FORVM, No. 154
Oktober
1966

Rebell oder Revolutionär?

Zu dem nachgelassenen Roman von Joseph Roth

I.

Joseph Roth konzipierte den erst vor kurzem veröffentlichten Roman „Der stumme Prophet“ im Jahre 1927 und fixierte während der zwei nachfolgenden Jahre seinen Inhalt im einzelnen. Er sollte jedoch nie dieses Werk endgültig abschließen, denn am 2. Mai 1939 ging der in einem Pariser Armenspital schlecht behandelte Emigrant elendiglich zugrunde.

Der Dichter, der am 2. September 1894 in Brody, einem jüdischen Städtchen in Ostgalizien, zur Welt gekommen war, durfte sein fünfundvierzigstes Lebensjahr nicht vollenden. Indes: bereits seine allerersten Schriften, seine Novellen, Romane und Reportagen offenbaren die Züge eines Vollendeten. Er wurde früh bekannt, insbesondere dank dem Roman „Die Flucht ohne Ende“, und zwei Jahre später — 1933 — berühmt dank dem in viele Sprachen übersetzten „Hiob“, dem im gleichen Abstand sein Meisterwerk „Radetzkymarsch“ folgte.

Während der sechs Jahre seines Pariser Exils hat Roth nicht weniger als sechs Romane geschrieben, daneben „Die Legende vom heiligen Trinker“ und seine kämpferischen, bitter-bösen und doch zukunftsgläubigen Essays, die er unter dem Gesamttitel „Der Antichrist“ herausgegeben hat.

Die journalistische Arbeit, von der er sich ernährte, war ihm ein tägliches Bedürfnis. Er war unfähig, in irgendeiner Frage neutral zu bleiben; unablässig setzte er sich ein, stets bekämpfte er etwas — alles ging ihn an. Er hatte Mitleid mit allen Lebewesen, besonders mit den Menschen; er hatte kein Mitleid mit sich selbst. Er beging den langsamen Selbstmord des Trinkers; die lieblose Spitalsbehandlung hat das Ende des Prozesses herbeigeführt.

Von dem posthumen Roman erschienen schon seinerzeit, als der Dichter ihn schrieb, mehrfach Auszüge in Zeitungen. Man vermutete, daß es sich um einen Trotzky-Roman handelte, denn gerade damals begann der Leidensweg dieses Revolutionärs, des Gründers der Roten Armee, der von Stalin zuerst seiner Ämter entkleidet, sodann aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen und nach Kirgisien verbannt und schließlich aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde. Noch hatte die systematisch betriebene totale und totalitäre Geschichtsfälschung ihren Höhepunkt nicht erreicht. Es war ja kaum mehr als ein Jahrzehnt verstrichen, seit jeder Zeitungsleser überall in der Welt tagaus, tagein informiert wurde, wie dieser scheinbar aus dem tiefsten Dunkel ins hellste Licht emporgestiegene Ljew Dawidowitsch Trotzky die Revolution organisierte, eine Armee aus dem Boden stampfte, die an allen Ecken und Enden des riesigen Reiches scheinbar endgültige Niederlagen überlebte, ehe sie selbst zu siegen begann, und schließlich die zahllosen Bürgerkriegsarmeen vernichtete. Wurde Lenin genannt, so fügte man Trotzkys Namen hinzu; sie waren die Dioskuren der Revolution, der russischen und der angekündigten Weltrevolution.

Trotzky stand im Mittelpunkt des Gesprächs, nicht nur von Kommunisten, nicht nur von politisch interessierten Zeitgenossen — sein steiler Aufstieg und sein unerklärlicher Fall bewegten alle Gemüter. Es war etwas Legendäres um diesen Mann, das zugleich anzog und abstoßen konnte. Nicht wenige Schriftsteller fühlten sich versucht, über ihn zu schreiben, ihn als eine mehr oder minder metamorphosierte Romanfigur zu benutzen oder — essayistisch und geschichtsphilosophisch — seinem Schicksal allgemein gültige Lehren abzugewinnen.

