FORVM, No. 430/431
November
1989
Salman Rushdie, The

Satanic Verses

Werden die Frauen in Mohammeds Harem „Huren“ genannt? Das Teheraner Todesurteil über Salman Rushdie beweist, daß es den Frommen zur „Verletzung religiöser Gefühle“ reicht, ein Buch nicht gelesen zu haben. War es die Absicht, den Ayatollah zu provozieren? Khomeini kommt in „The Satanic Verses“ vor, in einer idealisierten Gestalt. Er ist in der Figur des strengen Imam zu erraten, der „wie ein Stein“ im Londoner Exil lebt, filtriertes Wasser trinkt und Uhren zerschlägt, weil die Zeit für ihn eine Sünde ist.

Der Skandal, den die neupersische Menschenjagd hervorgerufen hat, wirft natürlich die Gewissensfrage auf: Wie steht es mit dem literarischen Wert? Wer sich den Roman vornimmt, darauf gespannt, Enthüllungen über den Koran oder andere Sakrilegien zu finden, wird unbefriedigt bleiben. „The Satanic Verses“, ein respektables Stück Arbeit, haben nichts Teuflisches an sich, obwohl die Metapher der gefallenen Engel einen wichtigen Platz einnimmt.

Von „Blasphemie“ kann kaum die Rede sein. Erzählt wird von Krankheiten, Katastrophen, mysteriösen Erscheinungen. Halluzinationen greifen ins tägliche Leben ein. Die Romanfiguren sind von einer Aura der Selbstgefährdung umgeben, viele „stürzen ab“, wörtlich und bildlich verstanden. Die starke Seite Rushdies sind Überraschungseffekte. Er malt in leuchtenden Farben, bringt das Abenteuerliche in die Literatur zurück und schildert eine brüchige Welt, in der alles möglich ist, weil nichts stimmt. Weder die Offenbarung des Propheten „Mahound“ (= Mohammed) noch die Sitten im Großbritannien der eisernen Lady.

Religion stellt in „The Satanic Verses“ ein poetisches Medium dar; der Islam wird kritisch, doch keineswegs gehässig behandelt. Als Hinweis auf die Eigenmacht der Schrift (und des Schriftstellers) ist die Geschichte zu lesen, wie ein Schreiber die Worte des Propheten beim Diktat verfälscht. Daß sich die Dirnen im Freudenhaus von „Jahilia“ (= Mekka) die Namen von Mahounds Gattinnen zulegen, ist eine der zahlreichen Anekdoten Rushdies.

Ein polyglotter Roman. Mix der Codes und Kulturen. Den englischen Wortschatz reichern Zusätze aus Fremdsprachen und diversen Jargons an. Wer an James Joyce denkt, wird irgendwo im Text mit einer Erwähnung von „Finnegan’s Wake“ belohnt. Poetisieren und Dämonisieren sind die Stillmittel, getragen von einer romantischen Ironie, über Abgründe gleitend. Rushdie webt ein dichtes Netz von Fabeln: absichtlich unübersichtlich. Das Rohmaterial würde für einige Super-Fernsehserien genügen. Episoden kreuzen einander, der Erzähler springt zwischen Kontinenten und historischen Epochen, ein Labyrinth dehnt sich aus, wo der rote Faden in die Irre führt.

„Führen“ und „Verführen“ scheint ein Leitmotiv zu sein. Ayesha, das schöne Schmetterlingsmädchen, sozusagen eine Märchenfigur, verspricht schlichten Mohammedanern in einem indischen Dorf, sie über Land und Meer nach Mekka zu führen. Wunder bestätigen das Wirken übernatürlicher Kräfte. Die Polizei sammelt dann die Leichen der Ertrunkenen am Strand des Indischen Ozeans ein. Überlebende behaupten jedoch, mit eigenen Augen hätten sie wahrgenommen, wie sich die Wasser vor Ayesha teilten und der Pilgerzug am Meeresboden in Richtung auf sein heiliges Ziel wanderte.

Eine Parabel, nicht übel als Vorlage für einen „Phantasy“-Film, in der sich der Ehrgeiz des Schriftstellers Rushdie spiegelt. Er testet den Leser: Wie weit folgst du mir? Ayeshas Parole an ihre gläubige Gefolgschaft lautet: „Alles wird uns abverlangt werden, alles wird uns gegeben werden.“ Nicht minder besitzergreifend ist die Haltung des Erzählers, eines Führers — oder Verführers — zu krassen Unglaublichkeiten.

