FORVM, No. 321/322
September
1980

Realsozialismus dankt ab

Wirtschafts- und Systemkrise in Polen

Ausgelöst wurden die polnischen Streiks durch eine vergleichsweise geringfügige Preiserhöhung bei Fleisch: 2 Prozent per 1. Juli 1980. Hinzu kamen auch Normenerhöhungen in einigen Betrieben und Versorgungsengpässe in der betrieblichen Nahrungsmittelverteilung. Das war aber nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Schon 1978 war — nach offiziellen Angaben — der durchschnittliche Reallohn um 2,5 Prozent gesunken, 1979 neuerlich um 2 Prozent.

Das Statistikamt gab allerdings zu, daß zwei Drittel der eingelangten Ziffern unecht sind, der Lohnschwund wird also höher gewesen sein. Folgt man der Volksmeinung, daß die Inflation statt der offiziell zugegebenen 8,5 Prozent im Jahr 1978 in Wirklichkeit 20 Prozent betragen hat, dann kommt man auf eine Lohnsenkung von 14 Prozent!

Zur Inflation kommt noch allgemeiner Warenmangel. Fleisch ist normal nicht zu kriegen. Für Zahlungskräftige gibt es allerdings Hintertüren in Grau- und Schwarzmärkte. Die Regierung selbst beteiligt sich an dem Spiel. Der ewigen Subventionen müde, suchte sie nach Auswegen in kostendeckende Preise, sprich in kapitalistisches Wirtschaften. (In den siebziger Jahren sind die Staatssubventionen für Fleisch auf mehr als das Siebenfache gestiegen und machen heute bereits mehr als die Hälfte des Endpreises aus.)

Man hat also Devisenläden („Pewex“) eingeführt, wo man gegen Westgeld alles kriegt, Importware oder Qualitätsware aus dem eigenen Land, weiters sogenannte „kommerzielle Läden“ für Fleisch, in denen man einkaufen kann, ohne sich anzustellen — Fleisch kostet dort allerdings mehr als das Doppelte des offiziellen Preises.

Es kam, wie es kommen mußte: immer mehr Ware sammelte sich in den teureren Geschäften; nach offiziellen Angaben wurde 1977 nur ein halbes Prozent allen Fleisches in den Spezialgeschäften verkauft, 1978 waren es 8 Prozent, 1979 bereits 18 Prozent, Tendenz steigend. „lst das schon der Sozialismus, oder kommt es noch schlimmer?“, fragten sich die Polen.

Der reale Sozialismus hat die Grenzen seines Wachstums erreicht. Selbst Parteichef Gierek mußte in einer Rede in Kattowitz im Dezember 1979 zugeben, daß sich die Auftriebskräfte der polnischen Wirtschaft „erschöpft“ hätten: die billigen Rohstoffe, die Investitionsmöglichkeiten, die große Arbeitskraftreserve, die leicht erreichbaren Auslandskredite.

Die Kurven der Ostwirtschaft zeigen eine durchgehende Tendenz zur Abflachung. Wies die polnische Industrie in der ersten Hälfte der siebziger Jahre noch ein durchschnittliches Jahreswachstum von 10,4 Prozent auf, so sank der Schnitt in den folgenden drei Jahren auf 7,0 Prozent, und 1979 betrug die Steigerung gar nur mehr 2,8 Prozent, also ein Viertel dessen, was zu Beginn des Jahrzehnts normal war.

In Polen ist die Wachstumsverlangsamung am weitesten fortgeschritten, in Ungarn, der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion hält man ausgangs der siebziger Jahre bei der Hälfte der industriellen Zuwachsrate, die man zu Anfang des Jahrzehnts schaffte.

Der amerikanische Politologe Walt W. Rostow (als Sicherheitsberater Johnsons ein Falke in Vietnam) hatte seinerzeit in dem Buch „Stadien wirtschaftlichen Wachstums“ diese Abflachung vorausgesagt, er meinte, die hohen Steigerungsraten beruhten auf der Konzentration der Investitionsmittel in bestimmten Sektoren, nämlich der Schwerindustrie, und je mehr sich die Mittel auf andere Sektoren verteilten, um so geringer würden dann die Zuwachsraten. Als Ergebnis erwartete er sich eine gleichförmige Gesellschaft des „Massenkonsums“ in Ost und West. Die Wirtschaftsreformen von Professor Liberman (SU 1964), neuerdings von Teng und Kader, weisen bereits in diese Richtung.

Der wirtschaftliche Absturz in Polen wurde durch den Widerspruch verursacht, daß die Parteiführung einem forcierten Industrialisierungsprogramm Stalinschen Zuschnitts marktwirtschaftliche Elemente (Subventionskürzungen bei den Grundbedürfnissen) aufzupfropfen versuchte. Ochab stürzte darüber 1956, Gomulka 1970, Gierek 1980. Der Grundfehler war die Lenkung der Investitionsmittel in die Schwerindustrie, die anderswo in Osteuropa längst in den Konsumsektor flossen.

