FORVM, No. 97
Januar
1962

Ratten, Menschen, Elektronen

Über die Reichweite des maschinellen Denkens

Je größer die Macht des Menschen über die Natur wird, desto machtloser fühlt er sich seinen eigenen Machtmitteln gegenüber. In seinem Selbstgefühl bedroht, gerät er in immer stärkere Angst, die ihn in psychosomatische Erkrankungen oder zu irrsinnigen Ausbrüchen einer verzweifelten Abwehr treiben. Manche dieser Gefahren für die menschliche Selbstachtung sind schon reichlich bekannt und werden bekämpft; manche hingegen wurden kaum noch beachtet, unter ihnen die Bedrohung gerade jenes Vermögens, von dem es heißt, daß es den Menschen erst zum Menschen macht. Die Gefahr liegt in der Entwürdigung, in der Verächtlichmachung seines Denkens.

Ihre Ursache ist nicht der Kult des Tatmenschen, den es immer schon gegeben hat, und nicht die Reklame-Schablone und Televisions-Konserve, die den Klugen zwar nicht klüger machen, den Dummen aber auch nicht dümmer. Die Ursache ist vielmehr bei jenen zu suchen, welche die Denkarbeit zu ihrem Beruf machten, bei den Männern der Wissenschaft. Ihre Einstellung dem Denken gegenüber führt zu einer absurden Situation, die Heidegger in dem ernsten, aber unklaren Satz „Die Wissenschaft denkt nicht“ ausdrücken wollte und Karl Kraus in dem unernsten, aber klaren Wort „Intelligenztrottel“ zusammenfaßte.

Schon vor fünfzig Jahren bezeichnete Freud das Denken als einen Sekundärprozeß, der lediglich zur Befriedigung der primären Triebe dient. Er schuf gleichsam eine Rangordnung, die bewirkte, daß seine Schüler, aber auch viele von ihm direkt oder indirekt beeinflußte Psychologen wenig Neigung zeigten, dieses zweitrangige Denken zum ernsten Forschungsobjekt zu machen. Die amerikanischen Psychologen gingen noch wesentlich weiter. Pawlow folgend, sahen sie im Denken ein rein mechanisches Geschehen, eine mehr oder minder komplizierte Kopplung bedingter Reflexe. Sie glaubten dies sogar experimentell bewiesen zu haben, indem sie hungrige Ratten in ein unübersichtliches Labyrinth sperrten und feststellten, daß eine Ratte nach vielem Probieren und manchen Erfolgen einzelne Wegzeichen und Wendungen im Gedächtnis behält und mit Hilfe dieser erlernten Reaktionen das Problem, zum Futternapf zu gelangen, immer wieder lösen kann. Der Umstand, daß sich auch Albert Einstein, hätte man ihn in das Labyrinth gesperrt, im Prinzip nicht anders hätte verhalten können als die Ratte, diente nicht etwa zur Entwertung des Versuchs, sondern als Beweis dafür, daß die Ratte im Labyrinth ein Grundmodell des Denkens widerspiegelt.

Bedrohlicher noch als diese Theorie des Denkens, wenn auch von ihr sehr abhängig, ist die wissenschaftliche Beurteilung des elektronischen Denkens. Immer häufiger hört man von durchaus ernst zu nehmenden Forschern — meist Physikern und Mathematikern —, daß die Leistungen der Elektronengehirne sehr bald den Denkleistungen der Menschen ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen sein werden. Schon jetzt können Denkmaschinen, drei Züge im voraus berechnend, Schach spielen. Sie liefern recht brauchbare Übersetzungen von einer Sprache in die andere. Sie sind bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme nicht nur mitbeteiligt, sondern beantworten manche Fragen schneller und genauer als der Forscher. Der Einwand, daß alle diese Leistungen statistisch sind und auf Gebieten vollbracht werden, die eine mathematische Formulierung der Aufgabe gestatten, ist unerheblich. Denn wie immer man die bisherigen Leistungen der Logistik, der mathematisch operierenden Philosophie und Semantik beurteilen mag, so zeigen diese ersten Versuche doch sehr eindrucksvoll, daß auch eminent philosophische Probleme in mathematischer Sprache ausgedrückt werden können.