Joseph Roth, der an der österreichisch-russischen Grenze geboren war und dort seine Kindheit verbracht hatte, der überdies während des Ersten Weltkrieges in der k.u.k. Armee an der russischen Front gekämpft und schließlich einige Zeit als Okkupationsoffizier in der Ukraine gedient hatte — Roth glaubte sich besonders geeignet, Rußland, seine Revolution und seine revolutionären Helden dichterisch zu behandeln. Er war Mitte der Dreißiger und näherte sich gerade dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft; er meinte, das Leben zu kennen, die erhebende Illusion des endgültigen Sieges und die namenlose Trauer der unverdienten, sinnlosen Niederlage; die unabänderliche Vereinsamung; das Unglück, zu lieben und geliebt zu werden, und das furchtbare Elend, nicht zu lieben.

Joseph Roth glaubte zu wissen, was die Weisheit ist und wie nutzlos sie fast immer bleiben muß; ihm entging keineswegs, daß auch die bösartige Schlauheit zuweilen unnütz sein kann. All das wußte er und brachte es in einer Sprache zum Ausdruck, die der deutschen Prosa manch neuen Klang verlieh. In der Tat gehörte er zu jener österreichischen Literatur, die — um nur Tote zu nennen — Schnitzler und Hofmannsthal, Rilke, Trakl und Kafka, Karl Kraus und Robert Musil hervorgebracht hat. Er war der Jüngste, spät, zu spät geboren. Das alte Reich lag im Staub, als er, ein Heimkehrer aus dem Krieg, zu schreiben begann.

Während des Aufstiegs der Nazis und nach seiner Flucht aus Hitler-Deutschland wurde Joseph Roth von einem geradezu kindlichen Heimweh nach dem verlorenen Kaiserreich erfaßt; er wurde Monarchist und beteiligte sich mit dem Einsatz all seiner Kräfte an der ärmlichen Propagandatätigkeit österreichischer Emigranten zugunsten Otto von Habsburgs. Schon im „Radetzkymarsch“, der Ende 1932 erschien, setzte er dem alten Österreich ein eigenartiges Denkmal. Es gibt im neueren Schrifttum kaum ein Werk, in dem die Sehnsucht nach einer unwiederbringlichen Vergangenheit mit solch schmerzlicher Ironie, mit solch linder Wehmut und zugleich mit einer so weise versöhnenden Liebe gestaltet worden wäre.

Als Joseph Roth seinen sogenannten Trotzky-Roman zu schreiben begann, nur fünf Jahre vorher, war er weit weg von seinem Österreichertum. Er hatte etwa sieben Jahre in Deutschland gelebt, fühlte sich als ein Deutscher und begehrte aufrichtig, einer zu sein. Das ist erstaunlich, doch nicht überraschend, denn seit seiner Jugend mühte sich Joseph Roth ab, mit dem Problem seiner Identität fertig zu werden. Es war unlösbar, denn er selbst erzeugte es jeden Tag aufs neue.

In seinen autobiographischen Notizen präsentierte sich der galizische Jude oft als Halbjude, als Sohn einer russischen Jüdin und eines österreichischen Katholiken; er gab sich zumeist als das Kind eines Vagabunden aus, der seine Familie insgeheim verlassen hatte und, ohne je Nachricht zu geben, einige Zeit später in einem Amsterdamer Irrenhaus gestorben wäre. Als seinen Geburtsort gab er Schwabendorf an, eine kleine deutsche Kolonie, die bei seiner Heimatstadt Brody lag. Er hat abwechselnd die jüdische und die katholische, die russische, Österreichische und deutsche Identität bekannt und auch sonst seine Lebensgeschichte mit kuriosen Mystifikationen verfälscht ... In der Tat hat Joseph Roth seinen Vater sehr wohl gekannt: er war keineswegs ein Katholik, sondern ein Brodyer Jude, wahrscheinlich ein begeisterter Chassid, das heißt, Anhänger einer religiös-mystischen Bewegung; er starb früh an einer Lungentuberkulose. Verwandte, die in Wien lebten, nahmen sich später des jungen Roth an und ermöglichten ihm das Studium.

