FORVM, No. 107
November
1962

Recht als Willensakt

Im Sommer 1962 hielt sich Hans Kelsen, der das 81. Lebensjahr vollendet hat, lange in Österreich auf. Das Institut für Politische Wissenschaften des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften, Salzburg, und der österreichische Bundesminister für Justiz, Dr. Christian Broda, hatten ihn eingeladen. Der Gründer der Wiener rechtstheoretischen Schule sprach in Weißenbach am Attersee vor den Teilnehmern der Österreichischen Richterwoche über den Richter und die Verfassung, hielt Vorlesungen und Vorträge in Wien und berichtete dem Salzburger Juristenverband über die Ergebnisse seiner Forschungen auf dem Gebiet einer allgemeinen Theorie der Normen („Recht und Logik“). Das Wissenschaftergespräch im Institut für Politische Wissenschaften (Vorstand: Doz. Dr. Franz-Martin Schmölz) in der Zeit vom 1. bis 5. August auf der Edmundsburg zu Salzburg über das Thema „Das Naturrecht in der politischen Theorie“ krönte den Aufenthalt Hans Kelsens in Österreich.

Ihm war das Eröffnungsreferat über die „Grundlagen der Naturrechtslehre“ übertragen worden. Er hatte dem Institut ein sorgfältig ausgearbeitetes Manuskript unterbreitet, das 50 Seiten umfaßt. Die Referate und die Diskussionsbeiträge werden als Sonderheft der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht (hrsg. von Verdroß, Springer Verlag) erscheinen. Ein Wort des Urhebers der Reinen Rechtslehre mag die Bedeutung des Salzburger Naturrechts-Symposions erhellen: „Dieses Gespräch hätte vor zwanzig Jahren stattfinden sollen, dann hätte ich manch eine Weiche anders gestellt.“

Der Berichterstatter betreute Hans Kelsen und begleitete ihn auf dessen wissenschaftlichen Wanderungen und Streifzügen. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Wiener Schule. So ist er in der Lage, die neuen Perspektiven zu skizzieren, die der Meister der Strukturanalyse des positiven Rechts eröffnet hat.

Das Thema entwickelt Kelsen jetzt anders, als der Titel „Der Richter und die Verfassung“ fürs erste anzeigen mag: nämlich unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Norm und Logik. Es geht um einen funktionalen Sinn des Wortes „Verfassung“, Kelsen bezeichnet ihn als materiellen Sinn. Im Grunde ist Verfassung: Ranghöhe, Vorrang. Jede Norm ist in bezug auf eine andere Norm oder einen Akt, dessen Tatbestand der Erzeugung sie regelt, Verfassung. Selbst das Urteil eines Bezirksgerichts ist es in dem Maß, in dem es den Akt der Rechtspflichterfüllung oder der Vollstreckung normiert.

Jede Rechtsnorm ist als ranghöhere Norm im Verhältnis zur rangtieferen Norm oder zur Rechtserscheinung des blanken Vollzugsaktes Verfassung — Verfassung der nämlichen rangniederen Norm oder des nämlichen Exekutionsaktes, die von der ranghöheren Norm bedingt sind. Nur der letzte Exekutionsakt kann unter keinem wie immer gearteten Gesichtspunkt Verfassung sein; denn er ist reiner Tatbestand. Am anderen Ende der Kette von Möglichkeiten, Verfassung zu sein, besser gesagt: am Anfang steht die Grundnorm. Sie ist nur Verfassung, reine Verfassung; denn über ihr waltet keine wie immer geartete ranghöhere Norm.

Bezirksgericht als Verfassungsgericht

Wenn Verfassung Vorrang, ranghöhere Norm ist, dann kann man sachgerecht jedes Unterscheiden, jede Wahrnehmung der Ranghöhe Verfassungsgerichtsbarkeit nennen. Anders gewendet: jeder Richter besorgt Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn er rangniedere Akte an ranghöheren Akten mißt. Das Abheben des einen Ranges gegen einen anderen Rang, welches Abheben der ursprüngliche Sinn des griechischen Wortes κρίνειν ist, setzt wesentlich ein Unterscheiden voraus, birgt jedoch allemal ein Entscheiden. In diesem Sinn enthüllt sich jeder Rechtsanwendungsakt, der sich in eine individuelle Norm kleidet, als subjektiver Sinn eines Willensaktes. Die Rede von der reinen logischen Operation der Subsumption des Richters führt in die Irre. Der Richterakt ist Erkenntnisakt und Willensakt.

