FORVM, No. 152-153
September
1966

Requiem für Habsburg

Eine Novembernacht des Jahres 1918

Notwendige Vornotiz

„Obzor“, Nachmittagsausgabe, 14. November 1918, Nr. LXIX, S. 3:

Das Fest dauerte bis zum frühen Morgen. Und wie es schon geht in diesen stürmischen Zeiten, in denen sich alle, selbst die intimsten, geselligen Veranstaltungen allzugerne in politische Versammlungen verwandeln, wurde auch der gestrige Thé dansant zum Schauplatz einer stürmischen Debatte, die tief in unsere Zukunft einschneiden wird und viel Licht auf die Zustände wirft, die dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie vorausgingen.

Als sich nämlich Oberstleutnant Kvaternik erhob, um zu sprechen, rief der kroatische Dichter Miroslav Krleža: „Nieder mit dem Unwürdigen!“ womit er auf die Tätigkeit des Oberstleutnants Kvaternik im Dienst des k.u.k. österreichisch-ungarischen Gouvernements in Serbien anspielte. Die Anwesenden nahmen sehr scharf für und gegen diesen Zuruf Stellung, der das Losungswort jener Strömung ist, die eine radikale Reinigung des nationalen Lebens von allem alten Österreichertum anstrebt. Darauf stand der Delegierte für Militärangelegenheiten, Herr Doktor Matthias Drinkowitsch, auf und nahm in einer längeren Rede die kroatischen Offiziere in Schutz, die ihr Ehrenwort gegeben hatten, ihrem Vaterland ehrenhaft zu dienen.

Anschließend erhob sich Herr Miroslav Krleža, den das Publikum aufgefordert hatte, das Wort zu ergreifen, und begann seine Ausführungen, wie er selbst betonte, nicht vom Standpunkt jener darzulegen, die sich während des Krieges in den Offiziersmessen besoffen, sondern im Namen derer, für die er als Symbol das kroatische 25. Honvedregiment anführte, dessen Mannschaften, von ihren eigenen Offizieren mißhandelt und in den Tod getrieben, in ihrer Seele die Idee der nationalen Befreiung trugen und ihre Rettung von Serbien erwarteten, vom gleichen Serbien, gegen das sie von ihren eigenen Offizieren gehetzt wurden. Bei diesen Worten entstand großer Lärm, Zwischenrufe und Beifallsäußerungen waren zu hören und die ganze Versammlung zerfiel in Gruppen, vor welchen einzelne Redner, Offiziere, Freiwillige, Unteroffiziere, Soldaten, Bürger und vor allem alle diejenigen, die während des Krieges eingekerkert und als politisch Verdächtige von einer Front zur anderen gejagt wurden, ihre Ansichten entwickelten. Im allgemeinen Lärm hörte man nichts von dem, was einzelne zur Sprache brachten. Aber dann ließ das Festkomitee die Musikkapelle einen Kolo aufspielen und damit wurde dieser Zwischenfall momentan beigelegt, ohne daß Herr Krleža seine Rede hätte beenden können.

Das war eine betrunkene Nacht, und wie betrunken; so verrückt betrunken, daß sich alle Ruhmeskränze und Fahnen, alle Schlachten am Kajmaktschalan, [1] alle Ikonen und Heiligenaltäre gemeinsam mit der blauen Adria und der kroatischen Nationalhymne „Unser schönes Vaterland“ in wunderlichem Durcheinander zur Tollheit dieser dummen, zügellosen Zecherei vermengten; so betrunken, wie es eben jene längstvergangenen Tage waren, als unsere österreichisch-ungarische Wirklichkeit trunken die Stufen des Thrones der Dynastie Karadjordjewitsch hinabrollte. Wie eine leere Bierflasche hinabrollt ... „Königlich, hermelinverbrämt und purpurn“ war die Trunkenheit der Nacht in der Vision dieser besoffenen, vor Begeisterung, Siegesrausch und Glückshalluzinationen rasenden und tollen Horde, einer so betrunkenen Horde, daß sie plötzlich ihre Einbildungen für wahr hielt und vergaß, daß sie träumte. Wirklich, alle waren vollständig besoffen, als ich mich gegen Mitternacht in dieses royalistische Gewühl mischte. In der großen Turnhalle des „Kolo“ und des „Sokol“ [2] lärmten und brüllten sie, wie man eben bei uns in stinkenden Schnapsbuden, Schenken und Kneipen herumbrüllt — von der nördlichen bis zur südlichen Grenze des Landes, von den syrmischen Weinbergen bis Laibach und bis zu den Klöstern Metochiens und Mazedoniens.Welch ein Beiram [3] spießbürgerlicher Begeisterung! Was für ein markerschütterndes Gebrüll der Säufer! Was für ein fliegenhaftes, kopfloses Schwärmen durch dichte, undurchsichtige Rauchschleier! Welch ein Lärm der Zungen und Sohlen, welch ein schmarotzerisches Schilcher-, Dingatsch und Muskateller-Saufen! Was für ein fröhlicher kaiserlicher Leichenschmaus zu Ehren der (nach einer Behauptung der geschätzten Redaktion des „Horizont“) „zweimal auf legale Weise erwählten kroatischen Dynastie Habsburg“!

