FORVM, No. 212/I-IV
August
1971

Revolutionäre Geduld

„Zur Kritik der revolutionären Ungeduld“ von Wolfgang Harich

In München existiert eine Buchhandlung, die sich „Linksbuch“ nennt und selbstredend, zwischen Boutiquen eingerahmt, im attraktivsten Viertel der Stadt liegt. Dort fand ich mich vor wenigen Wochen ein und erbat Wolfgang Harichs Buch „Zur Kritik der revolutionären Ungeduld“. Die Reaktion der Genossin Verkäuferin, die garantiert alle verfügbaren Titel der Raubdrucke von Wilhelm Reich bis Herbert Marcuse im Schlafe hätte aufsagen können, war Ratlosigkeit. Harich? Nie gehört.

In einer bürgerlichen Buchhandlung, die das Buch zwar auch nicht vorrätig hatte, kannte man immerhin den Namen des Verfasers und beeilte sich zu bestellen. Symptomatisch scheint mir für die Situation der sog. Neuen Linken nicht nur die totale Unkenntnis der jüngsten Auseinandersetzungen innerhalb der Linken, die ein Wolfgang Marich wie kein anderer Marxist im Nachkriegsdeutschland mitbestimmte und denen er schließlich zum Opfer fiel, so daß er seine besten Jahre in Ulbrichts Zuchthäusern zu verbringen gezwungen war, symptomatisch scheint mir auch, daß die älteren Linken, denen der Name Wolfgang Harich einmal etwas bedeutete, heute offenbar so sehr mit Anpassungssorgen an die Neue Linke beschäftigt sind, daß sie ihn schamhaft ignorieren; jedenfalls kann ich mir anders kaum die Tatsache erklären, daß Harichs Schrift von allen renommierten bürgerlichen Verlagen mit Linkslektoraten — von Rowohlt über Luchterhand bis zu Suhrkamp — abgewiesen worden sein soll und so bei einer obskuren „edition etcetera“ in Basel landete, die sie im Stil eines Raubdrucks und entsprechend mit annähernd 50 grob entstellenden Druckfehlern publizierte. Dabei hätte ein einziger Blick ins Manuskript jeden auch bloß obenhin am sog. Zeitgeschehen Interessierten darüber aufklären müssen, daß es sich hier um einen Text von überhaupt nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Verständnis und — mehr noch — für das Selbstverständnis der Neuen Linken und der Linken überhaupt handelt.

Das Besondere an Harichs Schrift ist noch nicht einmal so sehr ihre Zielrichtung — schließlich steht ein Buch des Titels „Kritik der revolutionären Ungeduld“ notwendigerweise im Schatten von Lenins Schrift „Radikalismus: die Kinderkrankheit des Kommunismus“ (obwohl Harich, wenn ich das nicht übersehen habe, diese merkwürdigerweise nie zitiert) —, das Besondere ist die Art, in der Harich argumentiert, seine Distanz, seine Besonnenheit, seine Leidenschaftslosigkeit. So distanziert er sich denn auch bezeichnenderweise im Nachwort recht energisch von einer Anarchismuskritik, wie sie 1969 Hans G. Helms in seinem Buch „Fetisch Revolution“ vorgetragen hat: Harich setzt diese mit Diffamierung gleich und sieht sie im Bunde mit den völlig undifferenzierten Angriffen, wie sie beispielsweise 1968 die „Literaturnaja Gaseta“, die die westdeutschen und Westberliner Neoanarchisten als „Rowdies und Provokateure“ abtat, gestartet hatte.

Harich seinerseits vergißt selbst über der massivsten Kritik des Neoanarchismus nie, daß das gemeinsame Ziel von Anarchisten und Kommunisten immerhin Herrschaftslosigkeit ist und daß beide „von der gleichen herrschenden Klasse gehaßt und verfolgt“ werden. Der Tenor seiner Schrift ist folglich bestimmt von Geduld mit der revolutionären Ungeduld, läßt jedoch nie Zweifel daran, daß Gedüld nichts mit Duldung zu tun hat, denn — und das belegt Harich bestechend — der Anarchismus ist immer der „Zwillingsbruder des Reformismus“, da seine Devise „Alles oder nichts“ lautet, muß er wohl oder übel immer beim Nichts landen, beim Nichts des schlechten Bestehenden, duldet also keinerlei Duldung.

Harich beginnt seine Polemik sehr vorsichtig; zunächst addiert er einmal die Gemeinsamkeiten von Anarchisten und Marxisten; er konzediert den Anarchisten ihr Insistieren auf der Liquidierung des Staates, erinnert sie aber daran, daß gerade Marx und Engels das Absterben des Staates als Endziel der Revolution betrachteten, und daß Lenin, sogar am Vorabend der Oktoberrevolution, es für ganz unbedenklich hielt, zu bekennen, daß in der Frage der Abschaffung des Staates als Ziel die Bolschewiki mit den Anarchisten gar nicht auseinandergingen.