Ein Vergleich mit Ungarn, das eine ähnliche Ausgangsposition hatte, zeigt das Übergewicht von Polens Schwerindustrie: die Polen erzeugen pro Kopf um die Hälfte mehr Stahl, Elektrizität und Zement als die Ungarn sowie fünfmal soviel Kohle (Zahlen von 1978). Bei den landwirtschaftlichen Produkten ist es umgekehrt, die Ungarn erzeugen doppelt soviel Getreide und Eier pro Kopf wie die Polen und um die Hälfte mehr Fleisch.

Der Anteil der Konsumgüterindustrie am polnischen Nationalprodukt ist jetzt niedriger als zu Beginn der 70er Jahre, während die Kaufkraft der Bevölkerung in diesem Zeitraum auf das Dreifache gestiegen ist. Die Fleischlieferungen, erklärte Vizepremier Jagielski bei den Verhandlungen mit den Streikenden in Danzig, hätten sich von 1971 auf 1980 bloß verdoppelt. Dieser Kaufkraftüberhang führt zu akutem Warenmangel.

Schlange in Warschau
(Foto Tadeusz Matkovski)

Drei Viertel der polnischen Landwirtschaft sind privat, das ist eines der Ergebnisse der Kämpfe von 1956. Diese Kleinlandwirtschaften bis zu 20 Hektar Nutzfläche dürfen sich aber nicht entwickeln („Genug Sensen, wenig Heu- und Mistgabein”, stand unlängst in einer polnischen Bauernzeitung) — denn würden Privatpersonen Kapital und Boden konzentrieren, wäre das Machtmonopol der Bürokratie gefährdet. Die „Monopolbürokratie“ (ein Ausdruck von Jacek Kuron) ist in der Klemme: einerseits kann sie den privaten Agrarsektor nicht fördern, ohne ihre eigene Position zu untergraben, andererseits sind die subventionierten Staatsgüter unproduktiv. Als Wächterin steht die Kirche vor den Bauern, gleichsam als deren ideologischer Überbau.

Auch im Gewerbe und bei den Dienstleistungen gibt’s einen Privatsektor, rund 200.000 Betriebe, mit Familienmitgliedern und Angestellten etwa eine halbe Million Menschen, zwischen ein und zwei Prozent der Bevölkerung. Bis zu acht Lohnarbeiter darf ein konzessionierter Unternehmer im realen Sozialismus ausbeuten.

Was macht er aber mit seinem Geld, das er nicht investieren darf? Sagen wir, er verdient eine Million Zloty im Monat. Er kauft sich einen Mercedes, den Rest muß er verprassen. Die vornehmste Bar in Warschaus Hotel Victoria wird von Typen frequentiert, die könnten unseren fünfziger Jahren entsprungen sein: breite Schultern, der Bauch quillt bereits über den Gürtel, unter die mächtigen Flügel ein Nuttenvolk geklemmt, dessen Mondänität auf Westler komisch wirkt, hausgeschneidert. Parasiten mit Zukunft.

Waren der Parteiführung auf dem Agrarsektor bereits die Hände gebunden, sind sie es zunehmend auch in der Industrie. Erstmals wurde in der Sommerkrise 1980 die Westverschuldung Polens deklariert: 20 Milliarden Dollar, absolut die höchste im Ostblock. Die Maschinenimporte eines überzüchteten Industrialisierungsprogramms kosten ihren Preis.

Der wachsende Schuldendienst zwingt die Regierung, immer mehr Waren in den Export zu pumpen. Der neue ernannte Finanzminister Marian Krzak gab in einem Fernsehinterview am 25. August bekannt, daß Polen zwei Jahre überhaupt nichts importieren dürfte, wenn es seine Devisenschulden in einem abzahlen wollte. Dieser Exportsog führt wiederum zur Verschärfung des Warenmangels. Krzak enthüllte, daß die nötig gewordenen Nahrungsmittelimporte in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Auslandskredite weitgehend aufgefressen hätten; im Jahr 1979 seien allein für Getreideimporte eine halbe Milliarde Dollar ausgegeben worden.

Früher habe man für Westkredite Maschinen gekauft, jetzt entarteten sie immer mehr zu Konsumentenkrediten. Frage: „Man kann also sagen, daß der falsche Umgang mit Investitionen dazu geführt hat, daß ein Teil der importierten Maschinen ungenützt bei uns herumsteht?“ Krzak: „Das stimmt.“

Bei den Verhandlungen mit den Streikenden sagte der Vizepremier Jagielski, der Fleischexport der Gustostücke in den Westen (7 Prozent der Produktion) sei notwendig, um mit den Devisen Medikamente zu kaufen. Die Dissidenten zeigen demgegenüber mit Fingern auf das Regierungskrankenhaus in Miedzylesie, wo die teuren Importpharmaka bevorzugt angewandt werden. Immerhin versprach Jagielski bei dieser Gelegenheit, daß der „Innenexport“ (ein kurioses Wort: es bedeutet, daß die besten polnischen Waren in die Pewex-Devisenläden „exportiert“ werden, dort nur gegen Devisen oder Parteibons zu haben sind) nach und nach eingestellt wird.