Wo aber die mathematische Formulierung eines Problems möglich ist, können Elektronengehirne eingesetzt werden, deren Arbeitstempo, Gedächtniskapazität und Kombinationsfähigkeit durch systematische Steigerung, Erweiterung und Kopplung den gleichen menschlichen Fähigkeiten früher oder später überlegen sein müssen — ähnlich wie sich die Maschine der Muskelkraft als überlegen erwies. Fraglich bleibt bloß, ob es gerechtfertigt ist, Fähigkeiten dieser Art mit „Denken“ schlechthin gleichzusetzen, oder — anders ausgedrückt — ob das menschliche Denken wirklich nur im Lösen von Problemen besteht.

Ödipus statt Futternapf

Will man sich bei Beantwortung dieser schicksalsschweren Frage nicht mit philosophischen Spekulationen und künstlerischen Visionen begnügen, so muß man sich an die Wissenschaft vom menschlichen Verhalten, Fühlen und Denken wenden, an die Psychologie also, von der einleitend gesagt wurde, daß sie in den letzten Jahrzehnten das Studium des Denkens arg vernachlässigt hat. Vernachlässigung eines Gebiets bedeutet in der Wissenschaft häufig, daß es dort für fast jeden Sachverhalt zumindest zwei einander mehr oder minder ebenbürtige Theorien gibt. Man hat also keine andere Wahl als, möglichst unbeeinflußt durch den Zank der Schulen, mehrere Theorien zu prüfen, um zu sehen, wieweit sie zur Beantwortung der gestellten Frage beitragen können. Daß dabei manches erwähnt werden muß, das dem psychologischen Laien viel weniger vertraut ist als Ödipuskomplex und Archetyp, zeigt, daß dem Triebhaften ganz allgemein mehr Interesse entgegengebracht wird als dem Geistigen.

Die bekannteste und durch unzählige Laboratoriumsexperimente belegte Erklärung der menschlichen Denkmechanik ist die Theorie der Assoziationen — eine Erklärung übrigens, die sowohl von den Tiefenpsychologen wie von den führenden amerikanischen Verhaltensforschern und darüber hinaus, wissend oder unwissend, auch von den Konstrukteuren der Denkmaschinen übernommen wurde. Als Assoziation gilt in der Psychologie die Verbindung zweier Reize, zweier äußerer oder innerer Wahrnehmungen oder der durch sie ausgelösten Vorstellungen. Die Verbindung erfolgt durch Nähe oder Ähnlichkeit der beiden Wahrnehmungen, wird aber durch das Prinzip der Nützlichkeit und Lust im Sinn der Triebbefriedigung gesteuert. Die unvermeidliche Versuchsratte im Labyrinth, das unsere Welt bedeutet, assoziiert zum Beispiel die Befriedigung des Fressens mit den Wegzeichen und Wendungen, die sie machen muß, um zum Futternapf zu gelangen. Die Assoziationen — und das ist wesentlich — erfolgen in Einzelschritten. Erst wird die letzte Wendung vor dem Futter mit der Befriedigung verbunden, dann die vorletzte Wendung mit der letzten und so gleichsam rücklaufend weiter, bis selbst der erste nützliche Schritt im Labyrinth in die Kette der Assoziationen eingereiht ist. In einem anders angelegten Labyrinth wird die Ratte sich zunächst so verhalten wie im ersten Labyrinth, dann aber sehr bald ihre Fehler nach obigem Prinzip korrigieren.

Setzt man nun statt Futter oder Triebbefriedigung „Lösung des Problems“, statt Wegzeichen „Information“ und statt Laufen „Methode“, so hat man ein Modell der Denktechnik — ein Prinzip, das im Grundriß für die hungrige Ratte, den Krebsforscher und für die Dame, die ein passendes Kleid sucht, gleiche Geltung haben soll. Was die Ratte durch Laufen fertigbringt, erreichen die Menschen teils durch Experimentieren im Laboratorium oder in der Ankleidekabine, teils durch Experimentieren im intellektuellen Bereich der Phantasie, das heißt durch die Kombination von assoziativ verbundenen Vorstellungsketten. Die Lösung des Problems, das Neue also, ist demnach immer das Produkt des schon Bekannten und wird schrittweise erreicht.

