radiX, Texte
 
1997

Rinks und lechts — wie national sind die Zapatistas?

Eigentlich sollten Erwerbslosigkeit, Armut und Verelendung ausreichende Gründe sein, zu revoltieren. Doch der objektive Widerspruch zwischen vorhandenem Reichtum und realer Ausgrenzung muß mit dem Bewußtsein eines strukturellen Gewaltverhältnisses, einem Minimum an politischem know how und der sinnlichen Erfahrung einhergehen, daß kollektiver Protest und Widerstand möglich sind. In der BRD fehlen diese „subjektiven“ Faktoren weitgehend, deshalb bleiben Proteste begrenzt, ihre Forderungen oft national und standortbezogen beschränkt. Vorerst müssen wir eher mit Pogromen statt mit Revolten rechnen.

Der Aufstand der Zapatistas in Mexiko 1994, die Massenstreiks in Frankreich im Winter 1995/96 und in Südkorea im Frühjahr 1997 waren in den letzten Jahren die einzigen breiteren Bewegungen mit emanzipatorischem Potential. Wer der EZLN ihre beschränkte Programmatik, nämlich Landverteilung und (bürgerliche) Demokratie vorhält, sei daran erinnert, daß manche Revolution als bescheidene Bittprozession startete und die Bolschewiki mit der Parole „Brot, Frieden und Land“ siegten.

Dennoch: Die weitgehend kritikfreie Idealisierung der Zapatistas knüpft an unselige Traditionen der Solidaritätsbewegung an. Politisch sind die Zapatistas und ihre europäischen Fans mit ihren Forderungen nach Umverteilung und Reformen eine Neuauflage der Sozialdemokratie.

Im Sommer 1996 wurde in Chiapas auf dem „Ersten Interkontinentalen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus“ eine „weltweite Befragung“ beschlossen. Der Titel des Treffens beinhaltet bereits die Absage an eine Weltsicht, die zumindest noch einschließt, daß es Oben und Unten, Ausbeuter und Ausgebeutete, Täter und Opfer gibt. Ganz zu schweigen von etwas so Filigranem wie Klassenanalyse.

Der Fragebogen, den unter anderem der Infoladen im Frankfurter Café Exzeß verbreitete, ist tatsächlich so formuliert, daß der letzte Heuler mitmachen kann. Sind Sie gegen Krieg, Repression, Hunger, Armut, Raub, Korruption, Verbrechen, Lüge, Sklaverei, Ignoranz? Gemäß der Doktrin von Null-Toleranz dürfte die ganze Menschheit mit Ja votieren. Ebenso schlicht ist die Rubrik für positives Denken ausgefallen. Sind Sie für eine neue Politik, die Demokratie, die Wahrheit, die Intelligenz, die Kultur, die Toleranz, das Gedächtnis und last but not least die Menschheit?

Nicht jede Bittprozession entwickelt sich zur revolutionären Bewegung. Nimmt man eine neue „geostrategische Analyse“ von Subcomandante Marcos als Maßstab, ist eher eine Regression der EZLN und ihrer intergalaktischen Anhängerschar zu befürchten.

Im August veröffentlichte Le Monde diplomatique diesen Text unter dem Titel „Der Vierte Weltkrieg hat schon begonnen“. [1] Nach Marcos´ Zählung ist der sogenannte Kalte Krieg der dritte Weltkrieg, während sich im vierten Weltkrieg die großen Finanzzentren auf globaler Ebene gegenüberstehen. Die Nationalstaaten seien dabei zu Marionetten degradiert und die moderne Telekommunikation erlaube den „total, totalen“ Krieg. An dieser Zählung nervt allein schon die Ignoranz gegenüber den Opfern des tatsächlichen und „totalen“ Weltkrieges, den die Nazis entfachten. Den Gipfel erreicht Marcos mit der Formulierung: „Dieser Vierte Weltkrieg ist ein wahrhaft planetarer Krieg, der schlimmste und grausamste Krieg“. Schlimmer und grausamer als Auschwitz und die Verbrechen der Nazi-Wehrmacht gibt es bisher nicht.