Doch hier beginnen bereits die Divergenzen, denn „die Anarchisten wollen den Staat sofort, von heute auf morgen, beseitigen und suggerieren, daß das kommunistische Verteilungsprinzip — ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen!‘ — im unmittelbaren Anschluß an den Sieg der Revolution, also unabhängig vom Stand der Produktivkräfte, einzuführen möglich sei, die Marxisten dagegen halten es für unerläßlich, daß die sozialistische Revolution sich für eine Übergangsperiode, bis zur Verwirklichung des Kommunismus, eines eigenen, revolutionären Staates, genannt Diktatur des Proletariats, bedient“.

Nun ist es eine Sache, die Warnung der Anarchisten, auch der Marxismus werde zur Diktatur führen, mit dem Hinweis abzutun, genau dies, nämlich die Diktatur des Proletariats, sei ja beabsichtigt und nötig, und es ist eine andere Sache, zuzugeben, daß die Diktatur des Proletariats, wie wir sie in den Staaten des institutionalisierten Sozialismus, zumindest jenseits der Elbe, beobachten können, in Wahrheit — wie schon Brecht in den dreißiger Jahren Benjamin gegenüber bemerkte — eine Diktatur über das Proletariat ist, kurz: Staatskapitalismus, d.h. daß das in Aussicht gestellte Absterben des Staates dort genauso wenig zu beobachten ist wie hierzulande.

Harich kann das natürlich so nicht zugeben, obwohl er erstaunlich deutlich sagt, daß jeder Staat, auch der sozialistische, von Übel sei; aber in diesem Punkt redet er sich letztlich doch, wie schon vor ihm Merleau-Ponty, auf das Gegenüber der kapitalistischen Staaten hinaus, dem alle Mängel der sozialistischen Staaten zuzuschreiben seien. Das einzige Beispiel, das er — wenn auch mit Vorsicht — anführen könnte für ein sichtbares Absterben des Staates innerhalb des Sozialismus, ich meine China, wagt Harich, wiederum aus verständlichen Gründen, nicht heranzuziehen.

So ist zu fragen, ob die Marxisten, die an der Macht sind, und von denen Harich spricht, nicht ebenso dem Reformismus in die Hände arbeiten wie die ohnmächtigen Anarchisten mit ihrer Flucht ins Irrationale, gegen die Harich polemisiert.

Tatsächlich hat sich die Warnung der Anarchisten vor den Gefahren einer Preisgabe der Freiheit im vermeintlichen Interesse der Revolution mehr als einmal, und zuletzt sogar in Cuba, bestätigt. Doch sind uns die Anarchisten ihrerseits jeden Hinweis schuldig geblieben, wie denn ihre Alternative realisiert werden könne. Niemals haben sie sich theoretisch mit irgendeinem Übergangsstadium zwischen den bestehenden Verhältnissen und ihrer Utopie von der absoluten Herrschaftslosigkeit ernsthaft beschäftigt, wenngleich sie — Harich unterschlägt auch das nicht — schon einigemale nach sozialistischen Revolutionen ihre Prinzipien hintanstellten und diese Revolutionen unterstützten, obwohl sie doch neue Herrschaft befestigten.

So hält Harich es für nicht ausgeschlossen, daß z.B. auch die Brüder Cohn-Bendit, die er im übrigen besonders scharf attackiert, im Mai 1968 eventuell durchaus bereit gewesen wären, auf den propagierten sofortigen „Genuß ohne Hemmungen“ (der freilich auch nach einem Sieg des Proletariats garantiert hätte auf sich warten lassen) zugunsten einer strategischen Sicherung dieses Sieges vorerst zu verzichten und mit den Marxisten taktisch zu kooperieren. Überhaupt — und das unterscheidet Harich sehr von Helms — hält er die Anarchisten durchaus für belehrbar, vor allem für belehrbar durch Fakten. Und die liefert er nun allerdings in einer Fülle, daß sie auch nur stichwortartig zu referieren ganz unmöglich ist.

Am aufregendsten scheint mir Harich, wo er dem „anarchistischen Apolitizismus als Konsequenz revolutionärer Ungeduld“ (wie er das formuliert) nachspürt und dabei die Ideengeschichte der Formel „Verunsichern der Institutionen“, die für unsere Neoanarchisten so charakteristisch ist, bis auf ihren reaktionären Urheber Arnold Gehlen zurückverfolgt. Harich weist nach, daß die abstrakte, weil ahistorische, undialektische Konzeption Gehlens, derzufolge jedes Verunsichern von Institutionen von übel sei, auch in ihrer Umkehrung als Aufruf zum Verunsichern der Institutionen nicht plötzlich dialektisch geworden sei, vielmehr mit allen ursprünglichen Fehlern behaftet bleibe.