Der elektronische Hippokrates

Wie angedeutet, ist dies auch die Arbeitsweise der Elektronengehirne. Was für den Menschen das Gedächtnis, ist für die Denkmaschine die Lochkarte oder das Magnetband. Informationen werden geprüft und gemäß bestimmten Programmen so lange kombiniert, bis das gewünschte Ziel erreicht ist. Das Programm ist bei Mensch und Denkmaschine die dem jeweiligen Problem angepaßte Arbeitsmethode, für das schachspielende Elektronengehirn z.B. das Schlagen feindlicher Figuren und das Erlangen gewisser Stellungen. Das Ziel der Ratte — das Fressen — ist hier das Schlagen des feindlichen Königs. Wäre die gestellte Aufgabe ein Problem der medizinischen Diagnostik, so würde der Arzt in seinem Gedächtnis, und manchmal in seinen Büchern, nach jenem Krankheitsbild suchen, das allen oder den meisten Symptomen und Laboratoriumsbefunden des Patienten entspricht, und möglichst nur diesen. Hat nun die Denkmaschine die gleiche Aufgabe zu lösen, so werden die bekannten Krankheitsbilder — es können tausende sein — mit den ihnen entsprechenden Symptomen in deren Speicher gelegt, dann werden die Einzelbefunde des jeweiligen Patienten eingelegt, und innerhalb weniger Sekunden ist die gewünschte Korrelation hergestellt. Die Maschine nennt den Namen der Krankheit und gibt sogar an, wie groß die statistische Wahrscheinlichkeit ist, daß eine andere Krankheit vorliegt oder eine Fehldiagnose gestellt wurde.

Gehört aber die gestellte Aufgabe, wie im Falle der Kleider suchenden Dame oder des Krebsforschers, zu jenen Problemen, deren bestmögliche Lösung im voraus nicht bekannt ist, so wird die Dame dem Assoziationsprinzip gemäß aus den ihr bekannten Vorzügen mancher Stoffe, Farben und Schnitte ein Modell zusammenstellen, das für sie die meisten Vorzüge zu besitzen scheint. Der Krebsforscher wird die ihm zur Verfügung stehenden Informationen so lange kombinieren, bis das entsteht, was man eine statistisch signifikante Korrelation nennt, eine Behandlungsmethode zum Beispiel, die zu mehr Erfolgen führt als andere Therapien, oder ein Erklärungsversuch, der die meisten Tatsachen widerspruchslos miteinander verbindet. Im Prinzip können dem Elektronengehirn durch ein geschickt formuliertes Programm die gleichen Aufgaben gestellt werden, wobei hier noch der Vorteil besteht, daß eine sehr große Zahl von Kombinationen in kürzester Zeit auf ihren statistischen Wert geprüft werden kann.

Allerdings gibt es einige Erscheinungen, vor allem auf dem Gebiet des produktiven Denkens, aber auch sonst im Leben der Menschen und mancher Tiere, die nicht durch blindes Probieren, schrittweises Vorwärtstasten und Aneinanderreihen einzelner Informationen erklärt werden können. Oft, und gerade bei schwierigen Aufgaben, wird die Lösung nicht schrittweise erreicht; sie ist nicht das letzte Glied einer langen Kette einzelner Erfahrungen, sondern sie ist schlagartig da. Man weiß, noch ehe man es probiert hat, und aller Erfahrung zum Trotz, daß dies die richtige Lösung ist. Plötzlich ist alles übersichtlich und einheitlich geordnet, hat wie von selbst seinen Platz im Ganzen gefunden. Und wo es dennoch eine Lücke gibt, fühlt man geradezu den Zwang, sie dem neuentdeckten Prinzip entsprechend auszufüllen. Nicht die Erkenntnis der Teile hat die Erkenntnis des Ganzen vermittelt, sondern das Ganze hat die Teile erklärt. Mozart erlebte im Aufblitzen einer Sekunde die ganze Symphonie im Umriß, dann erst schrieb er sie. Aber auch der achtjährige Knabe reiht nicht bloß Wörter aneinander, wenn er etwas sagen oder schreiben will. Wäre es anders, so gäbe es keine sinnvolle Satzmelodie und kein Korrigieren, bevor der Satz zu Ende gesprochen ist.