Von den ungefähr fünfzigtausend allerauserwähltesten Auserwählten unserer politischen Crème de la Crème betrank sich hier in dieser Nacht die Blüte der Agramer südslawischen royalistischen Intelligenz und alle die Detektive, Minister, Bevollmächtigten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen; die österreichisch-ungarischen Großgespane und die kroatisch-slowenisch-dalmatinischen Dichter und Zöllner wurden angesichts dieses üppigen Mahles und der Aussicht auf eine unendliche Folge ebenso üppiger und schlemmerischer Gelage (die andauern würden bis ans Ende unserer Tage) vor Begeisterung völlig verrückt.

Berauscht, betäubt und weinselig wurden unsere Zylinderträger, die grauen Juristen- und Beamtenfiguren, in dieser Nacht bonapartistisch laut und aufdringlich, als hätten sie sich, schwarz von Pulverrauch, blutig und fettverschmiert, in der triumphalen Rolle historischer Sieger zu dieser ruhmvollen Teegesellschaft durchgefochten. Wie Raben und Dohlen, die zu Leichen auf den Ackerfeldern niedergleiten (und Leichen liegen jetzt ja überall zahllos herum, weil sich der Tod in den vergangenen vier Jahren in ziemlich allen unserer Schluchten und Tälern ausgetobt hat, und noch immer ist von jeder Seite Brand- und Leichengeruch zu spüren), ließen die Mitglieder dieser Gesellschaft während der Kadavermahlzeit ein Freudengekrächze hören.

Und alle waren wirklich vollständig besoffen, diese armseligen Aasgeier, als ich gegen Mitternacht in das südslawische Gewimmel stieß. Die liebe abgeschiedene Dynastie ist erst vor wenigen Tagen entschlafen und über der kaiserlichen, buchstäblich noch warmen Leiche wurde schon pathetisch eine ander Dynastie begrüßt, eine „junge, bäuerische, fortschrittliche Dynastie, die Stuart Mills übersetzt“, [4] eine Dynastie, die „sozialistisch“, „national“, ja sogar „republikanisch“ ist! Diese — quasi — „republikanische Dynastie“, diese Dynastie in Bundschuhen vergießt heute Abend ganze Krüge voll Malvasier. Sie hat Tische mit Würsten und Torten übersät, damit unter königlichem, besoffenem Grunzen auch jenes bißchen Verstand dahinschwände, das bis jetzt noch nicht aus den halbleeren, betrunkenen Schädeln verdampft ist!

Und seht, rings um diese besoffene Teegesellschaft lodert der Brand des Aufruhrs im Volk, während man hier die allslawische Dreivierteltakt-Polka hündischer Loyalität tanzt: daß eine neue Aula wieder pro nobis da sei und daß diese nicht de nobis sine nobis zu herrschen beabsichtige, sondern pro nobis — in signo verae et perpetuae ... [5] Gleichberechtigung der Volksstämme.