So wie der Anarchismus keine Hierarchie der Reihenfolge revolutionärer Aktionen anerkennt, sondern alles auf einmal und alles zusammen zum Richtigen verändern will, anerkennt er auch keine Hierarchie der Institutionen. Das Ergebnis ist, betrachtet man gerade die jüngsten neoanarchistischen Umtriebe, daß er mit Vorliebe solche Institutionen angreift, auf die es gar nicht ankommt, d.h. die für den Bestand des kapitalistischen Systems völlig belanglos, wenn nicht sogar überflüssig sind, so daß der Anarchismus letztlich sogar für ihre Reformierung innerhalb des unveränderten Systems sorgt und dieses damit stabilisiert. An ein drastisches diesbezügliches Beispiel sei erinnert: Während vor wenigen Jahren anläßlich der Frankfurter Buchmesse Neoanarchisten spektakulär gegen den Träger des Friedenspreises, den in der Tat wenig friedfertigen Lyriker Senghor, demonstrierten, tagte seelenruhig im Hotel Frankfurter Hof, vor dem diese Demonstration stattfand, eine Versammlung von Industriekapitänen und Bankiers unter Vorsitz von Herrn Abs.

Ich glaube, Harich hat recht, wenn er die Anfälligkeit für anarchistische Ideen als Produkt einer Resignation vor der Übermacht der bestehenden Herrschaftsverhältnisse interpretiert, also als Religionsersatz, als Wunschdenken, das schließlich vergißt, auf Einlösung der Wünsche zu drängen und sich mit lauter Ersatzhandlungen zufrieden geben muß. Leider verzichtet Harich bei der diesbezüglichen Beweisführung auf Freudianische Kategorien, ohne die — darauf hat Harry Pross bereits in einer Besprechung des Harich-Buches aufmerksam gemacht — bestimmte heutige Phänomene des Neoanarchismus unmöglich zu erklären sind und ohne die, nebenbei bemerkt, auch viele Phänomene innerhalb der Staaten des institutionalisierten Marxismus einfach nicht mehr verstanden werden können.

Auch wenn Harich die Zettel verspottet, die Anarchisten am Schauplatz ihrer Aktionen hinterlassen, um diese zu erklären, muß gesagt werden, daß das vermeintliche Klassenbewußtsein, von dem Harich seinen Hohn herleitet, „bloß auf Plakaten vorkommt, die eine Bürokratenkaste so anschlägt, daß keiner sie übersehen kann“ (Pross). Was immer Harich vorbringt gegen antiautoritäre Kindergärtnerinnen, Buchmessestürmer, Kommunarden, die Promiskuität mit Klassenkampf verwechseln, gegen angeklagte APO-Leute, die das bürgerliche Gerichtszeremoniell offensichtlich so ernst nehmen, daß sie es durch Formen läppischer Negierung erst recht bestätigen, gegen Studenten, die ihre ohnehin schon unsicheren Professoren grob „verunsichern“, er hat da auf mühelose Art recht.

Tatsächlich ist jede Aktion, die den mühsamen Umweg über die Politik, über die politische Aktion scheut, von vornherein zum Scheitern, eben zur anarchistischen Selbstbefriedigung verurteilt. Wovor Harich allerdings zu warnen ist, das ist die Gefahr einer Verengung des Begriffs vom Politischen auf bloße Basisarbeit hin. So sicher Überbauphänomene sich erst verändern werden nach grundlegenden Basisveränderungen, so sicher wird es diese nicht geben, wenn im Überbau nicht schon heute alle Aktivitäten auf dieses Ziel ausgerichtet sind. Insofern hat Harich unrecht, beispielsweise Adorno eine Beschäftigung mit peripheren Fragen vorzuwerfen, etwa mit solchen der Ästhetik.

Ich möchte Harich da an Lukács erinnern, der in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ betont hat, daß den Marxismus vor allen anderen Wissenschaften nicht die Vorherrschaft ökonomischer Motive, sondern der Gesichtspunkt der Totalität unterscheide, unter dem er die einzelnen Erscheinungen betrachte, und ich möchte ihn vor allem erinnern an den marxistischen Komponisten Hanns Eisler, der in den Gesprächen mit Hans Bunge gesagt hat: „Als die Russen bei Stalingrad die Faschisten geschlagen haben, haben wir uns noch für die Beistriche bei Shakespeare in der Quartoausgabe interessiert. Das sind keine Gegensätze, sondern Entsprechungen. Und die Schlachten wurden geschlagen, damit die Beistriche festgestellt werden können.“

Sicher, Eisler hätte immer auf der strategisch richtigen Reihenfolge revolutionärer Aktionen insistiert, er hätte aber auch respektiert, daß die Arbeitsteilung nicht mehr einfach zurückgenommen werden kann, daß also die Revolution doch primär von jedem Einzelnen, Vereinzelten auf seinem Spezialgebiet wenn schon nicht gemacht, so doch vorbereitet werden muß. Die Organisationsfrage stellen heißt noch nicht, das Problem des Anarchismus schon gelöst zu haben. So wenig es heißt, vor jener Erstarrung gefeit zu sein, gegen die der Anarchismus so leidenschaftlich und mit so viel Recht aufbegehrt.

Aber wer weiß das besser als Wolfgang Harich. Auch wenn er also nicht absolut alles, was zum Thema Anarchismus zu sagen wäre, sagt, so sagt er doch immer noch unendlich viel mehr als man von einem DDR-Marxisten üblicherweise zu diesem Thema erwartet hätte.

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