FORVM, No. 444
Dezember
1990

Russisch Roulette

Eine Reise nach Bukarest

Ob ich ein Visum bräuchte, wollte ich wissen, ob bei der Einreise mit dem eigenen Auto besondere, erst neu in Kraft getretene Formalitäten zu beachten seien, und ob es günstiger sei, über Bulgarien oder Jugoslawien einzureisen — ob über Ungarn, fragte ich lieber nicht.

Ach ja! Und ob sonst noch, bei der Versorgung mit Diesel zum Beispiel, beim Geldwechseln oder was weiß ich, wo noch — mit irgenwelchen Problemen zu rechnen sei, habe ich dann auch noch wissen wollen, aber — um ja nicht taktlos zu erscheinen, fügt ich noch hinzu, daß ich natürlich vollstes Verständnis hätte, wenn angesichts der politischen Situation ...

Der Herr Botschaftssekretär am anderen Ende der Leitung läßt mich erst gar nicht ausreden: «Ein Visum brauchen Sie derzeit leider noch immer», bedauert er, «aber das bekommen Sie formlos an jeder Grenze!» Ich bin angenehm überrascht: «Und sonst brauche ich nichts?»

Eine kurze Pause.

«Nun ja, die grüne Versicherungskarte», heißt es dann, aber die sei ja auch in allen anderen Ländern erforderlich.

«Und sonst wirklich nichts?» Ich kann es kaum glauben ...

«Nein, das ist alles!», erklärt der Herr Botschaftssekretär kurz, und fast hatte es den Anschein, als wäre er ein wenig ungehalten, der Herr Botschaftssekretär, weil ich offensichtlich den Systemwechsel noch nicht so recht zur Kenntnis genommen hatte.

Trotzdem: «Das ist alles?» wage ich noch einmal zu fragen.

«Ja, alles!», wiederholte der Herr Botschaftssekretär nun bereits spürbar beleidigt, aber weil ich über das «neue» Rumänien so absolut gar nichts zu wissen schien, klärte mich der Herr Botschaftssekretär zum Abschluß doch noch auf: «Wissen Sie, in Rumänien ist jetzt alles anders», sagte er, «Ceaușescu ist tot!»

Vier Wochen später: nach stundenlanger Fahrt, aus der lärmenden türkischen Grenzstadt Edirne kommend, gelange ich über Gabrovo, die bulgarische «Hauptstadt des Humors», die als einzige Stadt der Welt ein eigenes, in der Schiwkow-Ära errichtetes «Humormuseum» besitzt, Stara Zagora, das ausnahmsweise keine «Hauptstadt» ist, und Veliko Tarnovo, die «heimliche Hauptstadt Bulgariens» nach Russe, einer verdreckten, wenig einladenden Industriestadt an der bulgarisch-rumänischen Grenze.

Endlich!

Bald habe ich mein Ziel erreicht!

Denn nur wenige Kilometer hinter Russe — so hatte es mir gerade zuvor der Reiseleiter einer rumänischen Touristengruppe im «Humor-Museum» von Gabrovo des langen und breiten erklärt — führt die «Brücke der Freundschaft» nach Giurgiu, auf die rumänische Seite der Donau, und von dort sind’s keine 70 Kilometer mehr bis Bukarest ...

«In zwei Stunden bin ich dort, und wenn ich Glück habe, sogar in einer», freue ich mich, als ich die Donau entlang, an rußenden Fabriksschloten vorbei, in Richtung Rumänien fahre. Schon tauchen erste Wegweiser auf, zweisprachig, in lateinischer und kyrillischer Schrift, «București» und «Auf Wiedersehen in Bulgaria» lese ich irgendwo, ein Warnschild mit durchgekreuztem Fotoapparat weist auf nahe Militäreinrichtungen hin, und pompöse Stahl- und Betonskulpturen künden von Frieden und Völkerfreundschaft — kein Zweifel, ich bin an der Grenze!

Es ist fünf, vielleicht sechs Uhr nachmittags, an einem sonnigen Sonntag Ende September: ein frecher Herbstwind, übermütig, als hätte er gerade ein Fläschchen «Grozdova» — doppeltgebrannten Traubenschnaps — geleert, reißt den entsetzten Mandel- und Quittenbäumen ihre bunten Kleider vom Leib. Splitternackt, bis aufs letzte Blatt entblößt, stehen sie jetzt am Straßenrand und warten verschämt bis es dunkel wird.

Bewegungslos hockt eine Schar schwarzer Saatkrähen daneben, bitter beleidigt, weil Bauern die Felder ernten, und auf den Mandel- und Quittenbäumen nichts mehr zum Fressen hängt ...

Ein «Moskwitsch» zerstört die Idylle. Ein Irrer! Wie von der Tarantel gestochen, setzt er plötzlich zu einem wahnwitzigen Überholmanöver an. «Jetzt kracht’s!», schießt es mir durch den Kopf, aber ein Wunder — das wievielte schon? — passiert, und alle kommen mit dem Schrecken davon.

Immer zähflüssiger wird jetzt der Verkehr in Richtung Grenze. Eine endlose Wagenkolonne beginnt sich zu stauen. Noch geht’s ein paar hundert Meter im Schrittempo dahin, aber dann — stop!

Ich warte ...

Fünf, zehn Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde — aber keines der Autos vor mir bewegt sich auch nur um einen einzigen Zentimeter weiter.

Was ist los? Ein freundlicher, älterer Herr weiß Bescheid: «Die Grenze ist schon seit gestern gesperrt!», verrät er mir. «Kehren Sie um! Fahren Sie nach Silistra! Dort gibt es eine Autofähre!» Und weil der Fährpreis für Rumänen und Polen viel zu hoch sei, würde es dort auch keine langen Wartezeiten geben.

Er selbst, vertraute er mir noch an, wäre schon längst nach Silistra gefahren, aber leider habe er nur mehr zehn Liter Benzin im Tank, und die würden dann nicht mehr bis Bukarest reichen.

Wieviel Benzin denn ich im Tank hätte, fragte er schließlich, und seine Enttäuschung war groß, als er erfahren mußte, daß ich mit Diesel fuhr ...

Ob ich Geld wechseln wolle, fragt ein anderer. Fünfzig Lei würde er mir für einen Dollar geben! Mehr als doppelt so viel, wie jede Bank! Aber da mengt sich schon ein zweiter dazwischen: «Was? Nur fünfzig Lei für einen Dollar? Ich geb’ dir hundert!» Die beiden beginnen laut zu streiten. Ein Dritter nützt die Gelegenheit, zieht mich zur Seite und warnt: «Achtung! Diese zwei sind schlechte Menschen! Zigeuner!» Er bietet mir 120 Lei. Außerdem habe er alte Ikonen zu verkaufen — nur 100 Dollar das Stück! Aber da müßte ich zu ihm nach Bukarest kommen und eine kleine Anzahlung leisten. Zwei, drei Dollar oder so ...

Nicht ein Auto hat sich inzwischen in Richtung Grenze bewegt. Die «Brücke der Freundschaft» scheint tatsächlich gesperrt, aber warum?

Ich pilgere die ein oder zwei Kilometer zum bulgarischen Grenzbalken vor. Ein schlaftrunkener Zöllner zuckt bedauernd die Achseln: «Problem Romania!», sagt er. Sein Kollege, er spricht ein wenig Englisch, versucht zu verdeutlichen: «Problem not Bulgaria. Bulgaria good. Romania is problem. Romania not work!» Und als wollte er mich trösten, bietet er mir eine Zigarette an: «You, I — friend!», lächelt er.

Wann denn die Grenze wieder geöffnet werde, frage ich, aber mein neuer Freund versteht mich nicht: «Bulgaria not problem! Romania not work!», wiederholt er und spuckt in Richtung Rumänien ...

Langsam wird es dunkel. Hunderte Fahrzeuge, aus Rumänien und Polen in der Mehrzahl, vollgepfercht mit dem Krimskrams von unterwegs, Kindern oder abgefahrenen Reservereifen sitzen zwischen Russe und der «Brücke der Freundschaft» fest, und jede Minute werden es mehr.

Regungslos, ohnmächtig vor Zorn verharrt der hilflose Blechwurm, von schwerbewaffneten Polizisten bewacht ...

Die meisten der Lada- und Dacia-Fahrer haben es sich so bequem wie möglich gemacht: eingerollt in Handtücher oder was sonst noch wärmt, dösen sie erschöpft vor sich hin, trinken lustlos lauwarmes Dosenbier, oder stieren gelangweilt in eine Zeitung, eine Zigarette nach der anderen rauchend.

Andere wieder basteln am Motor, am Vergaser oder an den Reifen herum, versuchen eine klemmende Tür oder einen nicht mehr verschließbaren Kofferraumdeckel zu reparieren — und ein junger Pole, auf der Heimfahrt von den Flitterwochen, steht verdattert vor seinem VW ohne Windschutzscheiben, einem Andenken aus Istanbul ...

Ein paar Schritte weiter: eine alte Frau, die aussieht, als hätte sie ihre Kinder einst während der Feldarbeit geboren, verrichtet hinter einem Sattelschlepper laut stöhnend ihre Notdurft.

Zwei Lausbuben sehen lachend zu, aber sonst ist gute Laune rar: ein paar Polinnen, im Umgang mit der frisch gewonnen Reisefreiheit schon sichtlich routinierter — stellen kichernd ihr grellgelbes Familienzelt auf, und ein Fernfahrer aus Anatolien starrt wie hypnotisiert auf das rote, mit Lippenstift gezeichnete Herz, das auf der Zelttür prangt. Ein Trupp rumänischer Zigeuner — als einzige der hier Gestrandeten in einem Mercedes unterwegs — läßt bei dröhnender Kofferradiomusik eine Flasche «Plisca» kreisen, und da oder dort wird Feuer gemacht, um Erdäpfel oder Fleischspieße zu braten ...

Vor der Tankstelle, an der es seit einer Woche schon nichts mehr zu tanken gibt, dreht ein Berliner Trabi-Pilot durch: «Ihr verdammten Arschlöcher! Wißt ihr, wat ihr broocht? Den Adolf, ja den Adolf broocht ihr wieder!», brüllt er wie von Sinnen. Seine Frau, krebsrot im Gesicht, pflichtet ihm bei: «Wat heeßt den Adolf? Der is viel zu gut für desch Pack! Soll’n bleebe beim Stalin oder beim Tschesesku, wenn’se net reif sin’ für de Demokratie!» Zum Glück versteht keiner der Umstehenden die beiden Deutschen, vielleicht wollen sie auch nicht, oder — sie pflichten ihnen insgeheim sogar bei.

Alles ist möglich, in Osteuropa ...