An verschiedenen Stellen der Stadt Agram flammen die Dächer, die Feuerhähne krähen und von den brennenden Türmen in Turpolje [6] hört man das Klagen der Glocken. Wieder einmal ist seit dem Jahr 1848 Bewegung in das Volk gekommen, es hat sich erhoben, um Schluß zu machen mit dem Knien vor Zylinderhüten und Kadavern und endlich Menschenwürde zu gewinnen. Aus dem Dunkel knallen Schüsse und aus der Ferne kläfft ein Schwarzlose-Maschinengewehr, [7] aber hier tanzen die Sofkas, die Zlatas und die Olgas ihren trunkenen illyrischen Koloreigen, eine närrische Lumperei springt über die Tische und zerschlägt Gläser auf diesem neolegitimistischen, neoslawischen Fest eines kleinbürgerlichen politischen Mehlbreis und Mischmaschs. Kreischend und quietschend drängt sich unser „holdseliges schönes Geschlecht“ an die „hoffnungsvollen serbischen Offiziere“, die Vertreter der serbischen Armee, denen patriotische Bürger Blumen, Cognac und Würstchen anbieten, erfülllt von aufrichtiger illyrischer Volksbegeisterung für die Sieger des Tages, völlig hingerissen wie zur Zeit des seligen Banus Jelatschitsch. [8] Unsere süßen Agramer Fräuleins vergessen ihre miedertragenden kaiserlichen Kavaliere in Pejatschewitsch-Hosen schnell beim Klirren der Gläser und Waffen; beim Pfeifen der Flöten und Zirpen der Tamburitzas vergessen unsere herzigen und reichgeputzten jungen Damen ihre kaiserlich-königlich agramerischen Straußiana und ihren „Walzertraum“; unsere süßen Mädchen und Zuckerbäcker-Dämchen umschmeicheln jetzt die Serben und tanzen im slawonischen Nationalkostüm aus dem Besitz des Frauenvereins in Petrinja die Serbiantschitza, einen serbischen Kolotanz — und zwar in Bundschuhen, denn unsere neue nationale Dynastie ist republikanisch, „sie übersetzt Stuart Mills“, „unser König ist ein Freund Bakunins“ [9] und so ist auch unser junger Regent eine Art von freisinnigem Bakunin-Anhänger: revolutionär, idealistisch, panslawistisch und ein südslawischer Demokrat! Einfach süß! Zum Bussi-geben! Zum Zwickibussi-geben!

Ich dränge mich zwischen den Tischen hindurch, die von unzähligen großen Schüsseln mit Riesenfischen aus der Save bedeckt sind, und denke still an die Verse des unsterblichen Stoss im Gedicht „Das Standbild des kroatischen Vaterlandes“: [10]

Der Wels bewegt den Schnurrbart stolz und schlau,
Schnappt mit dem Maul nach Fischlein in der Sau!
 
Jedoch des lieben Vaterlandes Bild, o Graus,
Schnarcht auf der Bahre schon im Totenhaus.

Mich durch ein hirnloses Schnapsgelage hindurchdrängend, wo alles durcheinanderirrt unter dem Einfluß verschiedener starker Weine und Wermutgetränke, wo Champagnerpfropfen knallen und der goldige Ausbruch schäumt und wo alles verwässert und zur rotzigen und blöden Euphorie eines übernationalen Massenwahnsinns zerschmolzen ist, denke ich über Stoss’ Trauer nach und darüber, daß sich seither nichts geändert hat. Ich stehe inmitten dieses trunkenen Deliriums und beobachte — nun, liebe Vaterlandsfreunde! — wie in diesem Weinberg Groß-Illyriens alles mit Weinlaub geschmückt dasteht, wie alles kreischt und alles johlt, alles jauchzt und alles grunzt wie in einem Gedicht von Mirko Bogović [11]

A — Be — Ce und A — Be — We,
Das ist unser schlimmstes Weh ...

Alles ist betaut von Tränen und Schweißtropfen, alles ist benetzt von den Wassern des Himmels, alle übergeben sich, alle lassen Wasser ab nach allen Seiten, daß die Gewässer, die uns durchströmen, nur so aufgurgeln und dahinrieseln, wirtsmäßig, wie bei einem Symposion und wirklich: ganz illyrisch antik ist alles in Fluß geraten, panta rhei ... In dieser schwitzenden Hölle, diesem Gestank von Parfum, Schnaps und Schießpulver, wo Eisenöfen wie glühende Kupferkessel Hitze ausstrahlen, wo dicker Zigarrenrauch aufsteigt, daß durch graue Schleier rotbackige Masken wie blutverschmierte Wangen hervorleuchten — hier riecht alles säuerlich, nach Beuschel, nach Kuttelfleck, nach Würstchen, alle stoßen miteinander an und alles säuft, alles brüllt: hoch!

Toni lebe hoch, hoch Milan, hoch Signor Matteo — er hat eine schöne Rede gehalten, da ist nichts zu sagen — es lebe Signor Matteo — auf Ihre Gesundheit, Herr Matthias — es lebe Comte Ivo, Fürst von Ragusa — addio, Patrizier — hoch Peter — es lebe Swetozar — hoch Gaj — hoch Jelatschitsch ...

