, berichtet Ökoglasnost-Aktivistin Borjana Semerdschiewa. „Das Schlimmste, was dieses Regime gemacht hat“, meint Akademiemitglied Prof. Dimiter Angelov, „war, daß das bulgarische Dorf zerstört wurde. Das Industrialisierungsmodell war völlig realitätsfremd, uns fehlen ja sogar die Rohstoffe dafür.“

Die Hoffnung, daß sich das alles jetzt ändert, bleibt indes äußerst vage.
Schon die Geschichte des Ingenieurs, der während meines Interviews mit Ökoglasnost-Aktivist/inn/en ganz aufgeregt ins Büro kommt, gibt zu denken. Er berichtet vom Dewnjaér Zementwerk, einem riesigen Erbstück stalinistischen Industrialisierungswahns, das nunmehr als japanisch-bulgarisches Joint-venture noch weiter ausgebaut werden soll, um über japanische Vertriebsfirmen für den Export zu produzieren. Ob man dagegen etwas unternehmen könne, fragt der Mann. Hilflos nimmt die Ökoglasnost-Sekretärin die Bürgerbeschwerde entgegen. „Solche Beispiele mehren sich“, meint meine Gesprächspartnerin. Und die wirkliche Gefahr besteht darin, daß Bulgarien mit der Formel kaputte Umwelt plus Perestroika plus korrupter, machthungriger Apparat zum Mistkübel Europas wird.

Die Maske des verhaßten Exdiktators: Todor Schivkov

Südkorea oder Zambia?

„Niemand weiß, welches Wirtschaftsmodell Bulgarien übernehmen soll, das der USA, Südkoreas, Zambias, Japans, ...?“ Latschesar Iwanow, Chefredakteur des größten bulgarischen Wirtschaftsblattes „Ikonomika“, gibt sich sehr pessimistisch. „Ich habe hier acht Ordner mit acht angesehenen Wirtschaftsfachleuten“, deutet er auf einen halbmeterhohen Papierstapel. Zwar wollen alle, von der Reform-KP (eine andere gibt’s de facto nicht mehr) bis zur oppositionellen „Union demokratischer Kräfte“ (SDS), die freie, soziale Marktwirtschaft. Nur wie das gelingen soll, dafür gibt es kein Rezept. 10 Mrd. US-Dollar Netto-Auslandsverschuldung, 50% der Hartwährungseinnahmen für die Zinsrückzahlung, einen Außenhandelsanteil mit dem RGW (Comecon) von über 80% ... die Strukturdaten der bulgarischen Wirtschaft sprechen eine klare Sprache.

Und die sozialen Konflikte nehmen zu. Die unabhängige, der polnischen Solidarnosc vergleichbare Gewerkschaft „Podkrepa“ („Unterstützung“) hat allein im Jänner 1990 300 Streiks registriert. Die Arbeiter/innen fürchten zurecht ihren sozialen Exodus.

„Ich bin für die Einstellung sämtlicher Subventionen“, meint Wirtschaftsjournalist und KP-Mitglied Iwanow. Die bulgarischen Arbeiter/innen jedoch überleben nur mittels gerade dieser Subventionen. 12 Groschen (= 2 Pfennige) kostet das Tramticket in Sofia, wenn man die Lewa am Schwarzmarkt tauscht. Brot, Milch, Mehl — alles für Groschenbeträge zu haben. Die Freigabe der Preise würde bei einem Durchschnittsverdienst von 300-400 Lewa (= 600 österreichische Schillinge, 90 DM) Millionen von Menschen ins Elend stürzen.

„Das zukünftige Bulgarien wird auf der marktwirtschaftlichen Stufe eines Frühkapitalismus stehen, völlig freie Preisgestaltung, Arbeitskräfte ohne sozialen Schutz.“ Iwanow sieht schwere Zeiten auf sein Land zukommen. Er sagt eine Inflation von 2.000% noch in diesem Jahr voraus und fürchtet Brot- und Hungerunruhen wie in Nordafrika und Lateinamerika.

Der Feind ist türkisch

Das soziale Desaster, in das Bulgarien zu schlittern droht, könnte nationalistische Kräfte stärken, die das Bulgarentum auf ihr Banner geschrieben haben. Ihr Feind ist alles Türkische.

