FORVM, No. 374
März
1985

Sanfte Gewalt

Nötigung und Strafverfolgung, Einschränkung der Meinungsfreiheit, „gute Ratschläge“ und Repressalien, aber Zensur? Bei uns doch nicht!

Am 9. April 1984 ein Fernschreiben an KONKRET, Hamburg: „Wie wir jetzt endgültig erfahren, sind die Österreicher nicht bereit, den Titel SEXUALITÄT KONKRET auszuliefern. Das Thema gleichgeschlechtliche Liebe ist dort ein so heißes Eisen, daß man es nicht anpacken möchte ...“

Ich machte auf diesen Skandal Lutz Holzinger von der „Volksstimme“ aufmerksam. Er begann zu recherchieren.

Die Auslieferung für Österreich hat der „Pressegroßvertrieb Salzburg“ übernommen. Die Gesprächspartner gaben unklare Antworten, versuchten auszuweichen, zu vertrösten. Alles was in Österreich vertrieben werde, lege man zunächst der Staatsanwaltschaft vor, dann halte man sich nach deren Empfehlungen. (Gilt das auch für „praline“, „sexy“, für „Schöner Wohnen“ und „Quick“?)

„Und was hat die Staatsanwaltschaft empfohlen?“

„Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben, bitte rufen Sie morgen wieder an ...“

Morgen — war dann alles anders. Man sprach von Mißverständnis und Irrtum, selbstverständlich werde „KONKRET-SEXUALITÄT“ in Österreich ausgeliefert. Das Heft ist ab sofort an jedem Kiosk erhältlich.

Stimmt. Die Leute haben nicht gelogen.

Allles in Butter?

„SEXUALITÄT KONKRET“ wird von einem der bedeutendsten Sexualwissenschaftler, Dr. Volkmar Sigusch, herausgegeben. Mitarbeiter des Heftes sind Autoren/innen wie (eine willkürliche Nennung einiger meiner Lieblingsautoren): Piwitt, Chotjewitz, Merburger, Amendt, Dormagen, Parnass, und viele andere.

Ich kann es nicht leiden, wenn Staatsanwälte mit ihren schmutzigen, perversen Phantasien darüber entscheiden sollen, ob ich die Gelegenheit erhalte, mich mit der neuesten Diskussion zum Thema Sexualität auseinanderzusetzen. Aber: Eine Zensur fand nicht statt. Vielleicht erst nächstes Mal.

Nach längerer Arbeitslosigkeit bekam ich wieder eine Anstellung. Als Filialleiter der Buchhandlung „Herzog“. Wie bei vielen Buchhandlungen gibt es auch dort ein „Pornokämmerchen“. Eines Tages tauchte ein dickerer, älterer Herr mit auffälligem Profil in der Buchhandlung auf, durchblätterte stundenlang vor allem die homoerotische Literatur und kaufte schließlich ein Heft. Später erfuhr ich, daß ich die Ehre hatte, den berüchtigten und einschlägig vorbestraften Martin Humer bedient zu haben. Humer erstattete Anzeige gegen die Buchhandlung. Was ihm an seinem Heft nicht gefallen hat? Ein Bild, das zwei zungenküssende Frauen darstellte. Und das ist in Österreich verboten. Nicht verboten ist die gleichgeschlechtliche Liebe. Verboten ist nur die „Werbung“ für gleichgeschlechtliche Liebe. Verboten ist also die „Werbung“ für eine an und für sich legale Sache.

Erlaubt ist aber auch die Darstellung einer Frau, die gleichzeitig vorne und hinten gevögelt wird, während sie einem Dritten den Schwanz bläst, und ein vierter Mann ihr ins Gesicht spritzt, auch wenn dies möglicherweise eine „Werbung“ für diverse Vergewaltigungsphantasien von Männern darstellen könnte.

Nun die Folgen für mich:

  1. Die Anklage gegen meinen Chef, Wilhelm Herzog, wurde eingestellt. Die Anklage gegen mich blieb aufrecht. Mein Chef wollte mir einen Rechtsanwalt zur Verfügung stellen, der mir gleich erklärte, daß ich auf keinen Fall mit einem Freispruch rechnen könne, aber er werde sich bemühen, das Strafmaß möglichst gering zu halten.
    Freunde klärten mich auf, daß die Mindeststrafe ein halbes Jahr Haft wäre. Da entschied ich mich natürlich für einen anderen Anwalt. Herzog wollte für den von mir selbst gewählten Anwalt nicht einen Schilling locker machen. Das Betriebsklima wurde unerträglich. Wir einigten uns im beidseitigen Einverständnis für die Auflösung des Dienstverhältnisses. In der Folge war ich vier Jahre lang ohne Arbeitsstelle.
    Ich hatte 6 Hauptverhandlungen zu führen und wurde schließlich freigesprochen. Das Honorar meines Anwaltes betrug S 35.000,—. Bei Herzog hatte ich ein Einkommen von ca. S 7.000,—. Aber der Anwalt hatte Einsicht für meine schlimme finanzielle Situation und ließ freiwillig S 10.000,— nach. Die Gewerkschaft der Privatangestellten überwies eine Solidaritätsspende von S 8.000,— und als der Bildhauer Alfred Hrdlicka von der Sache erfuhr, ließ er mir S 3.000,— zukommen. Für den beachtlichen Rest hatte ich natürlich allein aufzukommen.
  2. Damals arbeitete ich mit meinem Kollegen Georg Biron an einer Collage „Herr de Sade — oder die Perversion der Welt“, die sich mit den Problemen der „Perversionen“ auseinandersetzen hätte sollen. Das Stück hätte im Ensembletheater Wien aufgeführt werden sollen. Die Probearbeiten waren bereits angelaufen.
    Da wurde uns von Juristen geraten das Stück lieber nicht zu realisieren, da dies meinen laufenden Pornographieprozeß zu meinen Ungunsten beeinflussen könnte.

Behinderte ...

Im Herbst 1980 wandte sich eine Gruppe von Körperbehinderten des „Club Handikap“ an mich. Sie möchten gerne Theater spielen, hätten aber kein geeignetes Stück. Ich schrieb und realisierte mit der Gruppe das Theaterstück „Aktion Gnadentod“, das bei den Wiener Festwochen 1981 seine erfolgreiche Erstaufführung erlebte.

Selbstverständlich wollte nun unsere Gruppe erst recht an neuen Theaterprojekten weiterarbeiten.

Durch meine Beschäftigung mit den Problemen der Behinderten habe ich auch eine Reihe neuer wichtiger Fragestellungen erkannt.

Ich schrieb das Stück „Das letzte Abendmahl von Lourdes“, das sich unter anderem mit der politischen Vermarktung von Behinderten, mit den Sexualproblemen Behinderter und vor allem auch mit der Rolle der Kirche kritisch auseinandersetzte.

Wir reichten das Stück für die Festwochen 1982 ein und erhielten eine Ablehnung mit der Begründung, wir wären zu spät dran.

Für die Festwochen 1983 reichten wir daher um einige Monate früher ein und erhielten eine positive Antwort. Das Stück wäre wirklich eine ausgezeichnete Sache. Wir begannen darüber zu sprechen, wo und in welcher Form das Stück aufgeführt werden soll, ein Kostenplan wurde erstellt. Plötzlich kam eine lapidare Absage. Auf meine schriftliche Anfrage erhielt ich vom damaligen Kulturstadtrat Zilk die Antwort, das Stück wäre zu spät eingericht worden.

... keine Chance vor dem Papst

Viel später wurde mir — hintenrum — zugetragen, daß ein solches Stück kurz vor dem Besuch des Papstes in Österreich bestimmt einen Skandal ausgelöst hätte, und daher nicht aufgeführt werden hätte dürfen ... Wir reichten noch im Sommer das Stück für die Wiener Festwochen 1984 ein und erhielten bis heute nicht einmal eine Antwort.

Motto: Das Jahr der Behinderten ist vorbei. Sie haben ihre Chance gehabt.

Während unserer Arbeit am „Letzten Abendmahl von Lourdes“ wurden wir auf einen Skandal aufmerksam: Im Schloß Martheim in der Gemeinde Alkoven, Oberösterreich, wurden in der Zeit von 1940 bis 1944 unter der Bezeichnung Aktion-T4 cirka 30.000 Menschen ermordet, vorwiegend geistig behinderte Kinder. In den sechziger Jahren wurde einige hundert Meter entfernt als „Sühne“ ein Heim für geistig behinderte Kinder erbaut, das unter der Leitung des Pater Professor Erber steht. Pfleger und Pädagogen des Heimes erzählten, daß Kinder von den geistlichen Schwestern manchmal bis aufs Blut geschlagen würden, daß man sie in Zwangsjacken steckte, oftmals schlecht ernährte und so weiter. Beschäftigte, die diese Zu- und Mißstände kritisierten, hatte man gekündigt.

Unsere Gruppe organisierte zusammen mit einer oberösterreichischen Initiative eine Besucherdemonstration. Dazu entwickelten wir auch ein Straßentheater „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“ (Zitat einer Schwester). Während der Aufführung in Alkoven schrieb ein Rechtsanwalt jedes Wort mit. Aber uns geschah nichts.