II.

Die Lebensgeschichte Kargans hat ebensowenig eine aktuelle Tendenz wie irgendeine andere. Sie ist nicht ein illustrierendes Beispiel für eine politische Anschauung und höchstens eines für die alte und ewige Wahrheit, daß der Einzelne immer unterliegt.

Wer wollte mit dem toten Dichter darüber rechten, wie unanfechtbar diese Wahrheit ist und wie ewig. Daß der Einzelne immer untergeht, ist für jeden Sterblichen wahr. Doch ist es nicht weniger gewiß, daß der Untergang der meisten Menschen auch ein Übergang ist zu den nachfolgenden Generationen. Der Einzelne ist unsterblich, solange irgendeiner lebt, in dessen Erinnerung noch eine Spur von ihm aufgehoben ist.

Wer ist nun dieser Friedrich Kargan, der, ohne mit Trotzky identisch zu sein, dennoch die zentrale Figur dieses sogenannten Trotzky-Romans, der Träger des gleichen Schicksals sein muß? So begann sein Lebenslauf:

Friedrich wurde in Odessa geboren, im Hause seines Großvaters, des reichen Teehändlers Kargan. Er war ein unerwünschtes, weil uneheliches Kind, der Sohn eines österreichischen Klavierlehrers namens Zimmer, dem der reiche Teehändler seine Tochter verweigert hatte. Der Klavierlehrer verschwand aus Rußland, vergeblich ließ ihn der alte Kargan suchen, nachdem er von der Schwangerschaft seiner Tochter erfahren hatte. — Ein halbes Jahr später schickte er sie und den Neugeborenen zu seinem Bruder, der ein wohlhabender Kaufmann in Triest war. In dessen Haus verbrachte Friedrich seine Kindheit. Sie verlief nicht ganz unglücklich, obwohl er in die Hände eines Wohltäters gefallen war.

Außer der Geburt in der Ukraine hat Trotzky mit dem Romanhelden kaum etwas gemein. Es handelt sich bei Kargan um eine in den Werken Joseph Roths häufig wiederkehrende Figur: bedroht durch die Ungewißheit seiner Abstammung, beunruhigt durch die Abwesenheit des Vaters, von Verwandten abhängig, bei denen man einsam aufwächst, indes die Mutter zwar nicht wie der Vater verschwindet, aber doch völlig im Hintergrund bleibt und bald unsichtbar wird.

Friedrich Kargan war ein junger Angestellter in einem Reisebüro, das ihn nach einiger Zeit in jene österreichisch-russische Grenzstadt schickte, wohin die Handlung fast aller Romane Joseph Roths den Leser zurückführt. Dort arbeitete Kargan mit Spezialisten des Menschenschmuggels zusammen, welche Deserteure, jüdische Emigranten und andere Rußland-Flüchtige heimlich über die Grenze und danach in eine Hafenstadt brachten, von wo sie gewöhnlich nach Amerika verfrachtet wurden.

Gelegentlich einer solchen nächtlichen Aktion lernte Kargan einen imposanten Mann kennen, den russischen Revolutionär Savelli, der ihm später in Wien mehrere Kampfgenossen vorstellt, deren Namen mit Anfangsbuchstaben bezeichnet sind: unter anderen R, das ist Radek, und L ist Lenin. Kargan schließt sich den Revolutionären an, begibt sich in deren Auftrag illegal nach Rußland, wird verhaftet und nach Sibirien deportiert, von wo er unmittelbar nach Kriegsausbruch westwärts flieht und sich nach Österreich durchschlägt, ehe er in die Schweiz kommt, wo Lenin sein Hauptquartier aufgeschlagen hat. Später wird er mit Lenin und seinen Gefährten nach Rußland gehen, um die inzwischen ausgebrochene Revolution voranzutreiben. Er wird der große Redner und Heerführer, der einzigartige Propagandist und der führende Stratege des Bürgerkriegs sein. Doch wird er dann von Savelli, dem der Autor schließlich Stalins Züge verleiht, abgehalftert, auf einen diplomatischen Posten ins Ausland abgeschoben, sodann zurückbeordert und gleich vielen seiner engsten Kampfgenossen wieder nach Sibirien verschickt.