Auch im «Restoran», wie auf einem großen, bahnhofsähnlichen Gebäude in der Nähe der Tankstelle in Leuchtschrift steht, ist die Küche bereits seit gestern geschlossen. Aber: Cola gibt es noch und Tee, und wer Glück hat, kann auch noch ein Stück kalte Wurst — in Ausnahmefällen sogar mit einer Scheibe Weißbrot — ergattern. Wer Glück hat und wer nicht, bestimmen drei mit allen Salben geschmierte Kellner: wer die Frage, von wo er kommt, mit «Romania» beantwortet, bekommt mit Sicherheit — nichts. Jugoslawen, Polen und andere Osteuropäer müssen im vorhinein in Dollar oder D-Mark bezahlen, und nur Westeuropäer — und Amerikaner, wie ich vermute — erhalten auch eine Papierserviette.

Schwindeln ist zwecklos: denn im Zweifelsfall ist die Nationalität durch Vorzeigen des Reisepasses nachzuweisen.

Leise wage ich gegen die Ausweisleistung zu protestieren, natürlich erfolglos.

Der «Herr Ober» musterte mein Gesicht, verglich es gründlich mit der Photographie in meinem Paß und lächelte verschmitzt, als er ihn mir wieder gab: «Marktwirtschaft ist Marktwirtschaft!», sagte er ...

Nie habe ich in Erfahrung gebracht, wann die «Brücke der Freundschaft» wieder geöffnet wurde, oder weshalb sie je gesperrt war.

Es war so, und damit basta!

Jetzt war ich in Silistra, gut 120 Kilometer von Russe entfernt, in der östlichsten Donaustadt Bulgariens. Und hier gibt’s eine Autofähre, die täglich mehrmals nach Calarasi, ans rumänische Donauufer fährt. So steht’s in jedem Reiseführer, und so hatte es mir tags davor auch jener freundliche ältere Herr aus Bukarest erklärt, der selbst gerne nach Silistra geflüchtet wäre, hätte er nur genügend Benzin für den Umweg gehabt ...

Alles, fast alles, war so, wie beschrieben. Zwar nicht in Silistra, aber immerhin im nur fünfzehn Kilometer entfernten Ostrov existierte tatsächlich ein Hafen, der Anlegestelle eines Fährschiffes war.

Und wie erfreulich! Auch die Zahl der Wartenden hielt sich in bescheidenen Grenzen: ein Dutzend türkische Fernfahrer, zwei Reisebusse aus Bratislava, ein paar Polen und — unübersehbar — ein ungarischer Intellektueller aus Temesvar (er las, an seinen «Dacia de luxe» gelehnt, mit größter Aufmerksamkeit die Kulturbeiträge in der «Herald Tribune») — das waren alle. Ich war der dreißigste, vielleicht der fünfunddreißigste in der Warteschlange.

Auffällig war nur, daß weder ein Bulgare, noch ein Rumäne in der Warteschlange stand, und daß — obwohl es bereits gegen Mittag zuging — auch der Kassenschalter noch geschlossen war.

«Was wollen Sie, das ist ein rumänisches Staatsunternehmen, mit rumänischem Management, rumänischem Kapitän, alles Rumänen — von Putzfrau bis Direktor!», dozierte der ungarische Intellektuelle aus Temesvar, den ich, nach einstündigem Warten ein wenig ungeduldig geworden, bei der Lektüre seiner Zeitung gestört und gefragt hatte, ob er zufällig den genauen Fahrplan der Fähre wüßte ...

Aber dann beruhigte er mich: wahrscheinlich müsse das Fährschiff in Călărași auf eine bevorzugt abzufertigende Fuhre warten, oder — auch das könne es in Rumänien geben — auf irgendeinen Partei- oder Regierungsbonzen, der verschlafen hat. «Wissen Sie, die Rumänen sind wie Zigeuner! Die kennen keine Uhr», fügte er noch hinzu, ehe er sich wieder in die Kulturspalten vertiefte.

Inzwischen ist auch die Warteschlange angewachsen. Die Menge ist freudig erregt, als am Horizont ein Schiff auftaucht — aber es ist ein Frachtkahn, der donauaufwärts fährt. Vom Fährschiff ist weit und breit nichts zu sehen, es kommt und kommt nicht ...

Endlich! Ein bulgarischer Beamter, ein Uniformträger, kommt auf einem Fahrrad daher. «Das muß der Kassenbeamte sein!», bin nicht nur ich überzeugt. Auch der ungarische Intellektuelle aus Temesvar hat jetzt die «Herald Tribune» zusammengefaltet: «Wenn der Ticketverkäufer da ist, ist auch die Fähre nicht mehr weit», lacht er, und alles bewegt sich in Richtung Kassenschalter.

Umso größer ist die Enttäuschung, als sich herausstellt, daß der Mann auf dem Fahrrad weder ein Kassenbeamter noch ein Zöllner, sondern ein einfacher Briefträger ist.

Trotzdem war sein Erscheinen eine glückliche Fügung: denn jetzt erst erfuhren wir, daß der Fährbetrieb zwischen Ostrov und Călărași schon seit Wochen eingestellt war. Wegen zu geringen Wasserstands, wie es offiziell hieß ...

Was tun? Nach Jugoslawien fahren und es über Kaluderovo, Vršac oder Jimbolia versuchen? Oder sollte ich einfach weiter in Richtung Schwarzes Meer ...?

Kopf oder Adler?

Adler! Was bedeutete, daß ich zunächst einmal nach Tolbuchin fuhr, um von dort aus nach Jovkovo und dann weiter nach Negru Vodă und Konstanza zu gelangen. Sollte auch dieser Grenzübergang aus irgendwelchen Gründen gesperrt sein, blieb mir — als allerletzter Ausweg — immerhin noch die Küstenstraße.

Ein Riesenumweg! Zugegeben — denn ursprünglich wollte ich ja nach Bukarest ...

Aber: der Mensch denkt, und Gott lenkt, heißt es doch — und warum sollte ich nicht auch einmal nach Konstanza fahren, nach Venus oder Mars, oder wie die rumänischen Badeorte am Schwarzen Meer alle heißen.

Dennoch — daß der liebe Gott neuerdings auch als rumänischer Fährboot-Captain, Zoll- oder Securitate-Oberst auftritt, das kam überraschend ...

Grenzübergang Jovkovo, 36 Kilometer nordöstlich von Tolbuchin — mein dritter Versuch, über die bulgarisch-rumänische Grenze zu gelangen ...

Es ist drei Uhr nachmittags, und die Grenze ist — gesperrt. Seit zwei Stunden, heißt es, sei der Schranken kein einziges Mal mehr hochgegangen. Ein polnischer Autobus habe noch passieren dürfen, aber dann hätten die bulgarischen Zöllner ganz einfach Feierabend gemacht. Ja, Feierabend!

«Feierabend?» frage ich — vielleicht habe ich mich verhört. Aber ich habe mich nicht verhört: «Ja, Feierabend machen sie! Weil es ihnen gerade so paßt!», lautet die Antwort.

Aber so ganz glaube ich diese Geschichte noch nicht: «Warum? Warum denn?», frage ich ...

«Warum schon? Weil alle bulgarischen Zöllner Kommunistenschweine sind!», ist ein junger «Sachse», ein Ingenieur aus Brașov (= Kronstadt) überzeugt. Zornig blickt er auf seine Uhr: sieben Stunden, sieben Stunden, tobt er, ließen ihn diese verdammten Schweine jetzt schon warten!

Seine Frau versucht inzwischen das schreiende Baby zu beruhigen: «Haale, haale Katzedreck, morje fruh ist alles weg», singt sie und — «Schlaaf, Kindche, schlaaf, im Garte stehn zwa Schaaf ...»

Aber mit Wiegenreimen läßt sich der Säugling nicht um seine Mahlzeit prellen. Er brüllt wie am Spieß, ohnehin schon ganz rot und blau ım Gesicht ...

Ein Student aus Craiova, ebenfalls schon seit Stunden hier festgenagelt, pflichtet dem Ingenieur aus Kronstadt bei: «Ja, so ist es! Das ist die Rache der Kommunistenschweine für Ceaușescu und Schiwkow! Jetzt lassen sie uns warten!»

Und mit eisiger Stimme fügt er hinzu: «Alle Kommunistenschweine gehören erschossen! Alle!»

Es klang, als hätte er einen Befehl erteilt.

Ob er ein Kommunist war, oder nicht — ich weiß es nicht. Aber er ließ mit sich reden, und aus der Ruhe zu bringen war er durch nichts: daß ich mich erdreistet hatte, die Sperrlinie zu überfahren, daß ich wie ein Geisterfahrer auf der Gegenfahrbahn ganz einfach zum geschlossenen Grenzschranken gebraust war, und daß ich ihn dann in eher rüdem Ton anfuhr, er solle sich gefälligst in Bewegung setzen und seinen beschissenen Schranken öffnen — den «Chef» der Grenzstation Jovkovo ließ das alles kalt.

«Romanzite sa winowni!», sagte er nur.

Dann nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner Wasserflasche und kaute bedächtig an einem zähen Stück «Lukanka», luftgetrocknetem Schaffleisch, von dem er — eingewickelt in Zeitungspapier — noch größere Mengen vorrätig hatte.

Der «Chef» der Grenzstation wirkt gutgelaunt: das Schaffleisch, die Wasserflasche, oder was immer in dieser geheimnisvollen Flasche verborgen ist, und das gemütliche, sonnige Plätzchen vor seinem Büro stimmen ihn heiter.

Dann und wann entfährt ihm ein zufriedenes Rülpserchen.

Der Kerl ist unverschämt!

Ich beherrsche mich so gut es geht: «Ich will hier nicht warten! Ich will nach Rumänien! Verstehst Du?» zische ich ihn an.

«Da! Romanzite sa winown!», sagt er wieder, schaut wie ein Unschuldslamm, und ißt seelenruhig weiter.

Nicht mit mir! Ich störe ihn wieder. Vielleicht kann der Kerl Türkisch: «Anlayormusunus? Romaniaya gitmek istiyorum!»

Nun — Türkisch, habe ich den Eindruck, hört er als Bulgare weniger gern, aber er bleibt freundlich: «Da! Romanzite sa winown!», läßt er sich wieder vernehmen, seufzt und — kaut an seiner «Lukanka» ...

Ich resigniere.

Der Grenzer versteht auch mein Schweigen falsch. Endlich — glaubt er — hätte ich begriffen, und er reicht mir, als wollte er mich belohnen, ein Stück getrocknetes Schaffleisch.

Verärgert will ich im ersten Augenblick ablehnen. Aber warum?

Eigentlich war er ja ein ganz lieber Mensch. Radoi, so hieß er mit Vornamen, und ich wurden Freunde. Irgendwie würde er mich schon über die Grenze lassen, dachte ich. Aber vorerst aßen wir einmal gemeinsam «Lukanka» und gelegentlich durfte ich auch einen Schluck aus der Wasserflasche machen, erraten — es war doppelt gebrannter «Slivova» ...

Radoi ist fünfzig, vielleicht fünfundfünzig Jahre alt, ein untersetzter, kräftiger Bauerntyp mit einem breiten, klobig wirkenden Schädel, buschigen Augenbrauen und einem kunstvoll gezwirbeltem Schnurrbart. Gewiß, die schmierige, da und dort auch schon abgewetzte Uniform hat ihm schon besser gepaßt, auch zum Rasieren hat er heute noch keine Zeit gehabt, und ob die Maschinenpistole, die wie ein Kindergewehr von seiner Schulter baumelt, vorschriftsmäßig gereinigt oder überhaupt funktionsfähig ist, will ich erst gar nicht untersuchen.