Die Mystifizierung des Kapitalismus

Marcos behauptet, „zu den ersten Opfern dieses neuen Krieges gehört der nationale Markt“. Moralisch gesehen sind diejenigen, die jeden Tag an Hunger und Krankheiten sterben, die Opfer und der nationale Markt scheißegal. Außerdem ist die Behauptung, die nationalen Märkte seien verschwunden, ökonomisch falsch. Solange Nationalstaaten existieren, das heißt solange abgegrenzte politische Gebilde bestehen mit militärischem Gewaltapparat, eigener Währung und der Souveränität, Zölle und Steuern zu erheben, gibt es auch nationale Märkte. Was sich ändert, ist der Grad der Verflechtung und der Durchlässigkeit der Grenzen. Historisch sind seit Beginn der europäischen Kolonialexpansion vor 500 Jahren nach und nach fast alle regionalen bzw. staatlich begrenzten Märkte in Asien, Afrika und Lateinamerika zerstört worden. Und die Märkte der in die formale staatliche Unabhängigkeit entlassenen Trikontstaaten waren gegenüber dem Kapital aus den kapitalistischen Zentren immer offener als umgekehrt. Die aktuellen permanenten Auseinandersetzungen zwischen den USA, Japan und der EU bzw. innerhalb der EU belegen, daß nationale Märkte entgegen Marcos´ Hypothese existieren und um die Zugänge gekämpft wird.

Marcos phantasiert. Er spricht von einem „neuen internationalen“ oder „globalisierten“ Kapitalismus, der angeblich „die nationalen Kapitalismen völlig (!) ausgeschaltet und die politische Macht restlos (!) zersetzt (hat)“. Die EU definiert er nicht als politische Koordination der exportorientierten, produktivsten Fraktionen des europäischen Kapitals, sondern als „Megapolis“ auf den Ruinen der Nationalstaaten und der „europäischen Zivilisation“. Der Begriff „Megapolis“ verweist bereits darauf, daß der Lyriker die Mystifizierung der politischen Ökonomie vorzieht. „Der Sohn (Neoliberalismus) frißt den Vater (nationaler Kapitalismus)“, schreibt Marcos an anderer Stelle.

Das Kapital bleibt nationalstaatlich organisiert

Der Kampf um die Weltmärkte hat sich verschärft, dazu gehören Fusionen, strategische Allianzen, die Gründung neuer Produktionsstätten rund um den Globus, nicht nur zwecks Abschöpfung billiger Arbeitskraft, sondern auch um die Schranken anderer national strukturierter Märkte zu unterlaufen. Bei alledem stützt sich ein Konzern immer auf „seinen“ jeweiligen Nationalstaat und dieser stützt „seine“ Konzerne mit seinem gesamten diplomatischen, politischen, ökonomischen und militärischen Potential.

Bei einer Gipfelkonferenz der Autoindustrie der BRD vor einigen Jahren hatte die Regierung Vertreter von Daimler-Benz, VW und BMW eingeladen. Nicht eingeladen waren die Vorstände von Opel und Ford. Die Ford AG wurde 1925 in Berlin gegründet und ist mit fünf Produktionsstandorten der drittgrößte Autobauer der BRD. Aber die Ford AG ist eine fast 100prozentige Tochter der Ford Motor Co., USA, und Opel gehört seit 1931 zu 100 Prozent General Motors. Das Beispiel zeigt, wie flexibel und global das Kapital bereits vor dem Zweiten Weltkrieg agierte, und daß Dependencen ausländischen Kapitals auch nach Jahrzehnten nicht „dazugehören“, weil das Kapital nationalstaatlich gebunden ist und bleibt.

Auch Joachim Hirsch, der mit der EZLN sympathisiert, prognostiziert einen „historisch neuen Typus kapitalistischer Herrschaft“. Globalisierung definiert er als internationale Flexibilisierung des Kapitalverkehrs sowie in wesentlich geringerem Ausmaß von Waren und Dienstleistungen. Technologische Basis sind die modernen Verkehrs-, Transport- und insbesondere Kommunikationssysteme. Diese Globalisierung führt nach Ansicht von Hirsch zwar zum Abbau der bürgerlich-demokratischen Strukturen, die durch eine neue „zivilgesellschaftliche Form des Totalitarismus“ ersetzt werden.(3) Der Nationalstaat aber verschwindet keineswegs, sondern entwickelt sich zum hochgerüsteten, repressiven „nationalen Wettbewerbsstaat“. Außerdem formieren sich neue Großräume wie die EU oder die NAFTA: Sie zwingen die Konzerne, in mehreren Wirtschaftsräumen präsent zu sein. [2]