Alle singen von Serben und Bosniaken, „von dem grauen Falken Miletitsch“ — „Dort, dort, in der Ferne, hinter den Bergen, dort ist Prisren, dort ist ...“ — „Erhebe dich, Banus, Kroatien ruft dich“ — „Rote Wangen, roter Wein“ — „Unser schönes Vaterland“ — „Kolo, Kolo in der Runde“ — „Unser schönes Vaterland“ — „Tanzt die Jugend mit im Bunde“ — „Es weidet die Herde, es klingt das Horn“ — „Der Morgen bricht an, der Tag erwacht“ „Dort, dort in der Ferne“ — „Dort ist die Insel von Bled, verkitscht und blöd“ ... Alle singen vom Triglav, vom Amselfeld, singen bis zur Bewußtlosigkeit, in trunkener Hysterie — und ich dränge mich durch das Gewimmel und denke: also das ist unsere Nationalgeschichte, und niemand wird je wissen noch erkennen, wie das eigentlich aussah in einem historischen Augenblick, da die Stadt Agram im Monat November des Jahres Achtzehn den Untergang Österreichs feierte.

Ich geriet auf diesen Ball ganz zufällig, aus Einsamkeit und Melancholie. Schon seit mehreren Tagen hatte mich das unbestimmte Gefühl gequält, daß um mich herum zu viele tote Dinge lägen. Szigeth, Mohácz, Belgrad, Castell Uovo, Knin, Sissak — der österreichische General Katzianer [12] liegt irgendwo bei Kostajnitza im Morast, die Fische der Una haben ihn gefressen und auf seiner Kanone, der „Katzianerin“, wurde Niklas Zrinyi in Sziget der Kopf abgeschlagen; der alte Graf Herberstein sitzt auf seiner Pettauer Burg und starrt desperat auf die grüne Drau, die Drau fließt lautlos dahin und wälzt den frühen Novemberschnee rasch mit sich, und um den alten Grafen Herberstein schweigen die Rüstungen und die Portraits der Zrinyi, die alten Tapisserien von Czakathurn; auch vor seinem Schloß steht schon die Pfändungskommission, schon hört man die Trommel, schon sind die Exekutoren da im Namen des ermordeten Zrinyi [13] ... Zar Lazar, ehrenwerten Stammes, wo nur bleibst du, da sind wir nun mit einer Flasche doppeltgebranntem Sliwowitz und die goldene Puppe liegt allein in der Kiste, völlig allein im goldenen Ornat. Laß uns anstoßen, Zar Lazar, was schweigst du denn, trauriger Serbe, im Dom des Sankt Dominius zu Spalato flackert ein einziges Altarlämpchen und längliche Schatten zittern auf den korinthischen Säulen, „Christe eleison“ murmelt der Chor der Dominikaner, nun vereinigen wir uns mit den Schismatikern in partibus infidelium, [14] um die Kirche des heiligen Donat zu Zara schreien Eulen. Hier dauert eine vierhundertjährige Nacht, wir schreiten über Kadaver dahin und alles ist voll von Leichen, Armen, Beinen, Schädeln, Riesenschlangen, Beinhäusern, Friedhöfen, Katakomben, und dort liegt Jajtze, dort liegt der letzte bosnische König Stefan Tomaschewitsch und hält den eigenen Katharerkopf in seinen Händen, [15] in der Kirche zu Remete schläft Jan Pannonius, Homosexueller, Dichter, Atheist, Bischof, völlig anonym in seinem eigenen Land, unbekannt, nicht anerkannt, ungedruckt und nach vierhundert Jahren völlig vergessen; auf dem Agramer Friedhof schlafen die Illyrer Vraz und Preschern, [16] Vaterlandsfreunde, Knechte, zweihundertsechzig Dächer des heiligen Franziskus: „morgen wird es etwas Wurst mit Bohnen geben, wenn der liebe Gott will“ — die Kathedrale zu Djakowo steht leer, irgendwo in der Nachbarschaft grunzt ein Schwein, der Bischof schläft und um Strisivojna—Vrpolje—Kapella—Batrina—Wutschjak jammern zu Tode verwundete madyarische Lokomotiven. Ein letztes habsburgisches Notturno, ein großes pathetisches Poem, das seinen Dichter nicht findet. Zu Füßen des Velebit-Gebirges schlägt das dunkle, das hochwogende Meer gegen das Ufer von Obrowatz bis Tulove Grede, nirgends ein Mensch, und um Verlika und Sinj belfern Mitrailleusen, und Schüsse hallen von den Mauern der Stadt Zengg wider. Auf den Pfählen werden die abgeschlagenen Häupter der Uskoken [17] von Unruhe ergriffen, ein seltsames Gerücht kam ihnen zugeflogen: Österreich ist untergegangen.