Aber was sind schon Äußerlichkeiten? Radoi hat gutmütige Augen, auch wenn ich mir vorstellen kann, wie sie blitzen, wenn ihn der Jähzorn überfällt, und — Radoi ist mein Freund ...

«Radoi, warum ist die Grenze gesperrt?» frage ich ihn, als er mit überschwenglichen Dankesbezeugungen eine meine Marlboros nimmt und sich zwei oder drei, als Reserve sozusagen, in die linke Brusttasche steckt. Und damit er mich ja versteht, mache ich ihm meine Frage auch noch durch Zeichen und Gesten verständlich.

Radoi versteht: «Grenze» klingt ja ähnlich wie «granica», heißt auch dasselbe, und den Rest kann er sich zusammenreimen. Jetzt kommt Radoi in Fahrt: «Granica e otworena. Da! Otworena!», sprudelt es aus ihm heraus, «Romanzite sa winowni! Romanzite! Potschivka! Spat!» Und damit ich endlich kapiere, was er mir schon die ganze Zeit sagen will, stellt er das Gesagte auch bildlich dar — er gibt sich schlafend, schnarcht oder gähnt und wiederholt in einem fort, während er in Richtung Rumänien zeigt: «Romanzite sa winowni», «potschivka», «spat» ...

Radoi ist ein perfekter Pantomime.

Jetzt begreife ich! Russe, die «Brücke der Freundschaft» und die dortigen Zöllner fallen mir wieder ein. Genau! Nicht die Bulgaren, die Rumänen sind schuld.

«Problem Romania?» frage ich. Radoi fällt ein Stein vom Herzen: «Da! Da!», schreit er, «Romanzite sa winowni! Potschivka! Spat!» Und — als würde er alle Mißverständnisse ein für alle mal aus der Welt schaffen wollen, fügt er noch hinzu: «Da! Romanzite nix rabotal»

Von nun an fällt die Verständigung leicht.

Natürlich dürfe ich die bulgarische Grenze passieren, gibt mir mein Freund Radoi zu verstehen, denn die bulgarische «granica» sei Ja offen — «otworena» — und wer weiß, vielleicht würde es mir wirklich gelingen, die rumänischen Kollegen zum Arbeiten zu bewegen. Allerdings — leicht werde es mir nicht fallen, denn «marseliwi» (faul), wie Rumänen nun einmal seien, würden sie sicher noch «potschivka» — Pause — machen und «spat» ...

«Spat»? Ach ja, «spat» heißt «schlafen», wenn ich Radoi richtig verstanden habe ...

Radoi übernimmt auch eine Art Rücknahmegarantie: Falls mich die Rumänen nicht einreisen ließen, was zu befürchten sei, so solle ich einfach umdrehen. Er, Radoi, sei noch eine Stunde im Dienst und er würde mich schon wieder zurücknehmen, lacht er.

Der Grenzbalken ging tatsächlich hoch. Radoi kontrollierte auch meinen Paß und stempelte das Ausreisedatum hinein: 29 09 90! Nein, den Kofferraum untersuchte er nicht, aber irgendwie wirkte er plötzlich sehr amtlich.

«Doswidanjal», sagte er noch, und wandte mir den Rücken zu.

Erst jetzt wurde mir bewußt, was ich falsch gemacht hatte: als ob Radoi nicht mein Freund, sondern irgendein bulgarischer Scheißzöllner gewesen wäre, hatte ich versucht, ihm zum Schluß noch eine Packung Marlboro und — als ich geglaubt hatte, eine wäre ihm zu wenig — auch eine zweite in die Hand zu drücken. Und — «good Marlboro! Amerika! Nix Bulgaria!» hatte ich unbedingt auch noch sagen müssen.

Ich schämte mich. Ich hatte mich wie ein Österreicher benommen.

Von der Grenzstation Jovkovo bis zur rumänischen Grenze sind es nicht mehr als ein paar hundert Meter, aber mir kommt die Fahrt durch das Niemandsland wie eine kleine Weltreise vor.

Endlich! Ein menschliches Wesen!

Das menschliche Wesen entpuppt sich als Soldat, ja ja, als richtiger Soldat — mit Uniform, Stahlhelm, und Karabiner und so, auch wenn es noch ein halbes Kind ist, schmalbrüstig, blaß, und voller Pickel im Gesicht ...

«Stop!», befiehlt das Bürschchen jetzt, nachdem ich meinen Wagen ohnehin schon angehalten hatte, weil ein dicker, fast schon prunkvoll wirkender Metallschranken die Straße versperrte. Aber «stop» zu sagen, war wohl Vorschrift ...

Mein Reisepaß, den ich vorsichtshalber aus dem Fenster halte, interessiert ihn nicht. Er nimmt ihn mir zwar ab, doch sein gesamtes Augenmerk ist auf eine Schachtel Marlboro gerichtet, die neben mir am Beifahrersitz liegt. Wie Schlange und Kaninchen starren die beiden einander an.

«Marlboro!», sagte er schließlich, mit ergriffener Stimme, nachdem er zuvor seinen Kopf durchs Fenster gezwängt und sich vergewissert hatte, daß es auch tatsächlich welche waren. Daß er dabei mit seinem Stahlhelm — warum mußte der arme Teufel trotz herrlichstem Wetter nur diese seltsame Kopfbedeckung tragen? — gleich den ganzen Fensterrahmen zerkratzte blieb freilich unerwähnt, aber das war ja auch mein Problem, und nicht sein’s ...

Der Herr Soldat wollte eine Marlboro rauchen, das tat er unmißverständlich kund. Warum sollte ich ihm keine geben? Gewiß, ich habe schon sympathischere Zigarettenschnorrer gekannt, und ehrlich gesagt, er sah auch ein wenig lungenkrank aus. Aber — unsympathisch hin, lungenkrank her — daß er schon früh zu rauchen begonnen haben mußte, verrieten seine nikotingelben Finger, und jetzt litt er sicherlich Höllenqualen, weil er nichts, aber schon überhaupt nichts zu rauchen hatte. Ich fühlte mit ihm, denn Raucher sind solidarisch. Außerdem sah es so aus, als wäre der Herr Soldat als einziger befugt, den rumänischen Grenzbalken hochgehen zu lassen — zumindest war außer ihm niemand zu sehen.

Freundlich — weil unfreundlich zu sein nur unangebracht gewesen wäre — biete ich ihm daher eine Marlboro an. «Poftim!», was laut Reiseführer «bitte» heißt, habe ich sogar gesagt, und in der anderen Hand habe ich bereits respektvoll ein Feuerzeug gehalten, denn Zündhölzer hatte diese Jammergestalt sicherlich auch nicht ...

Aber was macht dieser Kerl? Statt einer Zigarette reißt er mir die ganze Packung aus der Hand! «Multo mesk», «vielen Dank», traut er sich noch zu sagen und dann schlurft er in Richtung Grenzstation, die vielleicht hundert oder hundertfünfzig Meter entfernt liegt.

Der Grenzschranken bleibt fest versperrt.

Um Gottes Willen! Auch meinen Paß hat der Kerl noch! Aber das fällt mir leider erst auf, als er schon weg ist ...

Seit gut einer halben Stunde warte ich schon, aber kein Schwein läßt sich blicken: kein Zollbeamter, kein Grenzpolizist, kein Soldat — und erst recht nicht dieses hundsgemeine Pickelgesicht, das jetzt irgendwo meine Zigaretten raucht und meinen Paß — ich wage gar nicht daran zu denken — schon längst verloren, weggeschmissen, oder was weiß der Teufel, hat ...

Was mache ich wirklich, wenn er ganz einfach bestreitet, je meinen Paß in der Hand gehabt, geschweige eingesteckt zu haben? Oder wenn er das Foto herausreißt und dann behauptet, es wäre nie eines drinnen gewesen? Welchen Beweis hätte ich denn?

Die wirrsten Vorstellungen geisterten durch meinen Kopf: Daß er meinen Paß — mein Ich — verbrennen könnte, oder daß er versuchen würde, ihn irgendeiner zwielichtigen Gestalt — einem Rauschgift- oder Menschenhändler, einem arabischen Terroristen oder irgendeinem Mörder zu verkaufen. Ja, wer weiß — vielleicht war dieser Kindersoldat in Wahrheit überhaupt kein Soldat, sondern ein als Soldat verkleideter Securitate-Agent, der die Aufgabe hatte, ausländische Pässe zu organisieren?

Das Gefühl, hilflos der Willkür der rumänischen Grenzbeamten ausgeliefert zu sein, vor allem aber diesem ungehobelten Scheißkerl, der mit meinem Paß verschwunden war, machte mich rasend. Ich begann zu hupen, minutenlang ...

Zwei Grenzsoldaten sperren den Schranken auf. Warum ich so lange warten mußte, fast eine Stunde, will ich wissen. Aber die beiden beachten mich kaum. Ich solle weiterfahren, geben sie mir zu verstehen.

Die beiden sind Nichtraucher, vermute ich.

In der Grenzstation Negru Vodă ist alles ganz anders als ich es mir aufgrund Radois Erzählungen vorgestellt hatte: die rumänischen Grenzbeamten machen weder «potschivka», noch schlafen sie. Im Gegenteil — hier wird gearbeitet wie nirgendwo sonst ...

Die Amtshandlungen konzentrieren sich auf jenen polnischen Reisebus, der vor gut vier Stunden als letzter von Radoi und seinen Kollegen abgefertigt worden war. Drei Zöllner, assistiert von Polizei und Militär — auch das Pickelgesicht ist dabei — haben ganze Arbeit geleistet. Jedes einzelne Gepäcksstück der Polen — jeder Koffer, jeder noch so sorgsam verschnürte Karton, jede Toiletten- oder Kameratasche, jedes Plastiksackerl und die Werkzeugkiste — alles, was sich nur irgendwie öffnen ließ, war geöffnet worden, notfalls auch mit Gewalt.

Jetzt ist das Chaos perfekt. Berge von allerlei technischen Artikeln, Schmutzwäsche und Kaffee, Waschpulver, Babynahrung und hunderte Stangen Zigaretten — der gesamte Reichtum der Reisegesellschaft — kugelt zwischen dem halbzerlegten Autobus und dem schäbigen Zollgebäude herum.

Verbittert, mit zornigen, haßerfüllten Gesichtern, stehen die Polen in kleinen Gruppen herum und beobachten das Wüten der rumänischen Beamten.

Die Tortur ist noch nicht zu Ende: jetzt werden Hosensäcke umgestülpt, Handtaschen und Geldbörsen geleert und einzelne — vor allem Mädchen und junge Frauen — scheinen auch einer Art Leibesvisitation unterzogen zu werden ...