Wenn Vorrang Verfassung ist; wenn die Beachtung des Vorrangs Verfassungsgerichtsbarkeit ist: dann ist jeder Richter, sofern er Normenvorrang beachtet, Verfassungsrichter.

Wieder ein neuer Gesichtspunkt: Kelsen wahrt die engen theoretischen Grenzen, die er selbst um seine Lehre gezogen hat, wenn er dem Wort von einem verfassungswidrigen Gesetz eine Bedeutung leiht, die den Juristen des Alltags verblüfft. Ein „verfassungswidriges“ Gesetz ist von Rechts wegen kein „schlechteres“ Gesetz als ein „verfassungsmäßiges“ Gesetz. Dieses und jenes, beide sind verfassungsmäßig und verfassungsgemäß. Jenes ist bloß in einer anderen Weise verfassungsmäßig und verfassungsgemäß, als das „verfassungsgemäße“ Gesetz es ist. „Verfassungswidrig“ ist jenes Gesetz, welches nicht nur kraft eines Aktes des Gesetzgebers, sondern auch kraft des Spruches eines Verfassungsgerichts aufgehoben werden kann. Nur das Verfahren, wie ein „verfassungswidriges“ Gesetz erlischt, unterscheidet sich vom Verfahren, wie ein „verfassungsmäßiges“ Gesetz erlischt: diesem kann einzig und allein ein Willensakt des Gesetzgebers derogieren.

Das „verfassungswidrige“ Gesetz ist allerdings unter dem Gesichtspunkt normativ schwächer, daß es in einem Verfahren und von einem Organ außer Kraft gesetzt werden kann, in welchem Verfahren und von welchem Organ ein „verfassungsmäßiges“ Gesetz nicht gelöscht werden kann. Das verfassungsmäßige Gesetz ist füglich normativ stärker als das verfassungswidrige Gesetz. Doch beide gelten, sagt Kelsen, das verfassungsmäßige wie das verfassungswidrige gelten bis zur Aufhebung. (Der Berichterstatter vermag sich dieser Theorie nicht anzuschließen. Für ihn decken sich „Rechtmäßigkeit“ und „Geltung“. Das „verfassungswidrige Gesetz“ ist bis zur Aufhebung als dem Ausgang eines Prüfungsverfahrens wohl „rechtsverbindlich“, aber es gilt nicht. Es müssen unterschieden werden: [1] Geltung oder Rechtmäßigkeit, [2] Verbindlichkeit und [3] Wirksamkeit.)

Kelsen bezieht heute den Standpunkt, daß es innerhalb einer positiven Rechtsordnung echte Normenkonflikte gibt, zum Beispiel den Konflikt zwischen einem „verfassungsmäßigen“ und einem „verfassungswidrigen“ Gesetz. Hingegen ist ein Akt, der weder die Bedingungen des Zustandekommens oder Erlöschens des einen Gesetzes noch die entsprechenden Bedingungen des anderen Gesetzes erfüllt, kein verfassungswidriges Gesetz im eigentlichen Sinn des Wortes, lehrt Kelsen, sondern solch ein Akt ist von Rechts wegen überhaupt kein Akt, kein Gesetz; er ist ein Schein-Akt, Nicht-Akt, Nicht-Recht. Mithin kann er gar nicht aufgehoben werden.

Freilich, im Reich der Rechtswissenschaft behauptet die Logik ihre Herrschaft; dies bestreitet Kelsen nicht. Was er jedoch verneint, ist die Frage: Ist die Rechtswelt als Normenwelt dem Reich der Logik unterworfen? Die Theorie, die er von den Normen im allgemeinen und von den Rechtsnormen im besonderen entworfen hat, ergibt, daß in dieser Normenwelt weder der Satz vom Widerspruch noch der Schluß vom Allgemeinen zum Besonderen (Syllogismus) taugen. Die Norm gilt; das Gelten ist ein der Norm eigener Modus essendi, eine Seinsweise, die sich für Rückschlüsse oder Analogien vom Sein her („ist“) nicht eignet. Infolgedessen sei es müßig, den Satz „lex posterior derogat priori“ als in der Normenstruktur gründend verstehen zu wollen. Eine Strukturanalyse der Norm rechtfertigt mitnichten das gängige Schlagwort.