Dafür gab es eine Beschlagnahme eines künstlerisch gestalteten Siebdruckplakates und eine Anzeige gegenüber der Behindertengruppe ABN (Aktion Behinderte und Nichtbehinderte) und die Beschlagnahme einer Fotoausstellung des Pädagogikstudenten Otto Anlanger. ABN konnte sich auf einen Vergleich einigen. Otto Anlanger wurde wegen seiner Fotoausstellung nach dem Paragraphen 111 (Verleumdung) zu 40 Tagsätzen zu je hundert Schillingen verurteilt.

Hannibal’sches Possenspiel

Vergangenen Herbst habe ich endlich wieder eine Anstellung bekommen. Als Buchdisponent bei HANNIBAL. Ich arbeitete mit Freude und es gelang mir rasch Umsatzsteigerungen von 30-60 Prozent zu erwirtschaften. Meine Kollegen erzählten mir, daß es in der Vergangenheit mehrmals Versuche gegeben hätte, einen Betriebsrat zu wählen, doch seien jedesmal die Initiatoren gekündigt worden.

Ich erkannte selbst einige Dinge, die mit dem herrschenden Arbeitsgesetz nicht im Einklang standen und nahm mir vor, Betriebsratswahlen einzuführen. Sehr, sehr vorsichtig. Und wirklich gab es da plötzlich von der GPA des ÖGB eine Einladung zu einer Betriebsversammlung, bei der sodann beschlossen worden war, Betriebratswahlen durchzuführen.

Ich wurde Vorsitzender der Wahlkommission und Listenführer zu den Betriebratswahlen. Nachdem die Betriebsleitung mit einer eigenen Liste scheiterte, weil sie statt den erforderlichen sechs Unterschriften nur drei zusammenbrachte und auch meine Denunzierung als Kommunisten bei den Kollegen nichts fruchtete, lud man mich zu einem Gespräch ein. Zunächst meinte ich, daß es darum ginge, die Unstimmigkeiten der letzten Wochen zu beseitigen. Aber man bot mir eine „Verbesserung der Arbeit“ an: Ich sollte einen besser bezahlten Konsulentenvertrag unterschreiben, der bedingt hätte, daß ich nicht mehr als Betriebsrat kandidieren hätte können. Ich lehnte das Angebot ab und die Chefs zauberten aus der Schreibtischlade ein vorbereitetes Kündigungsschreiben. Ich wurde sofort vom Dienst suspendiert. Trotzdem wählten mich die Kollegen mit nur einer Gegenstimme zum Betriebsratsobmann.

Ein anderer Kollege gab eine satirisch gestaltete Betriebszeitung heraus, in der auch über meinen Fall berichtet wurde. Die Zeitung hatte eine Auflage von 29 Stück und gab an „unkontrollierte Auflage von 20.000 Stück“. Brief der Geschäftsleitung der Firma Hannibal an die GPA: „... Nachdem wir jedoch eingehend die Zeitung HANNIBAL NEWS, die laut Aufdruck in einer Auflage von 20.000 Stück erschienen ist, durchgelesen haben, ist es uns nicht möglich das Arbeitsverhältnis mit Herrn Grassl wieder aufzunehmen ...“ Nachbermerkung: Die Eigentümer beziehungsweise Geschäftsführer der Firma sind Mitglieder der Sozialistischen Partei.

Als ich über Presse und Rundfunk den Skandal von der Beschlagnahme des Achternbusch-Filmes „Das Gespenst“ erfahren hatte, empfahl ich meinem Chef das Buch zum Film bei 2001 in Frankfurt einzukaufen.

Ich vertraute auf die verfassungsmäßige Verankerung der „Freiheit der Kunst“ und war der Meinung, daß sich das Publikum durch das Buch selbst eine Meinung bilden sollte, ob die Beschlagnahme des Filmes gerechtfertigt war.

Aber die Staatsanwaltschaft hatte einmal mehr den Österreichern das Nachdenken abgenommen, hatte vorgedacht und — auch das Buch beschlagnahmen lassen. Wieder einmal laufen Ermittlungen gegen mich. Sollte es wirklich auch zur Anzeige kommen, kann ich mit keiner (finanziellen Rechts-)Hilfe von meinem Betrieb rechnen ...

In diesem Sinne grüße ich alle mit einem alten Gruß der Sozialisten, mit einem herzhaften „Freiheit!“

Gerald Grassl war gewählter Betriebsratsobmann bei „Hannibal“ und wurde vom Dienst suspendiert.

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