FORVM, No. 315/316
März
1980

Sagen Sie mir ein Ziel

„Der kleine Valentino“ und das Titanic-Prinzip

Die Hand am Hintern. Die rasselnde Kehlkopfsprechmaschine des Schofförs. Die getragene Arbeiterstatue, Die flammende Mülltonne. Die irre Alte mit der brennenden Schleppe. Die zerfallende Familie in der alten Wohnung. Fettsteiß Neokonsum in den Plattenseelokalen ... Der junge ungarische Film hat eine eigene Sprache für das realsoziale Lebensgefühl gefunden, leicht und melancholisch wie Altweibersommer schwebt die Kamera durch Häuser, Straßen, Klassen.

Die Lage der heutigen ungarischen Jugend ist das Thema des schwarzweißen Debütfilms „Der kleine Valentino“ (A kis Valentino) von Andras Jeles, der auch auf der Berlinale gespielt wurde. Und diese Lage ist so:

Ein Bursche, der Held des Films, soll Geld von seiner Firma auf die Post tragen. Eine Schrift taucht auf: „Im Augenblick kann ich dieses Geld selber brauchen.“ Er heuert ein Taxi, „Man ist bei uns höflich zu älteren Leuten“, sagt der Taxler. „Wohin? Sagen Sie mir ein Ziel!“ Schweigen. „Hast du einen Arbeitsplatz?“ — „Sie sind sehr neugierig.“

Die Szene im Herrschaftszimmer. Überständige Figuren verkaufen dem Jungen einen Ring. „Jetzt gibt mir mein Geld zurück!“ — „Meine Ahnen haben das Land 6.000 Jahre verteidigt.“ — „Es ist ein Pferderennen ...“

Die Mutter liegt krank in der öden Altwohnung herum. Gezerre mit der alten Tante: „Ich zahle kein Geld mehr für dich! Du nützt die ganze Verwandtschaft aus, ich hole den Hausmeister ...“

Der Junge im Treppenhaus, Polizei: „Ausweis! In welcher Wohnung wohnen Sie?“ Die Tante wehrt sich: Wo ist der Haussuchungsbefehl!“ — „Mit-welchem Recht?“ Die Figuren ziehen schließlich ab.

Der Junge im Hilton. „Geruhen zu befehlen ...“ Neue Klasse. Gespräch: „In. Afrika gibt es kein Fleisch. Wenn du Menschen tötest, bekommst du 2, 3 Jahre, aber wenn du ein bestimmtes Tier tötest, kriegst du 17 Jahre. Zuviele Menschen, und Tiere gibt’s zu wenig. Menschenfleisch wird gegessen, es ist Fleisch.“

Mit Freund und Auto wird zum Plattensee gefahren. Die alte Hure im Lokal hält sich an die Ausländer: „Mit Ungarn spreche ich nicht. Du glaubst du hast 600, und da kannst du schon ficken!“ Schließlich tut sie’s doch, unser Held zahlt für den andern eine Runde, wird zuletzt von den Kellnern verprügelt.

Flipperhalle, Lokalmatadore: „Wir haben das Geld gewonnen, also was willst du?“ Die Uhr wechselt ihren Besitzer. Ein kleines Mädchen, der Bursche zahlt einem andern Freund eine Runde. Gegenlicht am Gang, wogende Schaukelpferde, Schüttelkasten.

Nachtstraßenbahn, Budapest. Polizeistation. Der Junge gibt auf, er stellt sich. Man sieht’s von außen, durch die Scheibe. Song: „Vom Monde strömt Licht, vergiß mich nicht!“ Ein Polizist kauft Blumen. „Man sagt, daß auf der sinkenden Titanic das Orchester bis zum letzten Augenblick gespielt hat ... Schweigen wir darüber.“ Schlußbild: das Lokal explodiert, Figuren fliegen aus berstenden Scheiben.

Ein ungarischer Kritiker schrieb: „Die Ironie dieses Films entspringt einer grotesken Wirklichkeit“ (Kritika 1/1980). Jüngere Ungarn, die den Film gesehen hatten, nannten ihn deprimierend. Ich empfand ihn sarkastisch bis sardonisch, jedenfalls unterhaltsam. Aber freilich, wenn man dort leben muß ... Ausweglos.

Der größte Renner in Budapest ist im: Augenblick Milos Formans „Hair“: westliche Modewelle 15 Jahre später im Osten angelangt, Bärte, lange Haare (typisch, daß Forman, der tschechische Emigrant, den Film gemacht hat — bei uns will das niemand mehr sehn). Der ungarische Delegierte auf der UNO-Konferenz über Drogen in Wien sagte unlängst, in seinem Land gebe es das Problem nicht, Der wird sich noch wundern. Die Stimmung im Osten ist ein heißer Tip für Heroinhändler.

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