Phantasie heißt hier: einen grenzenlosen Kredit beim Leser beanspruchen. Rushdies Freude an bilderreichen Übertreibungen verlangt eine Lektüre, die sich gutgläubig „bekehren“ läßt. Jedenfalls eine Kehrtwendung gegenüber jener Nüchternheit, durch die sich moderne Prosa seit Gertrude Stein auszeichnet. Schwer zu sagen, ob „The Satanic Verses“ insgesamt mehr bedeuten als einen bunten und oft fesselnden Raritätenkasten.

Der Wettbewerb mit den Suggestionen des Medienkonsums spornt den Schriftsteller Rushdie an. Abwechslungen, Wunder, extravagante Ereignisse: er versucht, die Konkurrenz auf ihrem eigenen Feld zu schlagen. Um Rang und Überleben der Literatur im „elektronischen Weltdorf“ zu behaupten, wird Schweiß & Fleiß in die kulinarische Erzählweise investiert.

Am Schluß des Romans macht sich eine Mechanik bemerkbar, die wie das Klischee eines Happy-end wirkt. Der Leser spürt, daß er im Hafen eines empfindsamen Familiendramas landet, wo sich die Serie der Ungeheuerlichkeiten in Wohlgefallen auflöst. Salahuddin Chamchawala, indischer Schauspieler in London, gibt zuguterletzt den verzweifelten Versuch auf, sich eine britische Haut anzuzüchten. Der Autor beschenkt nach 400 Seiten seinen Helden mit einer Heimkehr in die Vaterstadt Bombay, wo Chamcha sich auf seine „Wurzeln“ besinnen darf; er legt sich ins gemachte Bett, mit neuer Frau und Riesenerbschaft. Ende gut, alles gut! Man begreift ja, daß die von Himmel & Hölle geprüfte Hauptfigur eine märchenhafte Rettung verdient.

Um fair zu sein: Salman Rushdie ist kein Routinier. Er schreibt aus Selbsterlebtem, etwa vom Glanz, den die Metropole in die Dritte Welt ausstrahlt: „... die große, verfaulende, schöne, schneeweiße, erleuchtete Stadt, Mahagonny, Babylon, Alphaville“, wie das Bild Londons gleich am Anfang heraufbeschworen wird. In den Träumen europäischer Romantiker erscheint Indien als magische Ferne. Der indische Autor in England dreht es um: er illustriert die Sehnsucht des Orientalen nach den exotischen „Villayets“ des Westens. Gibreel Farishta, Filmstar in Bombay, bricht über Nacht seine Zelte ab, um einer begehrten weißen Frau auf die britischen Inseln nachzufliegen.

Morgen- und abendländische Interferenzen füllen das Buch. Epische Mischungen und Trennungen, aus denen sich fortlaufend neue Zellen bilden, erzählerische Mikro-Welten, erzeugt vom Fabulieren Rushdies. Er zieht einen Querschnitt durch die englische Gesellschaft der achtziger Jahre. Der Fluch Khomeinis verfolgt den Verfasser eines Buchs, in dem die Erfahrungen asiatischer Immigranten in einem westlichen Industriestaat anschaulich gemacht werden, mit literarischen Mitteln, jenseits der Sozialreportage.

Eine Höllenfahrt beginnt, weil Farishta und Chamchawala zufällig dasselbe Flugzeug nach London nehmen. Über dem Flachbau der Alltagswelt erhebt sich das Stockwerk des Imaginären, voll von Erzengeln und Dämonen, die das empirische Geschehen aus seiner Trivialität herausreißen. Rushdies feine Ironie (oder „Blasphemie“) ist es, auch Überirdisches im Wirrwarr des Allzumenschlichen bloßzustellen. Der Erzähler bleibt bewußt an der Oberfläche. Seine Figuren treiben dahin, nur von äußerlichen Schicksalen gepackt. Doppelbödig, nicht tiefsinnig, ist die Phantastik.

Verantwortlich für das Entsetzliche sind zwiespältige Interventionen „von oben“, keinesfalls die Beteiligten. Der Sturz der Engel, das Drama von Gut und Böse: lediglich Theaterdonner. Der Leser wird in ein aufregendes Spiel verwickelt, das der Ernst des Lebens mit dem Lustprinzip betreibt. Poetischer Leichtsinn macht den Reiz der „Satanic Verses“ aus. Die einzige Moral des Romans könnte in einer subtilen Warnung liegen: vor dem Risiko des Überschwangs und der Überhebung für den zerbrechlichen Menschen.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)