Warum Kargan Revolutionär wird, erklärt der Autor einige Male; er überzeugt nicht. Einen Grund dieses merkwürdigen Versagens könnte man in der Tatsache finden, daß Roth seinen Trotzky-Roman zu verschiedenen Zeiten geschrieben, ihn also oft unterbrochen und dann — anders gestimmt — wieder aufgenommen hat. Es gibt etwa zwei bis drei Fassungen des Manuskriptes, das nur dank der rühmenswerten editorialen Arbeit Werner Lenglings seine gegenwärtige, wohl endgültige Form finden konnte. [*]

Neben dieser zwar nicht belanglosen, doch kaum ausreichenden Erklärung mag es eine tiefere geben, die wohl allein entscheidend ins Gewicht fällt. Joseph Roth war von seinen Grundthemen besessen — wie von einer nicht erkannten Zwangsidee. Gleichviel, welchen Rohstoff, welchen Vorwurf, welche Epoche und welches Milieu er wählen mochte, er entging dem innern Zwang nicht, den typischen Roth-Helden zu gestalten. Das heißt: einen stets aufs neue mit sich selbst zerworfenen, wurzellosen und ziellosen Menschen, der dennoch immer wieder mit äußerster Entschiedenheit handelt und so zu einem Helden wird, der zeitweise an sich glauben kann.

Kargan erklärt dem russischen Revolutionär R, dessen Ironie und skeptische Klugheit ihn faszinieren: „Ich bin ein Armer auf der Seite der Armen. Die Welt ist nicht gut zu mir, ich will nicht gut zu ihr sein. Ihre Ungerechtigkeit ist groß. Ich leide unter ihrer Ungerechtigkeit. Die Willkür tut mir weh. Ich will den Mächtigen wehtun.“

Nun, das könnte einleuchten, wenn man zu glauben vermöchte, daß Kargan wirklich ein Armer ist; er ist es aber nicht. Um wieder an die Trotzky’sche Parallele zu denken: wie fast ausnahmslos alle intellektuellen Revolutionäre Rußlands kam auch Trotzky aus einem wohlhabenden Haus. Ich weiß von keinem, den Armut bedrängt hätte. Um einige in Europa wohlbekannte Revolutionäre zu nennen: Rosa Luxemburg war unter materiell sehr günstigen Bedingungen aufgewachsen, in einer relativ reichen jüdischen Familie, die sie verließ, um sich der Revolution zu widmen. Sie nahm natürlich als eine der Folgen die ständige Mittellosigkeit leichtherzig in Kauf. Das gleiche galt für die erst vor kurzem in hohem Alter verstorbene Angelika Balabanowa. Ebenso für Bucharin, Raskowski, für Lenin selbst — für fast alle, wie gesagt.

An einer andern Stelle äußert sich Kargan wie folgt: „Man kommt nicht wehrlos, heimatlos und geächtet auf eine feindliche Welt und läßt ihr den Lauf. Man hat seinen Verstand nicht, um ihn in den Dienst der Dummheit zu stellen, und die Augen nicht, um Blinde zu führen.“ Das wären in der Tat die Schlüsselworte: heimatlos — geächtet — feindliche Welt.

Joseph Roths Stummer Prophet ist sehr beredt im Ausdruck des Zweifels an der Welt und dem Sinn des Lebens; er ist ketzerisch gegenüber jeder revolutionären Neugestaltung, gegenüber jeglichem utopischen Glauben an eine Zukunft. An diesem Buch ist das Merkwürdigste der schlecht verhüllte, kaum begreifliche Widerspruch: Kargan wird als vorbildlicher Revolutionär bezeichnet, als ein beispielhafter Kämpfer und Führer, der dank seinen ungewöhnlichen Erfolgen weltberühmt wird. Doch gleichzeitig beweist uns der Dichter unablässig, daß Kargan an nichts glaubt, an nichts glauben kann, daß ihm jede wahre Begeisterung abgeht. Außer in den oben zitierten Äußerungen entdeckt man an ihm kein soziales Pathos, ohne welches ein Revolutionär natürlich weder psychologisch noch philosophisch noch politisch denkbar ist.