Ich las in dieser Nacht Vojnowitsch — einige seiner Phrasen über die nationale Einigkeit und die nationale Befreiung — und noch nie schien mir dieser Dichter so sehr aus Papier und Snobismus zusammengesetzt wie in dieser Nacht. Wozu brauchen wir diese zweitrangige italienische Ware, um Gotteswillen?

Über den Dächern glühte der rote Schein der Brände so intensiv, daß sich Strähnen purpurner Schatten durch das Zimmer ergossen und ich, schon selbst beunruhigt, aufstand und durchs Fenster blickte. Auch die Tauben auf den Gesimsen der Fassaden wurden unruhig, begannen herumzuflattern und die Schornsteine zu umkreisen. — Da brennen die Lagerhäuser um den Südbahnhof und über Turopolje ist der Himmel blutrot. Um Goritza, Stupnik, Mratzlin und an der Odra steht alles in Flammen. Dugo-Selo und Kerestinetz, Sankt-Iwan-Zelina und Kneginetz, Beletz, Lobor, Puschtscha, alles brennt ...

Österreich verschwand vor einigen Tagen so lautlos aus unserer kleinen Stadt, daß eigentlich keiner unserer sehr geehrten und lieben Mitbürger merkte, daß es gar nicht mehr unter uns weilt. Alles war an seinem Platz geblieben: das Hospital der Barmherzigen Brüder, die Eisenhandlung Wasserthal, die Apotheke Mittelbachs, die Filiale des Grazer Kaufhauses Kastner und Öhler, das Grand-Hotel, die Erste Kroatische Sparkasse, die Eskompt-Bank, der Basar Berger, die Buchhandlung Kugli, das Café Korso und das Restaurant Jägerhorn, die goldenen Uhren im Schaufenster Bulwans, die Bücher bei Breyer, die Mäntel bei Bettelheim und Mosingers Photographien. Im Schaufenster eines Basars auf dem Banus-Jelatschitsch-Platz hatte man einem süßen weißen Pudel aus Wolle unsere geliebte Trikolore als kokette Masche umgebunden und im Schaufenster der Apotheke „Zu den Wunden des Herzen Jesu“ hatte man eine ebenso kokette Masche aus unserer geliebten Trikolore zusammen mit einer weißen Chrysantheme an der Gipsfigur des Hippokrates befestigt; relativ viele „liebe Trikoloren“, naß vom Novemberregen, schwankten im Wind vor den Fenstern langweiliger bürgerlicher Zwei-Zimmer-Wohnungen der Häuser im Stadtzentrum, wo über dem offenen Grabe Österreichs schon nicht mehr allzuviel über dieses Ereignis gesprochen wurde. Wie einen krepierten Fisch in nasses Zeitungspapier (der Extraausgabe) eingewickelt, hatten die guten Bürger dieses tote Österreich unlängst nach Hause gebracht, dann aßen sie den zu Allerheiligen obligaten gebratenen Truthahn, und ihre einzige Sorge — ob auch am Ersten das Novembergehalt richtig ausgezahlt werden würde — war ihnen vom Herzen gefallen, alles ist in bester Ordnung, die Staatskasse des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen hatte die Bezüge am Ersten ordnungsgemäß überwiesen, die Staatskasse eskomptiert als Schalter ordnungsgemäß weiter, das Theater hat nicht aufgehört, die „Lustige Witwe“ zu spielen, in Ordnung, bitte schön, es fiel eben nur einmal der Vorhang und alles ändert sich wie bei einem raschen Dekorationswechsel auf der Bühne zwischen dem einen und dem anderen Akt. In den Ämtern nimmt man die Bilder Franz Josephs von den Wänden und hängt an dieselben Nägel Bilder König Peters in roter Marschallsuniform, und der Chor der intellektuellen Ieromandriten, Archimandriten und Mönche, „iz tmine zabwenija tropar ubirajuschtschi“, [18] hat sein altes Lied von Anschluß, Vorschuß und Einigung zu brummen angefangen: daß die kirchenslawische und die serbische Sprache zwei Wege seien, die uns zu einem Ziele führen.