«Schuld hat nur der verdammte Reiseleiter», klagt ein Pole, der zu meinem Wagenfenster gekommen ist. Ich verstehe nicht: «Warum der Reiseleiter?» frage ich. «Weil dieser Idiot geglaubt hat, er kann die zehn Dollar sparen!»

Ich verstehe erst recht nicht: «Was für zehn Dollar?»

Der Pole, ein etwa dreißigjähriger Mann in Adidas Schuhen, Wrangler Jeans, Lacoste Poloshirt und italienischem Sommerblouson, sieht mich geringschätzig an — wie einen, der nicht bis drei zählen kann — aber dann klärt er mich auf: ein Pole, und wie er annehme, auch ein Tscheche oder Bulgare müsse bei der Einreise nach Rumänien eine Art Gebühr zahlen, so zehn bis zwanzig Dollar pro Kopf, und zwar — freiwillig. Natürlich gelinge es manchmal, auch ohne zu zahlen über die Grenze zu kommen, aber gewiß nicht in Russe oder Negru Vodă! Hier würde das Grenzgeschäft nach wie vor von der Securitate kontrolliert, und das seien eben Profis.

Aus seinen Worten klang fast Bewunderung durch.

Am Reiseleiter ließ er sodann kein gutes Haar: dieser sei eben nicht nur ein Amateur, sondern auch ein Gauner! Noch in Istanbul — die Reisegruppe war auf der Rückreise von einer Einkaufstour in türkischen Bazaren — habe er von jedem Reiseteilnehmer die zehn Dollar Grenzgebühr kassiert, aber offenbar habe er den ganzen Betrag — immerhin 560 Dollar! — für sich selbst behalten wollen. Denn anders sei es nicht zu erklären, daß sie nun bereits seit Stunden hier festsitzen würden. Er, Woytila, sei in den letzten zwei Jahren ein gutes Dutzend mal über Rumänien und Bulgarien in die Türkei gefahren, aber so etwas wie heute sei ihm noch nie passiert. Die ganze Einkaufstour würde nun zu einem Verlustgeschäft, denn jetzt würden ihnen die Rumänen alles wegnehmen Videorecorder, Zigaretten, Babynahrung ...

Weiter kam er nicht. Denn ein etwa vierzigjähriger Beamter in Zivil, mit dunkler Sonnenbrille und einem von Narben übersäten Gesicht bedeutete dem Polen, daß er bei meinem Auto nichts zu suchen habe.

Augenblicklich verschwand der Pole.

«What did this man want», werde ich jetzt gefragt. «Nothing», antworte ich, aber das Narbengesicht war jetzt auf mich aufmerksam geworden: «Your Passport!», herrscht er mich an, aber meinen Paß hatte ja noch das Pickelgesicht.

Ein Zöllner, der in der Nähe steht, wird angewiesen, meinen Paß zu holen. Ich muß inzwischen meinen Kofferraum öffnen. Pech gehabt! Insgesamt werden sechs Stangen Marlboro gefunden.

«Too many!», grinst das Narbengesicht.

Die anschließenden Verhandlungen währten kurz und wurden von beiden Seiten mit äußerster Fairness geführt: zwei Stangen verbleiben mir, vier bekommt das Narbengesicht. Außerdem trete ich mein versilbertes Benzinfeuerzeug und einen — allerdings nicht mehr funktionierenden — Taschenrechner ab. Freiwillig, natürlich ...

Plötzlich ist auch mein Reisepaß wieder da. Ach ja! Das Visum bräuchte ich noch!

Aber das Narbengesicht lächelt nur: «Everything okayl», sagt er ...

Ich schaue in den Paß und bin — verblüfft: «Republica Socialista Romania, VIZA, valabilia 14 zile» war hineingestempelt. Formlos, so wie es mir der Herr Botschaftssekretär in Wien angekündigt hatte, erhielt ich mein Visum, noch dazu bargeldlos. Respekt, Respekt! Das Narbengesicht mit der schwarzen Sonnenbrille war ein Meister seines Faches und außerdem — ein Gentleman: «La revedere», «Auf Wiedersehen», grüßte er höflich, als ich endlich weiterfuhr ...

Vor vier Tagen wollte ich in Bukarest sein, jetzt bin ich in der Dobrudscha unterwegs, irgendwo zwischen Negru Vodă, Amzacea und Konstanza ...

Jakob Fallmerayer, der berühmte Südtiroler Reiseschriftsteller, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die halbe Welt und auch die rumänische Dobrudscha bereiste, hat diese Landschaft mit der nubischen Wüste verglichen. Aber sein Vergleich fällt für die «Dobrogea», wie die Gegend ihres fruchtbaren Bodens wegen im Rumänischen heißt, wenig schmeichelhaft aus: «... die nubische Wüste mit all ihren Schrecknissen schien mir weniger kläglich, ja dank der fantastischen Schwingungen ihrer Bodengestalt noch romantisch ausgeschmückt ...», schreibt er, und: «... ich begreife nicht, wie der Mensch in solche Trübsal seine Hütten bauen mag.»

Tatsächlich ist die Dobrudscha eine eintönige, schwermütige Landschaft — kein Baum, kein Hügel unterbricht die endlose Weite. Ein paar Wermuthstauden, dumpfe, trostlose Dörfer oder ein archaischer Traktor, der armselige Landarbeiter zur Fronarbeit auf die staatlichen Felder karrt — mehr an Abwechslung gibt es hier nicht.

Ausgeplündert, leiderprobt ist dieses Land. Reitervölker aus den zentralasiatischen und russischen Steppen jagten hier durch in Richtung Rom oder Byzanz. Goten, Hunnen, Gethen, Gepiden oder Awaren, aber seßhaft werden wollte in diesem Durchzugsland niemand. Im 15. Jahrhundert eroberten dann die Osmanen das Land, und wieder wurde die Dobrudscha, was sie bereits zur Zeit der Römer und Griechen war: eine ungeliebte, rücksichtslos ausgebeutete Kolonie — nützlich, aber kulturlos, eine Kornkammer eben. Bis heute hat sich daran nichts geändert ...

Durch die Dobrudscha fährt jeder so schnell er kann: ein auffrisierter «Dacia» überholt mich in einer Kurve und rast beinahe in einen defekten, mitten auf der Straße stehengelassenen Mähdrescher hinein, ein rundum zerbeulter Lieferwagen, mit ein paar Kisten Tomaten und drei finster blickenden Landarbeiterinnen an Bord, kommt wie ein Todesvogel aus einem Feldweg geschossen, verdreckte Autobusse quälen sich rußend bis zur nächsten Haltestelle und ein mit Zuckerrüben beladener Lastwagen, der rücksichtslos über die holprige Straße donnert, verliert bei jedem Schlagloch die halbe Fuhre. Alle hetzen, alle fliehen aus dieser Gegend, und selbst die Zigeuner in ihren Pferdekarren scheinen es hier eiliger als sonstwo zu haben ...

Langsam geht die Sonne unter.

Zwei Stunden bin ich bereits unterwegs. Plötzlich, als hätte mich diese Gegend schon wahnsinnig gemacht, sehe ich ein Schiff durch die traurige Landschaft tuckern. Es wird größer und größer, immer deutlicher werden seine Konturen erkennbar, aber weitum ist keine Spur vom Meer.

Bald wird klar, daß ich den «Canal Dunare-Marea Neagră» (Donau-Schwarzmeer-Kanal) erreicht habe, der von Cernavodă an der Donau bis Adigea, einem kleinen Schwarzmeerhafen südlich von Konstanza, führt und für Schiffe bis zu 5000 Tonnen den ursprünglichen Wasserweg um mehr als vierhundert Kilometer verkürzt.

Bei Cumpăna führt eine Brücke über den gut fünfzig Meter breiten Kanal, der erst Mitte der 80er Jahre fertiggestellt wurde. Ob der fast 70 Kilometer lange Kanal, mit dessen Errichtung bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg begonnen worden war, tatsächlich für Rumänien lebensnotwendig ist, oder nur eines der Wahnsinnsprojekte des gestürzten «Conducators» ist — ich weiß es nicht.

«Man sollte ihn Ceaușescu-Kanal nennen», erklärt mir später ein älterer Gymnasiallehrer in Konstanza — aber wie er das gemeint hatte, blieb offen ...

Erste Hotelklötze tauchen auf, dahinter Meer — ich bin in Konstanza, der größten rumänischen Hafenstadt.

Griechen aus Milet haben diese Stadt im 6. Jahrhundert vor Christus gegründet, später (71 v. Chr.) wurde sie von den Römern erobert. Damals hieß Konstanza noch Tomis ...

«Aurea prima sata est aetas quae vindice nullo / sponte sua sine lege fidem rectumque colebat ...» oder so ähnlich lauteten die beiden ersten Zeilen, und sinngemäß hieß das, daß es einmal ein goldenes Zeitalter, ohne Behörden und lästige Gesetze gab.

Wie es dann weiterging, weiß ich nicht mehr genau, aber wenn ich mich recht erinnere, ist noch von «nicht gefällten Fichten», von «Menschen, die nicht den Blick des Richters fürchteten», und von «Honig, der von grünenden Eichen träufelt» die Rede gewesen ... Vor gut dreißig Jahren habe ich diesen Schwachsinn noch auswendig gekonnt, Vers für Vers, und richtig betont — denn «Pluto», unser Lateinprofessor in Gmunden, war felsenfest davon überzeugt, daß der Verfasser dieser Zeilen, ein gewisser Publius Ovidius Naso, der «begnadetste Dichter aller Zeiten» sei, weshalb er auch dessen Hauptwerk, «Die Metamorphosen», eine in ermüdenden Hexametern abgefaßte Schnurrensammlung, als «göttlich» zu bezeichnen pflegte.

Wie habe ich damals diesen Publius Ovidius Naso gehaßt! Ihm, und nur ihm hatte ich es zu verdanken, daß ich bei schönstem Badewetter zu Hause sitzen und mich durch die «Vier Weltalter» oder die «Apotheose des Äneas» quälen mußte ...

Und wie eingebildet dieser Kerl auch war! «Weder der Zahn gefräßiger Zeiten ... noch Jupiters Zorn», erdreistete er sich an irgendeiner Stelle zu behaupten, könnten sein Werk zerstören und — unverfroren wie Klassiker nun einmal sind, wollte er vor 2000 Jahren schon wissen, daß sein «Name niemals vergehen», sondern vielmehr «ewig über den hohen Gestirnen schweben» würde.

Nein, diesen Ovid haßte ich wirklich! Verflucht habe ich ihn, wenn er salbungsvoll von der Quellnymphe Arethusa, Ceyx, dem Gemahl der Alcyone, der sich unbedingt in einen Eisvogel verwandeln mußte, oder von Hypäpa, einer beschissenen Kleinstadt am Abhang des Tmolus daherfaselte, wenn «morpheus» nicht einfach mit «Morphinist, Rauschgiftsüchtiger», sondern mit «Traumgott» zu übersetzen war, oder «siphylus» nicht eine Geschlechtskrankheit, sondern ein Gebirge in Kleinasien bezeichnete.