In seinem Tagebuch vermerkt Kargan: „Es ist uns bestimmt, eine Revolution vorzubereiten, wahrscheinlich nicht, die Erfolge einer siegreichen zu erleben. Ich kann ebensowenig wie R glauben, daß sich etwas in der Welt ändert: außer der Nomenklatur.“ Dieses schreibt er wenige Jahre vor der Revolution, die ihn und seinesgleichen in den Mittelpunkt von Geschehnissen stellt, die die Welt erschüttern. Nun, es bedarf keiner weitläufigen Beweise, um darzutun, daß kein Revolutionär je so gedacht, gesprochen und geschrieben hat — jedenfalls nicht vor dem Ende seiner Aktion und vor dem „Katzenjammer des Sieges“. In den vielen Tausenden Seiten eines Marx und Engels, eines Liebknecht und einer Rosa Luxemburg, eines Lenin, Trotzky oder eines Bucharin wird man vergeblich nach dieser Art von Nihilismus suchen, der die Untätigkeit, den indolenten Zynismus und schließlich einen individuellen Karrierismus rechtfertigen könnte. Gewiß, wer mit der Revolution gebrochen hat und sich immer schneller von ihr entfernt, könnte dergleichen äußern. Aber Kargan macht diese Tagebuch-Eintragung als ein junger revolutionärer Aktivist, dessen ungewöhnliches Schicksal noch im dunkeln ist. Als er später, „abgehängt“ und ins Ausland abgeschoben, versucht, sich selbst Rechenschaft abzugeben, wiederholt er eigentlich nur, was er schon vorher gemeint hat: „Ich diene ohne Glauben, sagte sich Friedrich. Vor zwanzig Jahren hätte man es eine Schurkerei genannt. Ich beziehe Geld ohne Überzeugungen. Ich verachte die Menschen, mit denen ich zu tun habe, ich glaube nicht an den Erfolg der Revolution.“

Da ist er aber schon der verstummte Prophet, der unbewußt auf seine Verbannung hofft und von einer Flucht ohne Ende träumt — wie die meisten echten Helden Joseph Roths.

III.

Lassen wir Kargan; wir wissen, daß er kein Trotzky ist und mit dem verbannten, grenzenlos verleumdeten und auf Stalins Befehl gemeuchelten Führer der Oktoberrevolution nichts gemein hat. Und dies, gleichviel, was die Absicht des Dichters ursprünglich gewesen sein mag, als er, durch Trotzkys Schicksal tief beeindruckt, diesen Roman zu schreiben begann.

Es gilt, die Frage zu beantworten: Was ist denn dieser Kargan eigentlich, der, so will’s der Autor, fortgesetzt in revolutionäre Aktionen verwickelt ist — was ist er, wenn nicht ein Revolutionär? Nun, er ist ein neurotischer Rebell, somit, was auch immer er tun mag, im wesentlichen das Gegenteil eines Revolutionärs.

Daß es so oft mißlingt, einen Revolutionär dichterisch zu gestalten, hat fast immer den gleichen Grund: der Autor sucht eine rein individual-psychologische Begründung für den Entschluß seines Helden, sich der Revolution zu widmen. Im Falle Kargans ist es die gleichsam mehrschichtige Heimatlosigkeit, die charakteristische Roth’sche Identitätslosigkeit. Im Falle des jungen Hugo in Sartres politischem Drama „Die schmutzigen Hände“ ist es der psychoanalytisch deutbare, also rein psychogene Konflikt mit dem Vater und dem bürgerlichen Ausgangsmilieu. In beiden Fällen und in so vielen anderen liegt ein fundamentales Mißverständnis vor, das auch andere Bereiche betrifft. Ein Beispiel: Es mag sein, daß eine neurotisch maßlos gesteigerte Empfindsamkeit dem künstlerischen Schaffen überaus förderlich, manchmal hierfür sogar unentbehrlich ist. Doch wird man nicht Künstler, weil man neurotisch überempfindlich ist, sondern trotzdem, das heißt, durch einen schöpferischen Gegenprozeß. Der Neurotiker bleibt das Objekt seiner Überempfindlichkeit; der Künstler aber verwendet diese und alles, was mit ihr zusammenhängt, um sein Werk zu schaffen.