Und selbst die geduldigen Laboratoriumsratten der Psychologen haben anscheinend nicht immer Lust, ihr Wissen Stück für Stück zu erarbeiten. Sie tun gelegentlich so, als wollten sie das sinkende Schiff der üblichen Lerntheorien noch vor ihren psychologischen Meistern verlassen. Wenn man ihnen nämlich das Labyrinth von oben zeigt, so daß sie es ganz überschauen können, und dann wartet, bis sie genügend hungrig sind, so finden sie im Labyrinth sehr schnell und nur mit geringen Irrtümern den Weg zum Futternapf. Sie haben demnach nicht nur die Gesamtübersicht ohne das angeblich so wesentliche Motiv des Hungers im Gedächtnis behalten, sondern die Struktur des Ganzen erfaßt und hernach in den einzelnen Gängen zur Orientierung verwenden können. Die Möglichkeit solcher Deduktion macht sie den durch fehlende Übersicht zu induktivem Verhalten gezwungenen Ratten weit überlegen. In diesem Sinne ist wohl auch der Satz zu verstehen, daß der wissenschaftliche Denkakt deduktiv sei oder sein sollte. Der Forscher geht, ähnlich der Ratte, die das ganze Labyrinth überschaute, von einer hypothetischen Konzeption des Ganzen aus, ehe er die Einzelheit studiert. Widerspricht eine Einzelheit der Gesamtkonzeption, so wird — der neuen Erfahrung gemäß — eine andere Theorie entworfen, die wie jede Theorie als Entwurf ein Wurf und kein Mosaik ist.

Die Erklärung dieser Erscheinungen liefert eine psychologische Disziplin, die vor hundert Jahren in Österreich entstand, dann in Deutschland entwickelt wurde und nun auch in den USA sich auszubreiten beginnt: die Gestaltpsychologie. Sie hat experimentell gezeigt, daß gerade im produktiven Denken, aber auch im Alltag, wann immer der Mensch Fähigkeit und Mut hat, sich über das Labyrinth zu erheben, zuerst eine Ganzheit — „Gestalt“ genannt — erfaßt wird. Dann werden die einzelnen Teile im Sinne der Gesamtstruktur gedeutet und verstanden. Den gestaltpsychologischen Forschungen gemäß ist es daher irrig anzunehmen, daß die Dame bei ihrer Schneiderin oder der Krebsforscher in seinem Laboratorium Einzelheiten so lange kombinieren, bis die beste Lösung gefunden ist. Im Gegenteil: immer beginnen sie mit einer vagen Vorstellung, wie es eigentlich sein müßte. Ihre Arbeit besteht darin, im Rahmen der unklaren Gesamtgestalt Einzelheiten zu entdecken oder zu erinnern, durch die allerdings diese Gestalt oft sehr empfindlich modifiziert wird. Oft muß der Gesichtspunkt so verändert werden, daß mehrere Gestalten einander ablösen, bis endlich die richtige hervorspringt.

Liegt hierin nun endlich die Überlegenheit des menschlichen Denkens? Wohl kaum. Gewiß, die Elektronengehirne funktionieren nach dem Assoziationsprinzip und lösen die ihnen gestellten Probleme nicht wie ein Forscher, sondern wie ein fleißiger Buchhalter oder wie die Ratte im Labyrinth. Aber die wissenschaftliche Leistung der Gestaltpsychologie besteht darin, die Gesetze des gestalthaften Erfassens und Denkens aufgezeigt zu haben. Die Gesetze entsprechen biologischen Gegebenheiten, z.B. — wie anatomische Forschungen der letzten Jahre andeuten — der Lagerung von Zellverbänden in der Hirnrinde. Es ist daher durchaus denkbar, wenn auch vorerst technisch noch nicht möglich, Elektronengehirne zu konstruieren, die ähnlich wie das menschliche Gehirn „struktursensibel“ sind und nach Gestaltprinzipien arbeiten. Schon jetzt wird mit einigem Erfolg versucht, die Denkmaschinen nicht nur nach dem Ziel auszurichten, sondern in Form des „Feed back“ das Ziel auf die vorbereitenden Schritte rückwirken zu lassen, so daß die Maschine sich selbst korrigiert. Es sind also gerade die Erkenntnisse der Gestaltpsychologie, die wahrscheinlich machen, daß früher oder später das Elektronengehirn auch leisten wird, was heute nur durch produktive Denkoperationen zustandekommt.