Ovid blieb mein Erzfeind, bis zur Matura jedenfalls — und daran hat sich bis heute wenig geändert, auch wenn ich ihn später aus den Augen verlor ... Aber jetzt stand er plötzlich leibhaftig vor mir — auf der «Piata Independentei» in Konstanza am Schwarzen Meer. In vollendeter Pose, mit effektvoll über die Schulter geworfener Toga, thronte er auf einem hohen Marmorsockel, und sein lorbeerumkränzter Bronzeschädel glänzte in der Abendsonne. Ein wenig vereinsamt schien er zwar, und melancholisch, der antike Playboy aus Rom, den Kaiser Augusıus wegen eines angeblichen Techtelmechtels mit seiner Enkelin an die Schwarzmeerküste verbannt hatte — aber warum eigentlich?

Es geht ihm blendend, hier in Konstanza: König Carol I. ließ ihm 1887 ein Denkmal errichten, Ceaușescu verlieh ihm Anfang der 70er Jahre die rumänische Staatsbürgerschaft, und selbst der Portier im Hotel «Delfinul» nennt ihn respektvoll «a great man of Dobrogea».

Was also spricht dagegen, den nächsten Lateinprofessoren-Kongreß in Konstanza abzuhalten? Schließlich gibt’s dort auch die Gykonschlange — keine Angst, sie steht im Archäologischen Museum — eine vierspurige Autobahn nach Venus, Mars und Mamaia, und viele, viele leere Hotelzimmer.

Von Konstanza nach Bukarest gibt es zwei Hauptrouten: die erste, die über Hırsova (das antike Castrum Carsium), die «Brückenstadt» Giurgeni, und dann, den Ialomița-Fluß entlang, nach Urziceni, und von dort südwestlich nach București führt, ist laut Reiseführer rund 270 Kilometer lang und wird als «Route de transit internationale» bezeichnet — was zumindest gut klingt.

Die zweite hingegen scheint gefährlich: sie führt, wie es heißt, zunächst durch eine «baumlose Ebene», zwingt aber dann zur Benützung einer Donaufähre, und auf eine Donaufähre habe ich bereits einmal gewartet ...

Der Fall ist klar! Ich wähle die erste Route!

Aber ein Polizist, den ich ausgerechnet in Ovidiu — der Ort heißt tatsächlich so, und liegt ein paar Kilometer außerhalb Konstanzas — sicherheitshalber noch einmal konsultiere, schüttelt nur mitleidig sein martialisches Haupt:

«You go Bukarest?», vergewissert er sich. Als ich bejahe, erklärt er mir — an Hand der Karte, und das überzeugt — einen wesentlich einfacheren Weg: über Medgidia, Cernavodă und Fetești müsse ich fahren, und dann immer nur gerade, gerade, gerade — nach Dragoș Vodă, nach Dor Mărunt, Lehliu und Brănești, und schon wäre ich in Bukarest. Mehr als 100 — in Worten: hundert — Kilometer würde ich sparen, und ab Cernavodă gäbe es sogar eine Autobahn!

Penibel verglich ich alle Angaben mit Straßenkarte und Reiseführer, aber der graumelierte Polizist — er war inzwischen fast ein Freund geworden, weshalb er selbstverständlich auch meine Marlboros rauchte — hatte recht: zwischen Cernavodă und Fetești war tatsächlich eine Autobahn eingezeichnet, und wenn auch die gesamte Abkürzung nicht hundert, sondern lediglich 54 Kilometer betrug — in Rumänien können vier Liter eingesparter Diesel ein kleines Vermögen sein. Ich hatte ohnehin nur mehr zehn, höchstens zwölf Liter im Tank ...

Allerdings — daß die Strecke zwischen Fetești und Lehliu — immerhin fast 70 Kilometer — nur in zartem Gelb eingezeichnet war und als kümmerliche «Route de communication» beschrieben war, stimmte mich nachdenklich. Aber mein neuer Freund meinte, daß meine Karte offenbar noch aus der Zeit vor der «Revolution» stamme, und alles, was aus dieser Zeit stamme, sei falsch.

Das machte Sinn.

Also fuhr ich die paar Kilometer nach Konstanza zurück. Warum, um Gottes Willen, sollte ich nicht wirklich die kürzere, und wesentlich schnellere Route wählen. Nur weil sie in meinem unzuverlässigen Reiseführer — ich will den Autor nicht nennen — nicht angeführt war?

Der Polizist, der ein wirklich hilfsbereiter Kerl zu sein schien, fuhr auch mit. Um mir die richtige Ausfahrt nach Medgidia zu zeigen, wie er sagte, denn gerade Touristen würden oft die Wegweiser übersehen. Außerdem hätte er gerade Dienstschluß und zufällig wohne er in Konstanza ...

Der Polizist in Ovidiu hatte nicht zuviel versprochen: von stolzen Pappeln gesäumt ist die Straße, die von Konstanza in Richtung Medgidia führt! Als hätte sie Kaiser Trajan, Sohn des göttlichen Nerva, Pontifex Maximus und zum vierten Mal Vater des Vaterlandes für seine Legionen gebaut.

Freilich, für die Bauausführung war dann wohl ein Parteisekretär aus der Ceaușescu-Ära zuständig, denn tiefe Schlaglöcher und das Fehlen ganzer Betonplatten machen die Benutzung der Prachtstraße nicht ganz ungefährlich.

Aber das sind Details, lächerliche, kleine Details. Bis Basarabi, wo man auf den gigantischen Donau-Schwarzmeer-Kanal stößt, haben Rumäniens Verkehrsplaner einen großzügig konzipierten Verkehrsweg geschaffen, und immerhin — von Konstanza bis Basarabi sind’s achtzehn Kilometer.

Wer hier einen Achsbruch erleidet oder sein Vehikel sonstwie zu Schanden fährt, ist selber schuld: hätte er halt keinen Dacia, sondern einen BMW oder Mercedes gekauft!

Auch dann, von Basarabi nach Medgidia und — immer den künstlichen Wasserweg entlang — von Medgidia nach Cernavodă sind Klagen nicht angebracht.

Gewiß, es ist nur mehr eine «Route de transit national»: die Zahl der Schlaglöcher nimmt zu, auch die der Pferde- und Ochsengespanne, Kinder holen mit Steinen und langen Stangen Nüsse und Obst von den Alleebäumen, und da oder dort torkelt auch ein Betrunkener über die Straße, aber wer aufpaßt und ein wenig Glück hat, dem passiert schon nichts.

Immer länger werden jetzt die Schatten, die Abendsonne verglüht und langsam bricht die Dunkelheit herein. Ich überquere die Donaubrücke bei Cernavodă. Für siebzig Kilometer habe ich fast eineinhalb Stunden gebraucht ...

An der Auffahrt zur Autobahn Cernavodă–Fetești ist eine Gebühr zu entrichten: «Fiveteen Leib», fordert die Kassierin kategorisch, und in der Annahme, ich würde sie nicht verstehen, malt sie mir mit dem Finger — deutlich sichtbar — die Zahl 15 auf die staubige Autotür.

Aber ich habe keine 15 Lei!

«No Lei», ungläubig starrt mich die Kassierin an.

Vier, fünf Lei, auch ein paar Bani kratze ich zusammen, aber mehr werden es nicht.

«Sorry!», sage ich. Es tut mir wirklich leid.

Die Autobahngebührkassierin von Cernavodă hat sicherlich schon so manches erlebt, aber daß ein Ausländer, einer aus dem Westen noch dazu, nicht einmal fünfzehn lumpige Lei herausrücken will — das schlägt dem Faß den Boden aus.

Aber wie soll ich ihr erklären, warum ich keine 15 Lei habe?

Daß ich bisher überall mit Dollar oder D-Mark zahlen mußte? Daß die paar Lei, die mir irgendein Gauner in Russe angedreht hatte, selbst an den Kassenschaltern staatlicher Museen nur höchst widerwillig angenommen worden waren, und daß mir ein Kellner in Konstanza, dem ich Lei als Trinkgeld geben wollte, diese wieder zurückgab? «Keep it, thank you!», hatte er gesagt — und daß ich nach all diesen Erlebnissen gar nicht auf die Idee gekommen war, Bani & Lei einzutauschen?

Die Lage schien hoffnungslos. Die 50 bulgarischen Lewa, die ich ihr bot — sicherlich mehr wert als 15 Lei, denn in Bulgarien hatte ein ausgiebiges Mittagessen höchstens 5 Lewa gekostet nahm sie um nichts in der Welt: «Bulgaria money no good», sagte sie nur. Umgekehrt wollte ich ihr auch nicht 20 Dollar geben und einen kleineren Geldschein hatte ich leider nicht eingesteckt.

Trotzdem, die Tatsache, daß ich überhaupt Geld hatte, stimmte sie milder. Sie sann nach Lösungen. Plötzlich fiel ihr Blick auf eine halbvolle Schachtel Marlboro, die aus meiner Rocktasche hervorschaute: «Okay, give this», sagte sie, und ihr Gesicht strahlte, als ich akzeptierte ...

Was, zum Teufel, ist so faszinierend an Marlboro?

Irgendwann sollte ich tanken. Aber wo? Von Vodă Negru bis Konstanza gab es keine einzige Tankstelle, zumindest habe ich keine gesehen. In Konstanza gab’s zwar eine, aber die war von hunderten Autos belagert.

Und zwischen Konstanza, Cernavodă und Fetești? Viel Lärm um nichts — «PECO» stand zwar hin und wieder zu lesen, «PECO» in 1000, 3000 oder 5000 Meter, auch Schilder mit aufgemalten Zapfsäulen oder gar der Aufschrift «Autoservice» waren zu sehen, aber so sehr ich mich auch über diese Ankündigungen freute, jede war letzlich Chimäre: «benzina» oder «motorina» (Diesel) gab’s nirgends. Entweder die angekündigten Tankstellen existierten erst gar nicht, oder sie waren geschlossen ...

Bukarest ist noch weit.

Jetzt habe ich nur mehr zwei oder drei Liter im Tank, vielleicht aber auch nur einen halben. Wie ein Damokles-Schwert zappelt der Zeiger der Tankuhr zwischen «Null» und «Reserve» hin und her. Und jetzt leuchtet das rote Warnlämpchen auf. Stop!

Ein mißmutiger LKW-Chauffeur werkt am defekten Motor seines Sattelschleppers herum. «Motorina, wo? Poftim!», rufe ich ihm zu. Was er mir antwortete, verstand ich nicht, aber es klang wie «leck mich am Arsch!» Offenbar hatte er geglaubt, ich wollte von ihm Diesel kaufen.

Eine Tafel: «PECO 5000 Meter», lese ich wieder einmal. Aber eine endlose Warteschlange zeigt, daß diesmal der Hinweis stimmt. Gott sei Dank! Hier gibt’s auch «motorina»! Aber wie lange werde ich warten müssen?

«Sie sind Ausländer, warum stellen Sie sich an?», fragt mich verwundert ein «Dacia»-Fahrer, der hinter mir in der Schlange steht. «Fahren Sie doch einfach vor!»