Als die Rede auf die Privilegien der Regimeleute kam, wurde die Szene zum Sketch. Die Forderung lautete: Anhebung der Familienbeihilfen auf das Niveau, das bei Polizei, Militär und Partei üblich ist. Jagielski: „Das hängt mit ihrer längeren Arbeitszeit zusammen, sie müssen Bereitschaftsdienst machen, das Familienleben leidet ...“ Alle Arbeiter auf der Werft hörten über Lautsprecher mit. Einer murmelte: „Und die Arbeiter in der Nachtschicht?“ Die Privilegien der Partei als ganze wurden angesprochen. „Das ist ein Angriff auf unsere Ehre als Parteimitglieder“, antwortet der Danziger Sekretär Fiszbach.

Nur knapp zwei Wochen sollte es dauern, bis am 5. September der katholische Abgeordnete Edmund Meclewski, ein Journalist, in offener Parlamentssitzung ausrief: „Der Klub der Eigentümer Volkspolens gehört aufgelöst!“ Die Zensur verhinderte zwar die Publikation dieses Satzes in Polen, aber das Wort schwebt als Menetekel über den Herrschenden, die zunehmend mit Legitimierungsproblemen kämpfen. Immerhin steht in der Verfassung, daß die Arbeiter die herrschende Klasse sind.

Die Forderung nach Lohnaufschlägen von monatlich 2000 Zloty für alle wurde von Jagielski in Danzig abgelehnt, denn das, so der Vizepremier, würde den gesamten Lohnfonds „um ein Viertel“ aufstocken und nur „zur Entstehung von zahlreichen Schwarzen Märkten und zu einer galoppierenden Inflation führen“. Inzwischen wurde aber die Erfüllung mindestens im Ausmaß der Hälfte der Forderungen gewährt. Kann man so eine Regierung noch ernst nehmen? Nimmt sie sich selbst noch ernst?

Soweit die Ostblockführer überhaupt mit ihren Völkern argumentieren (Ideologie ist dort zur „Om mani padme hum“-Kurbel degeneriert), hört man in letzter Zeit immer häufiger die Ausrede: der Weltmarkt ist schuld, die Ölpreise‚ die Krise im Westen ...

Wenn das ein Argument sein soll, hat der „Realsozialismus“ ideologisch bereits das Handtuch geworfen, denn wenn er vor der kapitalistischen Krise nicht schützen kann, wozu ist er dann noch gut? Wozu dann all das Schweigen, Bücken, Hinunterschlucken des Übermuts der Bürokraten, des Grau in Grau der Kultur? Als letzte Räson bleibt, daß der Despotismus weiter östlich am längsten währt: die Russen würden’s nicht dulden, die Freunde haben uns Grenzen auferlegt ...

Den Kommunisten im Westen hat man den Realsozialismus bisher mit dem Argument verkauft, die Grundbedürfnisse seien im Osten wenigstens befriedigt, Wohnen, Heizen, Fahren, Essen sind billig, alles andere komme noch. Mitte 1979, mit den einschneidenden Konsumpreiserhöhungen in Ungarn und in der Tschechoslowakei, trat hier ein Wendepunkt ein, dessen historische Bedeutung bisher noch nicht recht erkannt wurde: man geht jetzt auf kostendeckende Preise aus, die Subventionen werden gekürzt, Arbeitslose zugelassen, der Solidarismus auf dem Niveau des Existenzminimums wird aufgekündigt.

Das, bedeutet: der Gesellschaftsvertrag mit der Arbeiterklasse ist abgelaufen, muß neu geschlossen werden, wie jetzt in Polen. Zur intellektuellen Opposition kommt die der Arbeiter, der Realsozialismus sitzt in der Zange.

In der Weltwirtschaftskrise der 80er Jahre erweist sich der „Realsozialismus“ als schwächstes Kettenglied des Kapitalismus. Nicht England, nicht Amerika, nicht einmal die Dritte Welt ist es, die zuerst zusammenbricht — die kommunistischen Führungen sinds, die eine Arbeiterrevolution am meisten fürchten müssen. In Osteuropa ist der Weg auch am kürzesten: die Produktionsmittel sind bereits „vergesellschaftet“, und die Klasse, die sie in der Verfügungegewalt hat, man nenne sie nun Monopolbürokratie oder Nomenklatura, verfügt über weniger Legitimation, diese Funktion zu verteidigen, als die westliche Bourgeoisie.

Kann die Monopolbourgeoisie immer wieder wirksam (zuletzt in Portugal 1975) auf die alten Schlagworte Freiheit und Eigentum zurückgreifen, so tappt die Monopolbürokratie (wie jetzt in Polen) stets aufs neue ins Leere mit ihrer Beschwörung der führenden Rolle der Partei. Angeblich geschieht ja alles im Namen der Arbeiterklasse. Wenn die Partei unter dem Druck der Massen zerfällt, bleibt ihr letztlich nur noch die Legitimierung von außen: Flucht in die Fremdherrschaft. Das konnte Bilak, das kann Kania. An wen aber wendet sich Breschnew, wenn es in der Sowjetunion soweit ist?

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