Unbedenkliche Denkmaschinen

Allerdings lehrt die Gestaltpsychologie auch, daß der Mensch ein Ganzes ist und immer als Ganzes funktioniert. Es ist daher irreführend, wenn man versucht, eine Einzelfunktion wie die Denkleistung isoliert zu untersuchen, anstatt sie als Teil des Ganzen zu sehen. Und damit eröffnet sich ein neuer Aspekt. Bisher war es nur eine einzige Leistung, die geprüft wurde: die Erarbeitung der Methoden zur Lösung eines Problems. Aber ist Denken wirklich identisch mit dem Bewältigen von Aufgaben? Heidegger sieht den Ausgangspunkt des Denkens im Bedenklichen — was mehr ist als ein Spiel mit Worten. Um zu denken, muß man vor allem erkennen, daß etwas bedenklich ist. Um ein Problem zu lösen, muß man vor allem wissen, daß es besteht. Der Dorftrottel lacht, wenn er sein Haus in Flammen sieht. Galilei hingegen fand die seit tausenden Jahren bekannte Pendelbewegung bedenklich. Den Mittelschüler Einstein störte die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Theorien über Äther und Lichtgeschwindigkeit. Freud sah in der allgemein bekannten Tatsache, daß die moralisierenden Hysteriker so viel von Sexualität sprechen, ein Problem. Der erste Denkakt ist demnach immer die Entdeckung des Problematischen, die Unzufriedenheit mit dem Gegebenen. Selbst der Trieb wird ohne diese Erkenntnis, daß etwas stört, nicht wirksam. Denn er besteht zunächst aus einer Unruhe, aus einem Stoß in eine bestimmte Richtung. Die Instinkthandlungen, die zu seiner Befriedigung unternommen werden, sind — wie Lorenz und Timbergen zeigten selbst bei relativ niedrigen Tieren nicht etwa eine Kette automatischer Reflexe, sondern sie lassen Spielraum zur Wahl und zur situationsgemäßen Entscheidung. Selbst die Fähigkeit, ein einziges Bedürfnis zu empfinden, obgleich doch immer und für alle Lebewesen gleichzeitig mehrere vorhanden sind, ist bereits das Produkt einer Abstraktion, demnach der Keim eines Denkaktes.

Freilich wird das Problematische nur entdeckt, wenn ein Bedürfnis wirksam ist: auf niedriger Stufe der Wunsch nach Triebbefriedigung, auf höherer Stufe das Verlangen nach Verständnis, Klarheit und Symmetrie. Das bedeutet nicht, daß vor dem Denken doch das Bedürfnis steht. Streben und Denken bilden eine untrennbare Einheit. Daß die Wissenschaft sie trennte, geschah zum Zweck der Forschung; es war eine Methode, die wie viele andere Methoden als naturgegeben hingenommen wurde. Erst jetzt, mit Hilfe der Psychosomatik, begreift man Spinozas frühes Gleichnis von den zwei Seiten einer einzigen Münze.

Damit ist ein grundlegender Unterschied zwischen dem menschlichen und dem elektronischen Denken angedeutet. Man kann zwar das Elektronengehirn mit Hilfe eines Programms so funktionieren lassen, als wäre ein Bedürfnis wirksam. Man kann die Maschine sogar so konstruieren, daß sie gewisse Diskrepanzen innerhalb des Programms gleichsam als bedenklich auffaßt und demnach zu lösen versucht. Aber selbst wenn es gelänge, in eine Maschine tausend oder zehntausend solche Bedürfnisprogramme gleichzeitig einzulegen, wäre der Abstand zwischen ihrem und dem menschlichen Denken nicht geringer geworden. Denn der Mensch denkt nur über ungelöste Probleme nach. Sind die Probleme gelöst, so hat er die oft geschmähte Fähigkeit, neue zu entdecken. Das Menschliche am Menschen ist seine prinzipielle Unersättlichkeit, die nur zum Teil durch seine Triebe, im Wesentlichen aber durch die Begrenzung seines Lebens, durch den Tod, bedingt wird. Seine Überlegenheit der Maschine gegenüber besteht darin, daß er auch die Sättigung satt bekommt und gegen den Tod revoltiert.

Im Lösen von Problemen kann und wird das Elektronengehirn die Leistungen des menschlichen Gehirns überflügeln — wie die Maschine besser vollbringt, was früher durch Muskelikraft vollbracht werden mußte. Aber Probleme entdecken kann sie nicht, denn nichts ist so subjektiv wie das Problematische. Was den einen beruhigt, erscheint dem anderen fragwürdig. Es wird daher die Domäne des Menschen bleiben, Fragwürdigkeit zu empfinden, Fragen zu stellen und sie so zu formulieren, daß ein Elektronengehirn sie beantworten kann.

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