«Einfach vorfahren?» Jetzt bin ich verwundert.

Aber der «Dacia»-Fahrer bekräftigt: «Ja natürlich! Sie sind doch Ausländer, oder nicht?»

Daß früher ein Tourist aus dem kapitalistischen Ausland gegenüber einem Werktätigen aus dem Inland staatlich verordnete Privilegien genoß — daß er besseres Obst, besseres Fleisch, besseres was weiß ich alles, bekam, daß er sich bei Konzertkassen, Tankstellen oder Nachtclubs nirgends anstellen mußte, war mir natürlich bekannt. Aber jetzt? Jetzt auch noch? Hat es nicht geheißen, daß sie jetzt freie, gleichberechtigte «Bürger» geworden sind?

Ach ja! «Natürlich, natürlich bin ich Ausländer!», antwortete ich schließlich. Aber ob ich wenigstens «danke» für den netten Hinweis gesagt habe — ehrlich, ich weiß es nicht mehr. Ich war ja auch Ausländer, oder vielleicht nicht?

Und während ich an der ein- oder eineinhalb Kilometer langen Warteschlange der Rumänen vorbei, mit bereits stotterndem Motor zur «motorina»-Pumpe fahre, stelle ich mir vor, was wohl passieren würde, wenn in Deutschland oder Österreich Ausländer plötzlich das Privileg bekämen, sich an den Kassen der Supermärkte vordrängen zu dürfen ...

Der «PECO»-Cheftankwart, eher mit dem Direktor eines Staatsunternehmens, denn mit einem simplen Tankwart zu vergleichen, ein «PECO»-Cheftankwartassistent, also eine Art Mineralöloberrat, und drei Schwerbewaffnete — natürlich ebenfalls Staatsdiener und von der Securitate, wie ich vermute — sind die generalbevollmächtigten Benzin-, Diesel- und Motoröldistributoren dieser «PECO»-Station. «PECO» ist eine Staatsfirma, aber das ist ja ohnehin klar ...

Natürlich, Ausländer werden an «PECO»-Tankstellen bevorzugt bedient, bestätigt ein Bewaffneter. Und alle rumänischen Benzinbettler haben einen gebührenden Abstand zu halten, dafür sorgen notfalls die Ordnungskräfte. Schließlich zahlt ja so ein Ausländer nicht in Lei, sondern in irgendeiner Westwährung und wer weiß, ob das nicht bereits so ein «joint venture» ist, von dem im Staats-TV neuerdings ständig die Rede ist.

«How much», eröffnet der sprachenkundige Cheftankwartassistent die Verhandlungen. Ich mache den ersten Fehler: «Forty or fifty liter», antworte ich wahrheitsgemäß, und, um eine angemessene Zuteilung zu erwirken, unterstreiche ich noch die Dringlichkeit meines Dieselbedarfs: «Empty, no drop!»

Der Cheftankwartassistent übersetzt dem Cheftankwart mein Begehr, die Ordnungskräfte hören interessiert zu.

Nach kurzer Beratung stellt der Cheftankwartassistent im Auftrag seiner Vorgesetzten die nächste Frage: «Tourist or business?»

«Tourist», antworte ich.

Einer der Ordnungskräfte vergleicht meine Aussage mit den Eintragungen in meinem Paß.

Die Verhandlungen scheinen positiv zu verlaufen.

Der Chaftankwartassistent stellt noch eine Frage: «Where go?»

«Bukarest», gebe ich bekannt.

Eine neuerliche Beratung findet statt, nicht sehr lang, aber etwas länger als die erste. Ein rumänischer Lada-Fahrer, der sich wohl aufgepudelt hat, weil während der Verhandlungen die gesamte Kraftstoffzuteilung an Rumänen unterbrochen ist, wird mit scharfen Worten zurechtgewiesen. Ob er später strafweise noch eine halbe Stunde länger warten muß, oder ob er drastischer diszipliniert wird, weiß ich nicht.

Nach erfolgter Zurechtweisung des Störenfrieds bzw. nach Abschluß der Beratungen informiert mich der Cheftankwart persönlich über das Ergebnis: «Okay, 5 Dollar!», gibt er bekannt.

Ich bin überglücklich und willige sofort ein: noch nie habe ich preiswerter Benzin oder Diesel getankt, bin ich überzeugt. Um so enttäuschter bin ich, als mir mitgeteilt wird, daß dies der Preis für einen Liter sei. Außerdem sei im vorhinein zu bezahlen.

Mit Mühe gelingt es, die Zuteilungsquote auf 20 l zu reduzieren ...

Ich bezahle 100 Dollar — oder hätte ich meinen Citroen BX nach Bukarest tragen sollen?

Anstandslos folgt nun der Cheftankwartassistent das mir zustehende «motorina»-Quantum aus, und der Cheftankwart und die drei Ordnungskräfte studieren eingehend die zwei 50-Dollar-Noten.

Offenbar waren sie nicht gefälscht.

In welchem Verhältnis der Herr Cheftankwart, sein Assistent und die drei Ordnungshüter den Betrag später teilten, weiß ich nicht.

Anmerkung: Trotzdem fühle ich mich durch «PECO» nicht geschädigt. Denn beim nächstenmal Tanken bezahlte ich für rund 35 l «motorina» — erraten: ein Stange Marlboro.

Und der Ordnung halber möchte ich noch anfügen, daß ich zweimal — einmal in Sibiu, und einmal in Temesvar, wenn ich mich recht erinnere — auch völlig «normal» meinen Treibstoffbedarf deckte. Allerdings — auf die Frage, wieviel «motorina» ich denn benötigen würde, antwortete ich stets nur: «I don’t know», und ich vermied es peinlich, einen diesellosen Eindruck zu erwecken.

Nein, ich bin keiner, der sein Auto verwöhnt, es schont oder wie ein kleines Kind behandelt: kein einziges Mal — und jetzt fahre ich mit dem Vehikel immerhin schon drei Jahre — habe ich es bisher gewaschen oder wenigstens waschen lassen (wenn es je gewaschen wurde, dann hat dies der Regen getan), im Kofferraum sieht es wie in einem Mistkübel aus, und wegen eines Lackkratzers, ein paar Beulen oder einer abgebrochenen Zierleiste habe ich noch nie einen Mechaniker bemüht. Ich habe es über anatolische Bergstraßen gequält, über die «Autoput» nach Belgrad, über Schotterstraßen und quer durch Istanbul. Ich habe auf das 25.000 und — wie mir gerade einfällt — auch auf das 50.000 Kilometerservice vergessen, den Aschenbecher leere ich grundsätzlich nicht aus, und frisches Motoröl gibt’s bei mir üblicherweise nur dann, wenn das rote Warnlämpchen blinkt.

Ich gestehe es offen ein — um mein Auto habe ich mich nie viel gepfiffen!

Aber jetzt, zwischen Dragoș Vodă, Dor Mărunt und Lehliu, habe ich plötzlich ein schlechtes Gewissen. Ich mache mir Sorgen um die Karre!

Ich beginne ihr zu schmeicheln, und rede wie mit Engelszungen auf sie ein: «Du schaffst es schon! Bukarest ist nicht mehr weit! Nur ein paar Kilometer noch!», lüge ich — denn noch war Bukarest gut 70 Kilometer entfernt und die in meiner Straßenkarte in zartem Gelb eingezeichnete «Route de communication», die mir der Polizist aus Ovidiu — erwürgen könnte ich den Trottel — aufgeschwatzt hatte, schien eher für russische Panzer, denn für handelsübliche Straßenfahrzeuge geeignet.

Was solls? Das Paradies auf Erden versprach ich meiner Karre, würde sie mich heil nach Bukarest bringen: «In Bukarest wird Dich der Onkel Mechaniker einen ganzen Tag lang verwöhnen! Und — wenn Du willst, lasse ich Dich in der modernsten Waschstraße mit westlichem Luxusshampoo baden!», schwor ich ihr, und dann erzählte ich ihr noch von den prachtvollen Boulevards, auf denen wir in Bukarest fahren würden, vom Arc de Triomphe, Restaurants und Hotels — aber ehrlich gesagt, ich tröstete mich selbst ...

Die arme Karre! Ich leide mit ihr! Wie sie durchgerüttelt, durchgeschüttelt wird, wenn sie wieder einmal in ein riesiges Schlagloch, fast schon in eine Fallgrube kracht und — kaum hört sie zu zittern auf, über irgendeine Bodenwelle, einen Stein oder ein verlorenes Auspuffrohr rumpelt. Dann wieder droht sie in knöcheltiefem Morast zu versinken, und ein leerer LKW, der wie eine zornige Hornisse über ein Schotterstück rast, schleudert ihr faustgroße Steine aufs Dach.

Die Arme!

Zart, fast zärtlich lege ich ihr jetzt die Gänge ein, gefühlvoll streichle ich ihr Gaspedal, und hätte sie es gewollt, ich hätte ihr auch die Reifen, die Batterie oder den Zylinderkopf geküßt!

Aber was macht diese Scheißkarre?

Wie eine Hexe beginnt sie plötzlich herumzutanzen, lenke ich nach links, fährt sie nach rechts, und lenke ich nach rechts, fährts sie geradeaus weiter!

Ein Reifenplatzer! Hinten links.

Es grenzt an ein Wunder: ich finde den Wagenheber, einen Schraubenschlüssel, der paßt — und auch der Reservereifen ist so einigermaßen in Ordnung!

Es geht wieder weiter ...

Stockfinster ist es jetzt, und zu allem Unglück fängt es auch leicht zu nieseln an. Ich fahre nicht schnell. Fünfzig km/h vielleicht, eher weniger, denn die Sicht ist schlecht. Plötzlich tauchen die Konturen eines riesigen Mähdreschers vor mir auf. Mit Glück bringe ich den Wagen zum Stehen — ein paar Zentimeter weiter, und es hätte gekracht. «Verdammter Idiot! Warum fährst Du ohne Licht?», schreie ich dem Fahrer nach, aber der hört mich nicht. Viele sind hier mit mangelhaft oder überhaupt nicht beleuchteten Fahrzeugen unterwegs, vor allem Mähdrescher, Traktoren, Pferde- und Ochsenkarren. Manche haben wenigstens Petroleumlampen oder Laternen montiert, oder schwenken mit Taschenlampen. Entweder haben die staatlichen Agrarkooperativen schon seit längerem keine Glühbirnchen mehr zugeteilt bekommen, oder die Fahrzeuge werden schlecht gewartet.

Denn — daß Rumänen Katzenaugen haben, glaube ich doch nicht.

Kurz vor Lehliu ist ein Unfall passiert. Ein Lastwagen hat ein Pferdefuhrwerk niedergemäht. Ein Pferd ist tot, das andere lebt noch. Überall liegen Tomaten und Gurken herum. Ein paar Männer sammeln die weitum verstreuten Trümmer des Pferdewagens ein. Ob auch Menschen verletzt oder getötet wurden, kann ich nicht erkennen. Nein, meine Hilfe sei nicht nötig, bedeutet mir einer der Männer, ich solle weiterfahren.