Adolf Julius Merkl hatte dies bereits in der Lehre von der Rechtskraft (1923) überzeugend dargetan. „Wenn zwei widerstreitende Aussagen vorliegen, so ist es unmöglich“, erklärte Kelsen vor dem Salzburger Juristenverband, „daß beide wahr sind —, stehen aber zwei Normen gegeneinander, ist es eben logisch notwendig, daß beide gelten, anders wäre es kein Konflikt.“

Für den Normenkonflikt schickt sich nicht der Vergleich mit dem Satz vom Widerspruch, sondern das Bild von zwei Kräften, die von entgegengesetzten Polen her auf einen Punkt einwirken. „Die Norm ist der Sinn eines Willensaktes, ihr Inhalt ist ein Sollen. Das Sollen, der Imperativ, hängt vom Wollen ab: Kein Imperativ ohne Imperator!“ Die Aussage hingegen ist der Sinn des Denkaktes; ihr Inhalt ist die Wahrheit. Diese hängt nicht von der Aussage ab; sie ist vor und nach der Aussage gleich wahr. „Der Wahrheit steht das Recht gegenüber — dem Sein das Sollen. Die Erscheinungsform des Rechts ist die Norm. Sie sagt nicht aus, sie ist weder wahr noch unwahr, sondern sie will gelten, will befolgt werden. Die Geltung ist die ideelle Existenz der Norm. Eine nichtgeltende Norm ist keine Norm, dagegen ist eine unwahre Ausssage immer noch eine Aussage; sie ist vorhanden, wenn auch nicht wahr.“

(Anmerkung des Berichterstatters: Die ontologische Dimension, in der das Sollen auf das Sein reduktibel ist, verschließt sich vor Hans Kelsen, der einen verengten Wahrheits-„Begriff“ handhabt und das Problem der ontologischen Wahrheit oder gar das der Fundamental-Ontologie von seinen Positionen aus nicht angehen kann.)

Die Eigennatur der Norm kommt, so unterstreicht Kelsen, besonders in der individuellen Norm, in dem Spruch eines Gerichts oder im Akt einer Verwaltungsbehörde, zum Vorschein. Das Recht knüpft die Folge (Sanktion) nicht an den Tatbestand als solchen, nicht daran, ob er wahr sei oder unwahr; das Recht knüpft die Folge an die Feststellung, die der Richter über den Tatbestand trifft. Die „normative Feststellung“ des Richters, nicht der Tatbestand an sich, ist die Rechtsbedingung (Vorrang = Verfassung) der Rechtsfolge (Vollzug).

Im Recht gilt keine Logik

Wenn man den Syllogismus „Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; Sokrates ist sterblich“ in den Bereich des Rechts verpflanzen wollte, wäre er folgendermaßen aufzubauen: „Alle Diebe sollen eingesperrt werden; Schulze ist ein Dieb; Schulze soll eingesperrt werden.“ Dieser normative Syllogismus ist aber unzulässig. Denn Schulze kann ein Dieb sein, er soll und darf aber nicht bestraft, das ist eingesperrt werden, bis er vom Richter verurteilt worden ist. Er kann ein Dieb gewesen sein, wird jedoch trotzdem freigesprochen, eben irrtümlich —, und deshalb gilt Schulze von Rechts wegen nicht als Dieb! Schließlich kann es sein, daß Schulze kein Dieb ist, ein Gericht ihn jedoch wegen Diebstahls verurteilt, eben irrtümlich —, und deshalb gilt Schulze als Dieb.

Der Gesetzgeber hat nicht wissen können, ob der Mensch Schulze einmal stehlen werde, also hat der Gesetzgeber auch nicht wollen können, daß der Mensch Schulze bestraft werde. Dieses Wissen hat nur der Richter, sein Urteil, die individuelle Norm, fällt er bzw. setzt er auf Grund seiner Untersuchung, es ist sein Willensakt und als solcher in der Geltung auf keinen anderen wie immer gearteten Willensakt zurückzuführen.