Rainer Trampert und Thomas Ebermann schreiben: „Je globaler das Kapital operiert, desto wichtiger wird ein starker Staat als Basis. Ein wesentlicher Faktor für den globalen Erfolg ist die enge Verknüpfung der Wirtschaft mit der militärpolitischen und diplomatischen Potenz des Heimatstaates“. [3]

Marcos als mystisch-nationaler Ideologe

Marcos entwickelt keine ökonomische Analyse. In seinem Text finden sich bestenfalls Bruchstücke, etwa wenn er über die Macht des Finanzkapitals räsoniert oder über die Ausbeutung von Rohstoffen. Sein zentrales Anliegen ist ein anderes: Nämlich daß insbesondere der „American Way of Life“ die „historischen und kulturellen Grundlagen der Nationalstaaten zerstört“. Was soll das? Jeans sind prima und Frank Zappa besser als Volksmusikgedudel. Einseitig und analytisch verkürzt, aber mit mehr Berechtigung hätte Marcos darauf hinweisen können, daß die mit diesem kapitalistischen „Way of Life“ verbundenen Konsumgüter ökologische Zerstörungen hervorrufen.

Marx hatte im „Kommunistischen Manifest“ prognostiziert, daß die Bourgeoisie weltweit eine „offene, unverhüllte, direkte, dürre Ausbeutung“ etablieren werde. Als positiver Nebeneffekt würden dabei immerhin alle „religiösen und politischen Illuisonen“ aufgelöst. Leider ist das Gegenteil eingetreten: Der weltweite Sieg des Kapitalismus und das Scheitern praktisch aller emanzipatorischen Bewegungen haben eine neue Welle des Irrationalismus hervorgerufen: Nationalistische, faschistische und esoterische Bewegungen in Europa und Nordamerika sowie religiös-fundamentalistische Bewegungen in Asien und Afrika.

Mystisch und nationalistisch ist auch die Analyse von Marcos. Der real existierende Kapitalismus verwandelt sich in einen ominösen „Neoliberalismus“, den Marcos als „politisch-ökonomisches Zentrum“ bezeichnet, als eine Art weltumspannenden Leviathan, der eine „Megapolitik“ betreibt.

Selbst die aktuellen Prozesse der Verelendung, Verarmung und Ausgrenzung stellt Marcos als Ausgeburt des Neoliberalismus dar. Stocknüchtern bilanziert dagegen Joachim Hirsch: „Der Kapitalismus kehrt gewissermaßen zu seinem Normalzustand zurück und was als Neoliberalismus bezeichnet wird, kennzeichnet keinen Ausnahmezustand, sondern eher sein eigentliches Gesicht. Wir müssen erkennen, daß soziale Verhältnisse, die einer frühkapitalistischen Vergangenheit anzugehören scheinen, durchaus wiederauferstehen können.“ [4]

Der Subcomandante wirft diesem halluzinierten Monster Neoliberalismus vor allem vor, die Nationen aufzulösen: „Es ist eines der Paradoxe dieses Vierten Weltkrieges, daß er geführt wird, um Grenzen aufzuheben und Nationen zu „vereinen“. In Wirklichkeit aber die Grenzen multipliziert, ja die Nationen, die er zerstört, geradezu pulverisiert“.

Er behauptet und beklagt, daß die Grenzen zwischen den Nationen verschwinden und neue innerhalb der Nationen entstehen. Tatsächlich werden die Grenzen mindestens für die Masse der Menschen nicht einmal durchlässiger und die „Grenzen“ innerhalb der Nationen existieren schon länger als die Nationalstaaten. Es sind die realen Klassengegensätze, von denen Marcos nicht schreibt. Stattdessen entwickelt er die Nation als Einheit ohne Klassengegensätze, die der Moloch Neoliberalismus zerbröselt.

Als politisches Ziel formuliert Marcos: „Tatsächlich verfechten die Zapatisten die Verteidigung des Nationalstaates angesichts der Globalisierung. Und die Versuche, Mexiko zu zerstückeln, gehen von Regierungskreisen aus“.