Fünf Stunden, oder sechs, vielleicht auch mehr, bin ich jetzt schon unterwegs — ich weiß es nicht genau, ich schaue gar nicht mehr auf die Uhr ... Irgendwann war ich in Lehliu, das weiß ich noch, denn ab da wurde wenigstens die Straße besser, und dann kam ich noch in ein paar weitere Orte — Ileana hieß einer, und ein anderer Brănești oder so ähnlich — aber etwas zu Essen, ohnehin nur ein Stück Käse oder einen Teller heiße «Ciorbă», ein Glas «Nectar», Kaffee oder Tee gab’s hier nirgends.

Trostlos ist diese Gegend, verkommen und herabgewirtschaftet, zum Fürchten einfach — aber daran wird sich so schnell nichts ändern. Alle wollen weg von hier, und ich kann sie verstehen denn wer will schon freiwillig in einem Straflager leben?

Ich bin todmüde.

Nur die Angst vor einem Unfall hält mich wach. Längst schon sollte ich in Bukarest sein, denn seit Konstanza bin ich bereits mehr als zweihundertfünzig Kilometer gefahren. Um einiges mehr, als ich in Ovidiu — nie wieder in meinem Leben fahre ich nach Ovidiu — an Hand der Straßenkarte ausgerechnet hatte.

Habe ich mich zu allem Unglück auch noch verfahren?

Ich muß jemanden fragen!

Aber wen?

In der Finsternis ist weit und breit niemand zu sehen ...

Plötzlich — wie ein Rettungsengel — huscht eine menschliche Gestalt über die Straße!

«Bona ziun! Bona ziun!», rufe ich ihr nach — was zwar «Guten Tag» heißt, aber das richtige Wort für «Abend» fiel mir partout nicht ein, und «Bona ziun» wird in Rumänien auch mitten in der Nacht verstanden.

Die menschliche Gestalt — ein jüngerer Mann — kam jedenfalls an mein Wagenfenster. «Poftim?, fragte er höflich.

«Strada to București, where?», kauderwelschte ich daher, aber die zwei Schlüsselwörter — «Straße» und «Bukarest» — hatte ich perfekt getroffen. Ich war stolz auf mich!

Nur verstanden wurde ich offenbar nicht, denn statt einfach in die eine oder die andere Richtung zu zeigen, stutzte mein Vis à vis und suchte verzweifelt nach passenden Worten: «Adresadres», stieß er schließlich hervor, und um ja keinen Fehler zu begehen, betonte er einmal das «a» und einmal das «e».

Ich kannte mich nicht aus: «No, not Adresa! Strada to București!», wiederholte ich daher, und für den Fall, daß er irgendeinen Hörfehler haben sollte, zeigte ich ihm die Straßenkarte: «Look, Bukarest is here!», sagte ich, und: «I want to go there!»

Aber er nickte nur zustimmend mit dem Kopf und fing wieder mit seinem Adresa an.

Wir verstanden uns einfach nicht, wie es schien: denn auch als ich «strada» schließlich wegließ und es durch «kilometer» ersetzte — selbst in Kurdistan hat noch jeder «Uludere kilometre?» verstanden, warum also sollte hier «București kilometer» eine unüberwindliche Hürde sein — faselte er immer noch von Adresa herum. «Kann passieren!», dachte ich mir und ich wollte schon «multo mesk» sagen und weiterfahren, als er plötzlich von dem mir unverständlichen Adresa abging und «Bulevardul?» und «Piazza» hervorstieß.

«Boulevard? Piazza?» Langsam ging mir ein Licht auf ...

«Bulevardul Republicii!», «Boulevardul Gheorghiu-Dej», «Boulevardul ...», eine bekannte Straße nach der anderen zählte er jetzt auf und immer klang es, als ob er mich fragen wollte, wo ich denn nun wirklich hin wollte ...

Erst jetzt sah ich mich genauer um. Ja! Da waren Gebäude zu erkennen, Betonklötze, wie in den Vorstädten jeder größeren Stadt! Schemenhaft, wie Gespenster standen sie da, eingehüllt in Finsternis, nur da oder dort drang fahles Licht aus einem Fenster. Kein Zweifel — ich war in Bukarest.

Ein, zwei Kilometer noch, erklärt nun mein Rettungsengel mit den Fingern — und schon würde ich im Zentrum sein.

Seit jeher war Bukarest eine prunksüchtige Stadt, prahlerisch und byzantinisch, eine Stadt, die den Pomp und das Spektakel liebte — und ein wenig zum Hochstapeln neigte.

Alles ist hier eine Spur zu groß, aufdringlich und nach Bewunderung schielend: der «Palast der Metropoliten» und die «Patriarchenkirche», in der 1881 Karl Eitel Zephyrin von Hohenzollern mit riesigem Tamtam zum ersten König Rumäniens gekrönt wurde, das «Museum für die Geschichte der kommunistischen Partei» aus der Stalin Ära, oder «die Luna-Bar» im 21. Stock des «Intercontinental».

Auch der pompöse, lächerlich wirkende «Arc de Triomphe», der in den 30er Jahren in der prachtvollen, von Parkanlagen und Luxusvillen umgebenen «Șoseaua Kiseleff» für die Helden des Ersten Weltkrieges errichtet wurde, paßt in dieses Bild, ebenso wie das aus den 70er Jahren stammende «Nationaltheater» am «Bulevardul Republicii» oder das «Haus der Scinteia», ein gewaltiges, unmittelbar nach der kommunistischen Machtergreifung gebautes Verlags- und Druckereizentrum an der Ausfahrt zum Flugplatz.

Und nahtlos fügt sich auch Bukarests Broadway, die «Calea Victoriei», in dieses Museum der Eitelkeit ein: mit dem feierlich-düsteren, unter Carol I. in neoklassizistischem Stil errichteten «Atheneum», dem «Atenul Roman», in dem das Philharmonische Staatsorchester «Gheorge Enescu» seine Konzerte gibt und das fallweise auch als Leichenhalle — für gefeierte Staatspoeten — dient, dem Anfang der 80er Jahre fertiggestellten Hotel «București», dessen Bestimmung es ist, das «eleganteste» Hotel Südosteuropas zu sein, oder — last, not least — mit dem «Königlichen Schloß», auch «Palais der Sozialistischen Republik» genannt.

Welcher der beiden Namen der richtige ist? Ich weiß es nicht. Denn Carol II. errichtete in den 30er Jahren — während er ringsum Streiks und soziale Unruhen blutig niederschlagen ließ — zwar den Haupttrakt, dann war es Marschall Antonescu, der 1940 mit Unterstützung Hitlers und der «Legion des Erzengels Michael» an die Macht gekommen war, der den mächtigen Seitenflügel in Angriff nahm, aber — Ehre, wem Ehre gebührt! — auch die «Kommunisten», die 1947 ans Ruder gelangten, trugen ihr Scherflein zum Gelingen des klassizistischen Monsters bei. Sie vollendeten — in zehnjähriger Bauzeit — das monarchistisch-faschistisch-sozialistische Gesamtkunstwerk, fügten sogar noch ein Kongreßzentrum hinzu und residieren bis zum heutigen Tag darin.

Und hält er sich nur lange genug an der Macht, wird auch Staatpräsident Iliescu, der Repräsentant des „Neuen Rumänien“ seinen Beitrag zur Geschichte dieses Staatstempels leisten — davon bin ich überzeugt.

So ist das in Rumänien — und ich fürchte, daran wird sich nie etwas ändern: seit 1878 die osmanische Vorherrschaft endgültig abgeschüttelt werden konnte und die einstige Residenzstadt walachischer Woiwoden- und griechischer Phanariotenfürsten (so benannt nach dem Istanbuler Stadtteil «Phanar», aus dem die meisten osmanischen Statthalter stammten) zur Hauptstadt des neuentstandenen Rumänien wurde, war București bestrebt zu glänzen, zu imponieren und alle anderen Städte zu überstrahlen.

Und als — durch eine Laune der Geschichte — bei den Pariser Friedensverhandlungen 1920 auch Siebenbürgen und der Banat an Rumänien fielen und das neue «Groß-Rumänien» entstand, hatte die politische Hautevolée des Landes gar den Ehrgeiz, das geliebte București in ein zweites Paris zu verwandeln.

Damals fiel ein Großteil der alten Bojaren-Palais dem Zeitgeist zum Opfer, wer patriotisch war und sub specie aeternitatis agierte, der beglückte die Vaterstadt eben mit Klassischem, mit ionischen Säulen oder griechischen Tempelgiebeln, und eher diesseitig orientierte Naturen investierten in Kunst, Plüschsalons oder Etablissements à la «Moulin Rouge» ...

Daß da natürlich auch der große «Conducator», der «Führer der Nation» nicht nachstehen konnte, und ein «sozialistisches» Stadtzentrum aus dem Boden stampfte — er hätte mit derselben Begeisterung ein «faschistisches», «christliches» oder «maoistisches» geschaffen — und vor dem Messezentrum bereits einen neuen Triumphbogen mit der Aufschrift «Die Epoche Ceaușescu — das goldene Zeitalter Rumäniens» errichten ließ, wer will es ihm verübeln? Er wollte eben der allergrößte, noch größer als die drei Hohenzollern-Könige, noch größer als Ion Antonescu und noch größer als Genosse Gheorghiu-Dej sein!

«Après nous le délugel», sagen Rumäniens Machthaber nie. Aber jetzt ist von Bukarests Glanz nichts zu sehen, weder von den Wahrzeichen des «Sozialismus», noch von den Monumenten der Monarchie, und schon gar nichts erinnert an Paris. Nur das «goldene Zeitalter» des großen «Conducator» dauert unvermindert an, denn selbst im Zentrum der Stadt wird Strom gespart.

Einsam, wie ein verirrtes Glühwürmchen, leuchtet da oder dort das spärliche Licht einer Straßenlampe, die Schaufenster der Geschäfte sind finster und die ganze Stadt scheint ausgestorben oder geflüchtet.

Wie in St.Pölten der Nachkriegszeit sieht es aus!

Ein Taxifahrer lotst mich — erraten — für eine Packung Marlboro zu einem Hotel. Er könnte der Zwillingbruder des Narbengesichts von der Grenzstation in Negru Vodă sein: er sieht ihm nicht nur verblüffend ähnlich, er spricht auch Englisch mit demselben Akzent, und seine Augen sind kalt.

Wir fahren irgendeinen Bulvardul entlang, den Republicii oder Bălcescu, was weiß ich — als er plötzlich anhält. Hat er eine Panne?

Er kommt zu meinem Wagenfenster: «Mister, look! I must show you!», sagt er und bedeutet mir, auszusteigen.

«What’s that?» frage ich, denn in der Finsternis kann ich zwar Silhouetten erkennen, aber was die ganze Exkursion soll, verstehe ich nicht.

«Here I was fighting for Rumania!», klärt er mich auf, und deutlich werden jetzt die Umrisse eines einfachen Holzkreuzes erkennbar.