In jüngerer Zeit verdichtet Kelsen alles Normative im Willen. Dies hat den Berichterstatter am meisten überrascht und getroffen; denn des Meisters Reine Rechtslehre und Allgemeine Staatslehre werden vom Gedanken getragen, daß nicht der subjektive Wille, nicht der subjektive Sinn eines Willensaktes, vielmehr der objektive Sinn das Wesen der Norm ausmacht, welches Wesen in der Hauptsache auf die Vernunft hingeordnet ist. Gerade hier, nämlich in der Lehre vom objektiven Sinn als dem Wesen der Norm, hatte sich die engste und tiefste Verwandtschaft mit den Rechtskonzepten des Aristoteles und des Thomas von Aquin gezeigt. Kelsen eröffnete dem Berichterstatter in einem Wortgefecht auf der Edmundsburg klipp und klar: „Sie haben recht, Herr Kollege, aber ich distanziere mich von meiner eigenen Lehre, ich habe meine Position revidiert.“

Der Sache nach ist der Autor der Reinen Rechtslehre ein Gefangener der Willens-Metaphysik geworden. Auch von Kant nimmt er jetzt Abstand; er betont, daß der Königsberger Philosoph ihn enttäuscht habe; er, Kelsen, habe herausgefunden, daß Kant nur dem Namen nach die Autonomie der praktischen Vernunft aufrechterhalten, im Grunde sie jedoch selbst aufgehoben habe.

Von der willensmetaphysischen Position aus ist es verständlich, daß Hans Kelsen das Naturrecht folgendermaßen konzipiert: Weil die Norm allemal der Sinn eines Willensaktes ist, kann man ein Naturrecht nur dann entwerfen, wenn man es im Willen Gottes fundiert. Die einzige konsequente und in sich abgerundete Naturrechtslehre sei die katholische Naturrechtslehre. „Wenn ich eine Naturrechtslehre gelten lasse, dann kann ich nur die katholische Naturrechtslehre gelten lassen.“

Die Frage nach der Grundlegung des Rechts bildete das zentrale Thema des Salzburger Wissenschaftergesprächs, an dem neben Kelsen Professor Alfred Verdroß (Wien), Professor Eric Voegelin (München), Professor Giorgio Del Vecchio (Rom), Magister Dr. Eberhard Welty (Walberberg), Professor Friedrich August von der Heydte (Würzburg), Professor Albert Auer (Salzburg), Dozent Franz-Martin Schmölz (Salzburg) und der Berichterstatter teilnahmen. Die Titel der übrigen Referate lauteten: Aristotelisches Naturrecht als theoretischer Ordnungsentwurf für die Gesellschaft (Voegelin), Der gesellschaftliche Mensch und die menschliche Gesellschaft bei Thomas von Aquin (Schmölz), Elemente aus dem modernen Naturrecht für die demokratische Gesellschaftsordnung (Auer), Naturrecht und modernes Kriegsrecht (v. d. Heydte), Naturrecht als Basis für eine Theorie der Weltgesellschaft (Del Vecchio — Welty), Der Einfluß der Naturrechtslehre auf Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen (Verdroß) und Das Naturrecht als Grundnorm der Verfassung (Marcic).

Das letzterwähnte Referat nannte Kelsen den ersten Versuch, die Strukturanalyse des Rechts, wie die Wiener Schule sie methodisch entfaltet hat, auf das Naturrecht anzuwenden: es soll mit dem Vokabularium und dem Rüstzeug der reinen Rechtstheorie das Seinsrecht (Naturrecht) als die Grundnorm des positiven Rechts ausgewiesen werden.

Der greise Gast aus Berkeley, der mit einer unbeschreiblich jugendlichen Frische allen Referaten und Diskussionen folgte und jeder These lebhaft widersprach, meinte, die Ergebnisse des Symposions zwängen ihn dazu, einige Punkte seiner Ausgangslage nochmals gründlich zu prüfen.

Kelsen ist unterwegs von einem Positivisten zu einem Rechtstheologen, allerdings nicht zu den Quellen der Rechtsontologie eines Aristoteles und Thomas von Aquin.

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