Unter dem Rauschen dieser schönrednerischen Kaskaden wurden alle Agramer lyrischen Stieglitze wieder lebendig und alle vaterländisch empfindenden Hängelampen begannen sich in diesem Winde zu wiegen, „denn man fragt nicht danach, wer der lateinischen und wer der östlichen Kirche angehört, wenn er nur wohlmeinend ist — man fragt nicht, wie einer das Kreuz schlägt, sondern was für ein Blut ihm die Seele wärmt, denn — mit der Elle des Glaubens mißt man des Menschen Torheit“. Von allen unseren Weiden geschnitten, begannen so viele Flöten zu tirilieren in jenen Tagen, daß durch ihr Gequietsche kein einziges vernünftiges, menschliches Wort mehr zu hören war.

Ich hielt es im Zimmer nicht mehr aus. Die Straßen waren leer, nirgends ein Mensch, nur das Gebäude des „Kolo“ und des „Sokol“ strahlte im vollen Glanz des ersten südslawischen Damen-Tees nach vier langen Kriegsjahren. Ich wußte, daß unsere „demokratischen“ Damen, die sich auf den Plakaten selbst „Frauen“, und noch dazu „südslawische Frauen“ genannt hatten, dem eigenen bürgerlichen Stil zum Trotz und zu Ehren der serbischen Offiziere heute Abend in allen Räumen des „Kolo“ und des „Sokol“ einen Gala-Tee veranstalteten, und so zogen mich die festlich erleuchteten Fenster dieses vaterländischen Frauen-, um nicht zu sagen Weiber-Tees aus dem Dunkel und so fand ich mich schließlich in diesem besoffenen Getümmel, immer noch ein wenig geistesabwesend und traurig.

Ich steige zur Galerie empor. Von hier oben sehe ich durch das Gewühl der Tanzenden, die den Schütteltanz tanzen, der Dudelsäcke, Baßgeigen, Bratschen, Zigeuner, Militärtrompeten, Klavierspieler auf die royalistische Ehrentafel mit dem Damasttischtuch in der Mitte des Saales. An der Spitze dieser Tafel sitzt Seine Exzellenz Herr Doktor Matthias Drinkowitsch, Bevollmächtigter für Militärangelegenheiten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen und neben Seiner Exzellenz dem Bevollmächtigten für Militärangelegenheiten sitzt der ehemals dem kaiserlichen und königlichen Generalstab zugeteilte Oberstleutnant der kaiserlich-königlichen Infanterie Herr Slavko Kvaternik als Kanzleichef des Bevollmächtigten für Militärangelegenheiten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen, als stellvertretender Stabschef der Kroatischen Nationalen Armee und ihr interimistischer Oberkommandierender.