Am besten bedient sich die alte KP-Garde dieser chauvinistischen Urtöne. Unter Schivkov wurde Ende 1984 ein Gesetz erlassen, das den ca. 750.000 im Land lebenden Türken, offiziell als bulgarische Muslime bezeichnet, das Tragen ihrer islamischen Namen verbot. Die neue Regierung Mladenov hat zwar dieses Verbot rückgängig gemacht, die anti-türkische Grundstimmung damit freilich nicht beseitigt. Und diese Stimmung reicht bis weit ins oppositionelle Lager hinein. Auf dem Weg nach Europa, eine der meistgehörten Floskeln in Intellektuellenkreisen, ist das islamische, türkische Element hinderlich. „Meine Hoffnung ist“, meint etwa die kritische KP-Dissidentin Koprinka Tscherwenkowa, „daß die islamische Gefahr uns als Europäer konsolidiert. Die Grenze zum Islam muß südlich von uns bleiben.“

Noch schärfere Worte findet der Sprecher des „Komitees zur Verteidigung nationaler Interessen“, Mintscho Mintschev, der sein Hauptquartier in einem Hotel der Sofioter Innenstadt aufgeschlagen hat. „Viele Mohammedaner begreifen sich selbst als ethnische Türken. Das ist allerdings eine Verdrehung der Geschichte, die wir als Bulgaren nicht hinnehmen können.“ Das „Komitee zur Verteidigung nationaler Interessen“ ist eine im ganzen Land verbreitete Organisation. Ihre anti-türkische Deklaration wurde bislang von 800.000 Menschen unterschrieben.

„Wir waren 500 Jahre lang unter türkisch-osmanischer Herrschaft“, erklärt Akademiemitglied Angelov die antitürkischen Ressentiments seiner Landsleute, die 1878 als das Jahr ihrer bulgarischen Wiedergeburt feiern. Geschürt wird dieser nationalistische Konflikt freilich auch von staatlich-türkischer Seite, wo mit pan-türkistischen Versprechungen erst 1989 350.000 Mohammedaner aus Bulgarien zur Völkerwanderung in Richtung Türkei animiert wurden. Über 100.000 von ihnen sind bereits wieder zurückgekehrt, ihre Wohnungen und Häuser allerdings wurden zwischenzeitlich an Bulgaren weitergegeben. Für nationalistischen Sprengstoff ist schon aus diesem Grund gesorgt.

Zwischen „Lenin“ und „Hitler“

Die Opposition

Mein Gesprächspartner ist etwa 30 Jahre alt, männlich, rot eingesprenkelte Krawatte, modern geschnittener Anzug, tritt er mir als Sprecher von „Ökoglasnost“ entgegen. Eine Woche lang habe er schon nicht mehr geschlafen, meint Christo Smolenov und fährt sich nervös über den Scheitel. Der Soziologe begreift sich als typischen bulgarischen Oppositionellen. Gründungsmitglied von „Ökoglasnost“ sowie der KP-internen Fraktion „Alternativ-sozialistische Organisation“ (ASO), wo er mittlerweile — zusammen mit anderen ehemaligen Parteifreunden — den Schwenk zur eigenständigen sozialdemokratischen Partei ASP mitvollzogen hat. Als Ökoglasnostsprecher fühlt er sich der oppositionellen Bewegung verpflichtet, aus seiner Rolle als KP-Dissident schöpft er die politische Kraft, die er seiner Partei ASP (Alternativ-sozialistische Partei) zur Verfügung stellt.

„Demokratie ist anstrengend“, lacht er und beendet nach 20 Minuten unser Gespräch. „Heute tagt der Runde Tisch, Sie müssen mich jetzt leider entschuldigen.“