Aus einem neurotischen Protest gegen Armut, gegen erdrückende väterliche Gewalt oder gegen Vaterlosigkeit, gegen tyrannische Verwöhnung oder demütigende Vernachlässigung, aus Eifersucht auf einen Bruder, aus Neid gegenüber einem Vetter und so fort mag man unter bestimmten persönlichen, familiären und sozialen Bedingungen zu einem gewissen Zeitpunkt in der Rebellion sein Heil suchen. Die Rebellion kann sich in verschiedenen Akten, auch kriminellen oder sexuellen oder politischen, äußern. Ein Rebell stößt ebenso leicht zu einer revolutionären Bewegung wie zu einer konter-revolutionären. Er äfft das soziale Pathos beliebig nach, doch bleibt es ihm fremd. Die Meuterei, der Putsch, der Aufstand, die Revolution sind für ihn konjunkturelle Gelegenheiten, die er ausnutzt. Er steht nicht im Dienste einer Idee oder einer Bewegung, sondern umgekehrt sucht er, sich die große Bewegung zunutze zu machen, um aus seinem Sein auszubrechen, das heißt, um die ihm unerträglich gewordenen Bindungen zu überwinden, so daß er Hammer werde, er, der stets befürchtete, nur Amboß zu bleiben.

Sartres kleiner Hugo hätte ein Morphinist werden können, statt sich zur revolutionären Bewegung zu schlagen; der Mord, den er am Ende verübt, ist — was auch immer Sartre beabsichtigt haben mag — keineswegs eine politische Tat.

Jeder kennt die farbigen historischen Romane, in denen Kriege und Revolutionen, Epidemien, Erdbeben und jede Art von Unheil dazu dienen, einen von Feuerflammen beleuchteten Hintergrund, eine gigantische Bühnendekoration für die üblichen sentimentalen Abenteuer abzugeben. Man braucht diese Dekoration nur wegzudenken und man entdeckt, daß es sich weder um geschichtliche Ereignisse handelt noch um allgemeine Geschicke, sondern um die ewig verfolgte Unschuld, um die geheime Liebe, um die Schlechtigkeit der Bösewichte und die rettende Güte der Tugendhaften. Daß man seine Zigarette auch an einem Weltbrand anzünden kann, beweist nicht, daß das Feuer eines Streichholzes einen Weltenbrand ersetzen kann.

Bei Joseph Roth, bei Sartre und bei nicht wenigen anderen ebenso ausgezeichneten Schriftstellern kann das Versagen der Darstellung von Revolutionären auf vielerlei Gründe zurückgeführt werden. Der in jedem Falle entscheidende könnte dieser sein: Es gibt einige Situationen und Erlebnisse, die man sich leicht ausmalen und dennoch künstlerisch nicht bewältigen kann, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Ich denke da vor allem an drei solcher Lebenslagen und die zu ihnen gehörigen Erfahrungen: erstens, man muß selbst Mutter oder Vater sein, um das scheinbar so einfache und dennoch das ganze Leben eines Menschen verwandelnde Verhältnis zu erfassen, das die Eltern an ihr Kind bindet. Die zweite Situation ist die des Häftlings. Ein scharfsinniger Leser sollte unschwer herausfinden können, ob ein Dichter selbst die Gefangenschaft erlitten hat oder ob er nur auf Grund fremder Erfahrungen und Erzählungen das Gefängnisthema behandelt. Die dritte Situation ist die des Revolutionärs, vor allem des intellektuellen Revolutionärs. Und ich füge eine Feststellung hinzu, über die es sich wohl lohnt, nachzudenken:

Die überzeugendsten dichterischen Gestaltungen des revolutionären Erlebnisses findet man bei Autoren, welche in irgendeiner Weise, die jedoch stets tragisch bleibt, mit der Revolution gebrochen haben. Es ist sehr bemerkenswert, daß Joseph Roth dank seinem ungewöhnlichen dichterischen Talent Erkenntnisse ausspricht, mit denen er in seinen Romanen nicht gar viel anfangen kann, eben weil er selbst zeitweise ein Rebell, doch nie ein Revolutionär gewesen ist. So bin ich tief beeindruckt, wenn ich bei ihm lese: „Die Seligkeit, einmal für eine große Idee und für die Menschheit gelitten zu haben, bestimmt unsere Entschlüsse auch lange noch, nachdem der Zweifel uns hellsichtig gemacht hat, wissend und hoffnungslos. Man ist durch ein Feuer gegangen und bleibt gezeichnet für den Rest seines Lebens.“

Das ist eine tiefe und bedeutsame Wahrheit, in deren Lichte gar manches charakteristische Buch unserer Zeit geschrieben worden ist: von Victor Serge, von Ignazio Silone, von Malraux, Koestler und anderen.

Noch an einer andern Stelle kommt Roth einer essentiellen Einsicht in das Wesen des Revolutionärs nahe. Er läßt seinen Helden sagen: „Meine Überzeugung ist eine Leidenschaft geworden, weil ich das bin, was Sie nach Ihrem Vokabular einen ‚Heimatlosen‘ nennen. Ich werde für eine Welt in den Krieg gehen, in der ich zu Hause sein kann.“

Der Rebell handelt gewöhnlich unter dem Zwange einer zumeist negativen Leidenschaft, die durch das Verkürztheitsgefühl, durch maßlose Geltungs- und Machtträume und quälende Minderwertigkeitskomplexe fortgesetzt genährt wird. Unter bestimmten Bedingungen mag der Anschein entstehen, daß aus dieser Leidenschaft eine Überzeugung gewonnen werden kann. Weltanschauung oder Glaubenseifer, politischer Einsatz, ideologischer Fanatismus — das sind in solchen Fällen nicht die Seinsformen, sondern nur die leicht abänderbaren Ausdrucksweisen einer nur scheinbar „sozialisierten“, in Wirklichkeit aber unverändert egozentrischen Leidenschaft: einer grenzenlosen Selbstsucht.

Der Fall des Revolutionärs ist im Gegenteil dadurch charakterisiert, daß seine „Überzeugung eine Leidenschaft wird“.

Eben weil Roth im Grunde dennoch nur den Rebellen darstellt, verschweigt er alle konkreten Elemente, die allein die revolutionäre Bewegung und schließlich ihre politische und moralische Verkommenheit faßbar und erklärlich machen könnten. Im Stummen Propheten reduziert sich all das auf ein höchst undeutliches, gar zu flüchtiges Schattenspiel. Man weiß nicht recht, worum der Kampf gegangen ist, und man erfährt nicht, was die vor dem Siege verbrüderten Revolutionäre auseinanderbringt und schließlich gegeneinander treibt.

Der stumme Prophet ist ein sehr schönes Buch, reich an wunderbaren Stellen — Schilderungen von Landschaften und Stimmungen, Analysen von Regungen, scheuen Gemütsbewegungen und von Leidenschaften. Es enthält beispielhafte Formulierungen weiser Einsichten, bedeutsamer Wahrheiten und enthüllender Beobachtungen. So darf man diesen Roman lieben, auch wenn man den vom Dichter ursprünglich aufgestellten Anspruch, die Tragödie eines Revolutionärs zu schreiben, nicht gelten lassen kann.

Joseph Roth gelingt es immer wieder, weit über sich selbst hinauszugehen: Zusammenhänge zu verstehen, die er gar nicht kennt, Sachverhalte zu vermuten, die er eigentlich in Abrede stellen wollte. Beides beweist, wie voll von Wundertaten jede wahre Dichtung ist.

[*Verlegt bei Kiepenheuer & Witsch, Köln.

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