Ich habe schon „Drei Honveds“, „Königlich-ungarische Honvednovelle“, „Der Tod des Franjo Kadaver“, „Honved Jamnrek“ [19] und „Tausend und ein Honvedtod“ geschrieben und dieser elende Wicht von einem kaiserlichen und königlichen Oberstleutnant, einem Bevollmächtigten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen zugeteilt als stellvertretender Stabschef der Kroatischen Nationalen Armee, stellt in diesem Augenblick für mich nichts anderes vor als eine Figur aus meiner eigenen Antikriegsprosa. Auf dem mit Damast gedeckten Tisch stehen Rosen in Silberkelchen, lachende Schweinsköpfe, Schilcher, Jerusalemer, Tokayer, Burgunder, Wermut, Cognac, Maraschino, Torten, Gleichgewicht, Muscalzonistangen. Muscalzoni als patriotische Gabe derselben zarten Damenfingerchen, die dem großen Bischof von Djakowo Petit-Point-Stickereien für sein Zimmer verfertigten, als es um die Illusion einer südslawischen Einigung unter dem Schutze der bischöflichen Mitra seines Salonbischoftums ging — und welche dann, als patriotische südslawische rosenfingerige Feen, mit denselben Fingerchen die Jeanetten in den österreichischen Kriegslazaretten handhabten, um vielleicht auf diese Weise als Samariterinnen des Österreichischen Roten Kreuzes ihren großen vaterlandsliebenden Banalratsnamen ins „Goldene Buch des Kroatischen Volkes“ einzutragen. Und nachdem sie vier Jahre lang nach dem Motto des Generalfeldmarschalleutnants von Scheure „Die Kerle sollen sich gegenseitig auffressen“ gewirkt hatten, haben sie heute Abend auf Silberaufsätze eine Unmenge von Vanille-Stangerln und Pfefferkuchen gehäuft, nach dem gerade aktuellen patriotischen Agramer Motto „Die armen serbischen Kerle sollen sich anfressen“. Beim Abschneiden der Arme und Beine des Volkes behilflich zu sein, mit hippokratischen Metzgern in der Gala kaiserlich-königlicher Truppen-Oberärzte zu kokettieren, eine charmante Krankenschwester mit blutrot gefärbten Haaren à la Salome abzugeben, tagtäglich Johanaans Honvedkopf auf Blechschüsseln, unter Servietten verborgen, in die Totenkammer zu tragen, auf Wohltätigkeitsfesten in der Nationaltracht aus der Gegend von Djakowo für die Verlängerung des kaiserlichen Gemetzels zu tanzen, goldene Nägel in die slawische Linde einzuschlagen, die Massen zurückkehrender Verwundeter mit Blumen zu empfangen, als handle es sich um ein Maifest, vor den goldenen Krönungspantöffelchen des Thronfolgers Otto die Knie zu beugen, gestern noch eine gute, loyale Kroatin und feine Dame gewesen zu sein und heute Abend schon eine südslawische demokratische Frau mit einem einzigen Ideal — der Dynastie Karadjordjewitsch — auf den pastos bemalten Lippen, das bedeutet: der Entwicklungslinie auf dem Graphikon der Karriere des Herrn Gemahls, des Banalrates, getreulich zu folgen; er hat alle seine österreichischen Orden heute Abend in den Kehrricht geworfen, um morgen schon mit neuen balkanischen Schellen klingeln zu können, die schon seit Jahrzehnten von derselben Wiener Fabrik, immer gleich geschmacklos und gleich einträglich wie Hundemarken hergestellt werden.

nächster Teil: Requiem für Habsburg

[1Erster strategischer Erfolg der serbischen Armee nach dem Zusammenbruch des Jahres 1915. Nach diesem Sieg an der griechisch-serbischen Grenze im Herbst 1916 konnte die serbische Armee wieder auf serbischem Boden Fuß fassen.

[2Zwei nationale kroatische Turn- und Gesangsvereine.

[3Erinnerungsfest an die Offenbarung Mohammeds.

[4Peter Karadjordjewitsch hat als Kronprätendent im Exil als erster Stuart Mills ins Serbokroatische übersetzt.

[5Daß ein neuer Hof wieder für uns da sei ... nicht über uns — ohne uns, sondern für uns im Zeichen der wahren und ewigen ...

[6Südlich von Agram.

[7Maschinengewehr-Type der österreichischen Infanterie im Ersten Weltkrieg.

[8General Graf Josef Jelatschitsch, 1848 Oberbefehlshaber der aufständischen kroatischen Truppen; warf die Revolution in Wien nieder.

[9Russischer Anarchist.

[10P. Stoss, romantischer Dichter Kroatiens.

[11Ein anderer romantischer kroatischer Dichter; kämpfte für die Einigung der Südslawen.

[12Feldherr in den Türkenkriegen.

[13Der letzte Sproß dieser kroatischen Adelsfamilie, Graf Peter, Banus von Kroatien, wurde 1671 in Wiener Neustadt als Verschwörer enthauptet.

[14In den Gegenden der Ungläubigen (aus römisch-katholischer Sicht die griechisch-orthodoxen Provinzen).

[15Unter den Bogumilen war Bosnien ein Land der Manichäer.

[16In den napoleonischen Kriegen entstand das Königreich Illyrien. Nach seiner Auflösung im Jahr 1822 wählte die südslawische Einigungsbewegung die Parole „Illyrer, vereinigt euch!“

[17Der Aufstand der Uskoken gegen die Türkei, Venedig und Österreich (1573-1617) wurde im Madrider Frieden liquidiert.

[18„Aus der Finsternis des Vergessens ein neues Kirchenlied anstimmend“ (kirchenslavisch).

[19Deutsch im Novellenband „Der kroatische Gott Mars“, erschienen 1964 im Stiasny-Verlag, Graz und Wien.

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