Das politische Erscheinungsbild der bulgarischen Opposition ändert sich wöchentlich. Die mittelfristig mobilisierungsfähigste Kraft scheint die „Union demokratischer Kräfte“ (SDS), eine Plattform von mittlerweile 19 Bewegungen und Parteien, die sich fest vorgenommen hat, bei den wahrscheinlich im Juni stattfindenden Wahlen als gemeinsame Liste zu kandidieren. Der „Union demokratischer Kräfte“ gehören als Bewegungen „Ökoglasnost“, der „Club für Glasnost und Demokratie“, das „Komitee für Menschenrechte“ und die Gewerkschaft „Podkrepa“ an. Weiters sind in der SDS die bulgarische sozialdemokratische Partei, die Radikale Partei, die Grünen und die im Jahre 1944 eliminierte Fraktion des Bauernbundes organisiert. Letztere, die sich nach ihrem historischen Führer Nikola Peikov nennt, ist die stärkste Kraft im Bündnis. Vermutlich aber nicht mehr lange, planen doch die oppositionellen Bauernvertreter eine Wiedervereinigung mit dem offiziellen Bauernbund, der 45 Jahre lang an der Seite der KP Mit-Regierungsverantwortung getragen hat.

Ob die „Union demokratischer Kräfte“ — mit oder ohne Bauernbund — eine handlungsfähige politische Aktionseinheit bleiben kann, muß bezweifelt werden. Zu unterschiedlich sind die Zielsetzungen der einzelnen Fraktionen, zu verschieden die Ansprüche von Bewegungen wie Ökoglasnost („Wir werden immer in Opposition bleiben“), der Gewerkschaft Podkrepa und den diversen Parteien.

Derweil eint einzig und allein der Anti-Kommunismus. „Der größte Halt der SDS ist der Widerspruch zur KP“, ist sich Ökoglasnost-Aktivistin Semerdschiewa sicher. Auch die Joumalistin Koprinka Tscherwenkowa sieht keine positive Identität der demokratischen Union. „Die SDS existiert nur durch ihren pathologischen Haß gegen die Kommunisten. Möglich, daß das Bündnis bis zu den Wahlen hält, aber spätestens am Tag nach der parlamentarischen Angelobung wird sich das ganze in mehrere kleine Gruppen auflösen.“

Tatsächlich scheint die Haupttriebfeder der demokratischen Union ihre Abgrenzung zur BKP zu sein. Inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt es so gut wie keine. „Die haben ja noch nicht einmal eine politische Plattform, geschweige denn wirtschaftspolitische Vorstellungen zur Eindämmung der Krise“, meint „Ikonomika“-Chefredakteur Iwanow.
Auch der alte Partisan, der die SDS-Kundgebung der 200.000 mißtrauisch beäugt, kritisiert die inhaltliche Leere der Opposition: „Bisher gibt es von ihnen keinen einzigen Vorschlag zur politischen Konsolidierung. KP wählen kommt für mich nicht mehr in Frage, aber die SDS? Wen wähl’ ich da überhaupt, wer sind die?“

Ähnliche Unsicherheit dürfte sich auch beim oppositionellen Teil des Bauernbundes breit gemacht haben, als er dem offiziellen Bauernbund, der 45 Jahre lang zusammen mit der BKP die „unerschütterliche kommunistisch-agrarische Brüderlichkeit“ propagierte, ein Zusammengehen vorgeschlagen hat. Am 28. Februar 1990 war es dann soweit. In der großen Sofioter Kongreßhalle stimmte eine überwiegende Mehrheit der über 3.000 offiziellen Bauernbund-(BZNS)-Delegierten einer Wiedervereinigung zu. Der tumultartig verlaufende Kongreß ließ allerdings die organisatorischen Fragen dieses Prozesses noch offen. Sollte es zu einer gemeinsamen Kandidatur eines einigen Bauernbundes kommen, so könnte mit einem Wahlsieg dieser in den 1930er Jahren stärksten politischen Kraft gerechnet werden.
Verlierer eines gemeinsamen Auftretens der Bauern wäre die „Union demokratischer Kräfte“, die ohne ihren stärksten Bündnispartner — den oppositionellen BZNSJ/Nikola Petkov — ins Rennen gehen müßte.