«I killed many of them!», erklärt er weiter.

Rund um das Holzkreuz liegen verwelkte Kränze und am Plankenzaun, der die Gedenkstätte umgibt, hängen Fotos, offenbar von Erschossenen, Plakate und selbstverfertigte Poster.

Der Taxifahrer stellt sich vor das Kreuz: «You want make foto of revolution», bietet er mir an, aber ich erkläre ihm, kein Blitzlicht zu haben.

Er scheint ein wenig enttäuscht: «All tourists make foto here», sagt er, während er ein Plakat herunterreißt. Er ahnt, was ich ihn fragen will: «Anti-Revolution poster! Crazy peoplel» Ich konnte natürlich nicht lesen, was auf dem Plakat gestanden ist, aber es hätte mich nicht gewundert, wenn es ein Anti-Iliescu Plakat gewesen wäre.

Um mich zu vergewissern, frage ich ihn direkt: «Do people like President Iliescu?»

Die Frage läßt ihn seine Enttäuschung wegen des nicht gemachten Fotos vergessen: «All people like Iliescu. All people here were fighting for him. Good — Iliescu! Now everything is better in Romania!»

Auf wessen Seite er bei dieser «Revolution» gekämpft hat, frage ich ihn lieber nicht. Aber um mir keine Schwierigkeiten einzuhandeln, erzähle ich ihm, daß alle Leute, mit denen ich bisher gesprochen hätte, nur das Beste über Iliescu gesagt hätten.

Der Taxifahrer ist zufrieden. Auf dem Weg zu den Autos erzählt er mir noch, daß Iliescu für die Opfer der Revolution an der Stelle, an der wir gerade gewesen seien, ein Denkmal bauen lassen wolle.

«Bravo», sage ich.

Sie ist dreißig, vielleicht auch jünger, aber das ist ja gar nicht so wichtig. «Fünfundsiebzig Dollar!», sagt sie, das sei der Preis, und zu bezahlen sei im vorhinein. Auch D-Mark würde sie akzeptieren, aber keinesfalls Lei.

«Okay!», sage ich, aber wenn ich mit einem 100-Dollar-Schein bezahle, würde ich dann den Restbetrag in Doller zurückbekommen? Sie kramt in einer kleinen Blechschachtel herum, aber da finden sich nur drei 100-Dollar-Noten. Auch in der braunen Schachtel, in der sich D-Mark befinden, ist kein geeignetes Wechselgeld. Leider, sie könne mir nur in Lei herausgeben.

«Auch gut», sage ich.

Sie gibt mir 550 Lei. Das ist der offizielle Kurs. Am Schwarzmarkt kostet 1 Dollar 150 bis 250 Lei, manchmal auch mehr, aber das hängt davon ab, wieviel Dollar jemand braucht, wer sie braucht und wofür sie gebraucht werden, kurzum — abhauen ist teuer ...

Aber darum geht es jetzt nicht: es ist Mitternacht vorbei, ich bin den gazten Tag gefahren und habe außer einem Früstück in Constanza noch nichts gegessen.

Essen? Ach, ja — den Früstücksbon hätte sie mir noch nicht gegeben, oder doch?

«Nein! Sie haben ihn mir noch nicht gegeben!»

«Möglich», räumt sie ein, ich solle morgen vor dem Frühstück kommen, bis dahin seien Abrechnungen und Kontrollen gemacht. Alles würde sich aufklären.

Ob es jetzt noch etwas zu essen gäbe, will ich noch wissen aber leider.

Und zu trinken? Überraschenderweise lautet die Antwort «Ja». Bier könne ich haben, drei Dollar die Dose, und sie zeigt auf einen halbvollen Karton, der neben der Registrierkasse steht. Aber ich will kein Bier, außerdem hätte sie mir nicht herausgeben können — ich hatte nur 50- und 100-Dollar-Scheine.

Auf einmal geht das Licht aus, das spärlich gebrannt hatte.

«Hier liegt ihr Zimmerschlüssel!», höre ich die Rezeptionistin aus dem Off.

Wie lange der Stromausfall dauern würde, wüßte sie nicht, sagt sie dann noch, da sie dafür nicht zuständig sei, aber die Verantwortlichen würden den Schaden sicher so schnell wie möglich beheben.

Später erfuhr ich, daß in Rumänien nur Kinder oder Freundinnen von Parteifunktionären die Chance hätten, Hotelrezeptionistin zu werden. Ob das wahr ist, weiß ich nicht, aber eines fiel auf: auf die Frage, wie es jetzt — nach der Revolution — in Rumänien gehe, sagten sie alle, daß die Leute mit der Regierung zufrieden seien. Und manche merkten auch an, daß nur Zigeuner oder vom Ausland aufgehetzte Gruppen die neue Regierung schlecht zu machen versuchten.

Es war ein seltsames Quintett, das da beisammen saß: einer war Deutscher, ein Geschäftsmann, Financier oder Repräsentant eines Unternehmens. Was er genau war, das kam nie richtig heraus, aber Geld hatte er, das sah man.

Er war um die vierzig herum, zum x-ten Mal in Bukarest und daher schon ein «halber Bukarestianer», wie er scherzhalber sagte.

Aber jetzt war er sichtlich besoffen.

Neben ihm saß ein gewisser Lupescu, sein Mitarbeiter, ein gebildeter Mann, der mehrere Sprachen beherrschte, aber Herrmann, so hieß der Deutsche, sagte immer nur «Dracula» zu ihm. Und dann war da noch der «Professor» — so nannte ihn sein Sekretär und so nannten ihn auch die anderen. Selbst der Deutsche, der sonst alle Rumänen mit «Du» anzureden pflegte, sagte gelegentlich «mein lieber Herr Professor», zumindest aber «Professorchen» zu ihm.

Ja, und nicht zu übersehen — die Juliana! Sie war um die fünfundzwanzig, billig gekleidet und aufdringlich geschminkt. Sie sprach als einzige kein Deutsch, aber dafür, erklärte der Deutsche anerkennend, würde sie wissen, «worauf’s ankommt im Leben».

Sie waren allerbester Laune, obwohl die Hotelbar geschlossen war. Aber sie hatten eine Flasche «Tzuika» auf dem Tisch, und außerdem Licht. Denn als der Strom ausgefallen war, hatte ihnen die Rezeptionistin zwei Öllampen gebracht — aus freien Stücken, und das schien mir bemerkenswert ...

Jetzt saßen auch die Rezeptionistin und ich an diesem Tisch, denn der «Professor» hatte uns eingeladen. «Nehmen Sie Platz!», hatte er gesagt, «ohne Licht finden Sie ohnehin nicht auf Ihr Zimmer!» Und dann schenkte er mir ein Glas «Tzuika» ein.

Erst wurde auf Bukarest, und dann auf Târgoviște, Curtea de Argeș und Câmpulung angestoßen und weil das die Namen der früheren walachischen Haupt- und Residenzstädte sind, schloß ich, der Professor müsse Historiker oder Kunsthistoriker sein, Brâncoveanu-Spezialist oder Kustos — im «Minovici-» oder im Stadtmuseum. Denn der «Professor», vielleicht sechzig oder auch älter, sah wie die Inkarnation eines Professors aus, und hätte er gesagt, er wäre ein Neffe von Elias Canetti, ein Enkel Ioan Cuzas oder Ordinarius für aromunische und meglenitische Dialekte, ich hätte es ohne Zögern geglaubt.

Freilich, nicht nur der Deutsche, auch der «Professor» war jetzt illuminiert. Immer öfter mußte ihn jetzt die Rezeptionistin küssen, und Nikolae, so hieß sein Sekretär, bekam furchtbare Schelte, wenn er nachzuschenken vergaß.

Dafür begann der «Professor» jetzt zu dozieren: «Rumänien braucht einen neuen Vlad! Ja, einen neuen Vlad Tepesch, der das Land zu neuer Blüte führt!»

Ich war verwundert, und offenbar sah mir das der «Professor» auch an, weshalb er mich prüfte: «Wissen Sie überhaupt, wer Vlad Tepesch war?»

«Vlad Țepeș?» So ungefähr wußte ich zwar, wer dieser Vlad Țepeș war: daß er Bukarest zur Hauptstadt der Walachei gemacht hatte, daß in Tirgoviste ein Vlad-Denkmal steht, daß «Țepeș» ein Beiname ist und «der Pfähler» heißt, daß Fürst Vlad diesen Beinamen deshalb erhielt, weil er der ungekrönte König dieser Hinrichtungsart war und zum Gaudium Bukarests tausende Feinde, vornehmlich Türken, «pfählen» ließ, daß er trotzdem auch heute noch in Rumänien ein gefeierter Volksheld ist, und daß das Bild, das in den diversen «Dracula»-Filmen von ihm gezeichnet wurde, historisch sicherlich falsch ist. Aber müde, wie ich nach drei Gläser «Izuika» (rumänischer Pflaumenschnaps) auf nüchternen Magen war, antworte ich nur: «Vlad Țepeș? Das war doch Dracula!»

Der Deutsche hält sich den Bauch vor Lachen: «Was? Dracula soll wieder Rumänien regieren?», schreit er, «Das ist ja besser als jeder Film! Lupescu! Haste gehört! Nach dem Iliescu kommst Du ans Ruder!»

Der «Professor» läßt sich aber nicht beirren: Vlad sei der einzige in der Geschichte Rumäniens gewesen, der ein gerechter Herrscher gewesen sei, behauptet er, und seinem Land gedient hätte. Alle anderen, ob sie nun Carol, Antonescu, Dej oder Ceaușescu geheißen hätten, seien Verbrecher gewesen und von Iliescu weiß man’s noch nicht. Aber ein neuer Vlad sei er jedenfalls nicht! Die Rezeptionistin ist bereits eingeschlafen, auch dem Herrn Lupescu fallen jetzt ständig die Augen zu, mir ist vom vielen «Tzuika» ein wenig schlecht geworden und der Deutsche wendet sich noch intensiver als vorhin dem Busen der gähnenden Juliana zu — nur der «Professor» ist noch in Fahrt: «Von Carol bis Iliescu haben alle nur Russisch Roulette gespielt!», deklamiert er, «aber verloren hat immer das Volk!»

«Och, Professorchen, was ihr hier braucht, ist ganz was anderes», meldet sich jetzt noch einmal der Deutsche zu Wort: «Richtig arbeiten, ja, richtig arbeiten müßt ihr mal lernen! Aber das bringen wir Deutschen Euch schon noch bei!»

Erst beim Frühstück erfuhr ich, wer der «Professor» war. Er sei früher einmal ein bekannter Filmregisseur gewesen, erzählte mir Nikolae, sein Assistent, aber während der letzten zwanzig Jahre habe er Berufsverbot gehabt. Jetzt habe er das Drehbuch für einen neuen Dracula-Film geschrieben — «Dracula spielt nicht Russisch Roulette». Aber bisher wollte niemand den Film finanzieren, auch der Deutsche von gestern abend nicht.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)