Der Subcomandante hat hier eine Weltsicht formuliert, die jener der faschistischen Front National (FN) unter Jean-Marie Le Pen gefährlich nahe kommt. Auch im FN-Diskurs wird die Globalisierung als Prozeß beschrieben, der die Nationalstaaten ihrer Macht beraubt. In einer Rede am 1.Mai 1996 bezeichnete Le Pen die Globalisierung als „wahrhaftes Komplott“ gegen die Nationalstaaten. Gegen diesen „mondialisme“ predigt die FN die Verteidigung und Stärkung des Nationalstaates, insbesondere das Bündnis zwischen nationalem Kapital und nationaler Arbeit. [5]

Im Schwerpunktheft zum Thema Neoliberalismus der Zeitschrift Arranca der linksreformistischen Gruppe FeLS wird derselbe Widerspruch zwischen modernem Kapitalismus und Nationalstaat behauptet. Deshalb, so heißt es in dem Heft weiter, „ist nationalistische Politik heute in zumindest einem Punkt objektiv „antikapitalistisch“: Die Transnationalisierung des Kapitals ist unvereinbar mit der nationalistischen Abkopplung vom Weltmarkt, wie sie von vielen Rechten eingefordert wird“. [6] Wer diese vielen Rechten sind, erfahren wir leider nicht. Parteien wie die FN oder die FPÖ oder in der BRD die Republikaner, DVU oder NPD treten keineswegs für Autarkie oder Abschottung ein, sondern verbinden nationalistische Propaganda mit neoliberalen Positionen.

Die soziale Revolution ist antinational und international oder gar nicht

In Mexiko kann sich die EZLN mit ihrer Forderung nach Land wenigstens auf eine bedeutende konkrete Maßnahme der Regierung beziehen. Im Jahr 1992 wurde der Artikel 27 der Verfassung gestrichen. Diese Bestimmung aus dem Jahr 1917 besagte, daß das Eigentum an Land und Wasser dem Staat zusteht. In den folgenden Jahren, insbesondere während der Präsidentschaft von Lazaro Cardenas (1934-40), wurde tatsächlich Land an Gruppen landloser Bauern übertragen, die es kollektiv oder inidviduell nutzen konnten. Fast die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens wurde damals an landlose Bauern vergeben. Dieser Prozeß wurde bald wieder umgekehrt: Neue Latifundien entstanden, für 1960 wird die Zahl der landlosen Tagelöhner bereits wieder auf etwa drei Millionen geschätzt. Die Gesetzesänderung von 1992 erlaubt unter anderem die private Veräußerung dieses sogenannten ejido-Land und damit eine verschärfte kapitalistische Durchdringung der Landwirtschaft. In Mexiko kann deshalb die reformistische Forderung nach Landverteilung eine revolutionäre Entwicklung auslösen, in den kapitalistischen Zentren wäre das ein Anachronismus.

Die Orientierung, wie sie von Marcos in dem Text formuliert wird, ist für emanzipatorische Bewegungen im Trikont und in den Zentren verkehrt. Eine nationale Befreiung mit nachholender Industrialisierung ist in den Trikontstaaten angesichts der ökonomischen Zwänge und Stärke der kapitalistischen Zentren unmöglich. Sollte die EZLN in Mexiko tatsächlich eine revolutionäre Entwicklung auslösen und in klassischer Weise die politische Macht erobern, oder anderen Organisationen dazu verhelfen, stünde das Land vor dem Dilemma, so eingekreist zu sein, wie einst die russische Revolution. In den kapitalistischen Zentren muß die Linke die falsche Analyse und die sich ergänzende nationale und reformistische Orientierung von Marcos bekämpfen. Andernfalls werden die Tendenzen noch stärker, die Verteidigung des Preises der Ware Arbeitskraft mit rassistischen Methoden zu betreiben: Grenzen dicht für Einwanderer, wie IG-Metall-Chef Zwickel forderte oder Jagd auf ArbeiterInnen ohne deutschen Paß, wie bereits auf Bauarbeiterdemos praktiziert.

Erschienen in Ökolinx Nr. 27, 1997.

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[1sämtliche Zitate von Marcos stammen aus dem in Le Monde Diplomatique abgedruckten Text „Der Vierte Weltkrieg hat schon begonnen“, August 1997

[2vgl. Joachim Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin-Amsterdam, 1995, S.9, S.13

[3zit. Thomas Ebermann, Rainer Trampert, Die Offenbarung der Propheten, Hamburg, 1995, S.79

[4zit. Hirsch, Globalisierter Kapitalismus, Klassen und Kämpfe, in: REDaktion, Hrsg., Chiapas und die Internationale der Hoffnung, Köln, 1997, S.125f.

[5vgl. junge Welt, 19.3.97

[6zit. Arranca, Nr.10, Schwerpunkt Neoliberalismus, 1996, S.9

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