Die kommunistische Reichshälfte

Anders als z.B. in der CSSR hat in Bulgarien die KP noch mehr Verankerung in der Bevölkerung. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Partei selbst nie besonders linientreu war, traten die 1 Mio. Mitglieder — bei 9 Mio. Einwohnern — aus den verschiedensten Gründen bei, manche ideologisch motiviert, andere wegen eines besseren Arbeitsplatzes oder einer Wohnung. Der abrupte Schwenk im Herbst weg von Schivkov hin zu Mladenov macht es für viele der 1 Mio. Mitglieder leicht, weiterhin ihren minimalen monatlichen Mitgliedsbeitrag zu entrichten. „Schivkov ist die Seife, mit der sich alle — auch in der KP — die Hände waschen.“ Was ein inzwischen aus der Partei ausgetretener ehemaliger Funktionär als Opportunismus und „Sonnenblumensyndrom“ — die bulgarische Bezeichnung für Wendehals — versteht, ist für viele fester Bestandteil ihrer politischen Wendigkeit.

60.000 KP-Mitglieder versammelten sich am 1. März 1990 im Stadion von Sofia zu einer Sympathiekundgebung für die Regierung Mladenov, der sie — vielleicht nicht zu Unrecht — als einzige die Umgestaltung der bulgarischen Gesellschaft zutrauen. „Die BKP ist nicht so schwach, wie vielfach vermutet wird“, gibt auch Ökoglasnost-Sprecher Smolenov zu bedenken.

Und noch einen Bonus hat die BKP. Unter ihren Fittichen werken die begabtesten Wissenschaftler/innen. Zwar längst nicht mehr für die Idee des Kommunismus, sondern für eine zügige wirtschaftliche Liberalisierung. Aber die Leute spüren, daß die klügsten Änderungsvorschläge aus der Fabrik der KP kommen. „An der Spitze der Kommunisten sitzen Profis, in der Opposition Laien. Die Diskussionskultur ist balkanisch. Unschwer auszumachen, daß ohne BKP nicht viel läuft“, sagt Koprinka Tscherwenkowa, die selbst führend an den ersten innerparteilichen Reformkreisen beteiligt war.

Der wichtigste davon ist die sogenannte ASO (Alternativ-sozialistische Organisation), die sich Anfang Dezember 1989 konstituierte und mit ihrem Fragebogen an alle KP-Mitglieder einigen Wind in die Partei gebracht hat. Ob sich die ASO als selbständige Partei gründen oder innerhalb der Strukturen die KP unterwandern solle, wurde da beispielsweise gefragt. Die Antwort konnten ca. die Hälfte der 3.000 ASO-Mitglieder nicht mehr abwarten und gründeten flugs die ASP (Alternativ-sozialistische Partei) als bulgarische Sozialdemokratie.

Weil es aber zwischenzeitlich schon eine bulgarische Sozialdemokratie gab, die außerhalb der KP entstanden war und mittlerweile die ganze Mladenov-KP in Richtung Sozialdemokratie unterwegs ist, ist das Land zur Zeit mit drei Versionen ein und derselben Weltanschauung gesegnet. „Als ich dieses Chaos bemerkt habe, das sich hauptsächlich aus napoleonischen Ambitionen verschiedener Möchtegern-Parteiführer speist, habe ich mich von der ASO zurückgezogen“, kommentiert Tscherwenkowa ihren politischen Reservistenstatus.

Trauriger Komsomolze

Bei den Jugendlichen sicht es nicht viel rosiger aus. In der Nacht vom 24. auf den 25. Februar 1990 hat sich der „Dimitrovsche Kommunistische Jugendverband“ de facto gespalten. Angetreten unter der Losung „Neue Generation, neue Demokratie“ — das Pepsi-Cola-Emblem am Rednerpult — kam es unter den 2.600 Delegierten des Komsomolzenverbandes zu Handgreiflichkeiten, die nur durch den demonstrativen Auszug etwa der Hälfte der Kongreßteilnehmer nicht zu einer richtigen Saalschlacht ausarteten.

Vor der Kongreßhalle im Zentrum der Hauptstadt wurde dann von jenen, die das Komsomolzenleben satt hatten, ein meterhohes hölzernes Chamäleon errichtet. Hunderte Ex-Delegierte zerrissen ihre kleinen Parteibücher, in die sie sich Monat für Monat die Entrichtung ihres Obolus bestätigen ließen, und warfen sie vor das Chamäleon. Am nächsten Tag nannte sich der „Dimitrovsche Kommunistische Jugendverband“ in „Bund demokratischer Jugend“ um.

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