FORVM, No. 493/494
Februar
1995

Sektionschef Matzka stößt durch die Grenzen des Rechtsstaates

Manfred Matzka hat Michael Graff geklagt, weil dieser von einem »Regime der Inhumanität und Menschenverachtung und der Geringschätzung für den Rechtsstaat« bei der Behandlung von Ausländern durch das »Innenministerium und seine Erfüllungsgehilfen«‚ namentlich Matzka, gesprochen hatte (»Standard«, 24. Jänner 1995). Hier mein Gutachten.

Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer (Öffentliches Recht, Universität Wien) hat am 22. Oktober 1993 vor der Österr. Juristenkommission dargelegt, wie durch das AufenthaltsG »eine wichtige Funktion der Rechtsordnung, der Individualrechtsschutz, offenbar mit Vorbedacht beseitigt wird« und »die Sorglosigkeit und die Leichtfertigkeit, mit der der Gesetzgeber mit existentiellen Gütern bestimmter Gruppen von Menschen verfährt« gerügt. [1]

Am Vormittag hatte Sektionschef Dr. Manfred Matzka zunächst erklärt, »Rechtsanspruch« wäre »im Bereich des Migrations- und Fremdenrechts generell bedenklich und nicht zielführend«, um dann die folgenden 3 Thesen (Protokoll-Wortlaut) vorzutragen:

  • traditionelle rechtsstaatliche Verfahren müssen angesichts der Wanderungsphänomene notwendigerweise versagen; rechtsstaatliche Garantien können dabei nicht im Umfang des innerstaatlichen Niveaus gewährleistet werden; die Diskussion kann sich nicht auf juristische Argumente beschränken;
  • im Zuwanderungskontext gibt es im Bereich der Grundrechte ganz neue Probleme — wegen der Tatsache, daß es sich um Massenphänomene handelt, die über die traditionellen Grundrechtskonstruktionen nicht lösbar sind;
  • die grundrechtsorientierte Diskussion muß auf eine andere Ebene gehoben werden.

Damit hatte Matzka den Verdacht Mayers, die Beseitigung des Individualrechtsschutzes (worin Mayer einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip, eine tragende Säule der Verfassung, erblickte) erfolge im AufenthaltsG »mit Vorbedacht«, im voraus bestätigt. Dafür haben sie ihn auf die Verfasssung vereidigt?

Daß es sich bei Matzkas Thesen nicht etwa um transitorische Überlegungen handelte, sondern um eine gefestigte Denkrichtung, zeigt sein Diskussionsbeitrag zu einer Enquete des UNHCR über Flüchtlingsprobleme am 15./16. Juni 1994, wo er mehr als ein halbes Jahr später die subjektiven Rechte von Flüchtlingen in Frage stellte und ein »Sozialstaat« genanntes Konstrukt gegen den Rechtsstaat ausspielte — ähnlich wie Schmitt und Forsthoff. Matzka motivierte seine Überlegungen zur Überwindung des Rechtsstaates mit einem — angeblich aktuellen — Notstand, der von Migrationszahlen herrühre, ganz als müßte er sich dem Ansturm von weltweit angeblich 500 Millionen wanderungsbereiten Ausländern an den Grenzen Österreichs entgegenstemmen.

Dieses hysterische Notstandsgefühl mag das subjektiv gute Gewissen erklären, mit dem der objektiv gewissenlose Maßnahmenvollzug die verfassungsrechtlich gebotene menschenwürdige Behandlung sowie das Privat- und Familienleben mißachtet, indem z. B. • ein Ausländer, der seit 1986 in Wien lebt und seit 1990 mit einer österreichischen Postangestellten verheiratet ist, in Schubhaft genommen wird (Fall BBS - von einem ähnlichen Fall • berichtete der ›Standard‹, ████1994 — laut ›Standard‹ vom █████ wurde er am 28. 1. tatsächlich abgeschoben); oder

• eine Ausländerin in die Schubhaft und ihr 2jähriges Kind ins Zentralkinderheim der Stadt Wien kommt, obwohl sie seit 1991 verheiratet in Österreich lebt und ihr Mann neben seiner festen Beschäftigung Abendkurse in der HTL besucht (Fall ›Standard‹, ████1995). Die inhumane, menschenverachtende Trennung des Kleinkindes von der Mutter verletzt im Einzelfall neben dem Art 8 auch den Art 3 EMRK, der Folter verbietet und menschenwürdige Behandlung garantiert; sie ist ein Beispiel für die Folgen der Geringschätzung für den Rechtsstaat, die Mayer schon vor der Juristenkommission konstatierte und die Matzka am 15. Juni 1994 folgendermaßen wiederholt hat:

Der Rechtsstaat stößt an seine Grenzen im Migrationsbereich. Ich plädiere daher für einen anderen, sozialpolitischeren Ansatz. Ich würde bei einem solchen, funktionierenden Ansatz in Kauf nehmen, Wurscht: ich habe 100 Plätze, und wir kümmern uns um diese 100. Wenn dann der 21. kommt, dieser 21. spielt aber nicht mehr mit. Mit der jetzigen Konzeption kommen wir nicht weiter, weil das immer wieder auf Behörden...[ebene — ? G.O.] führt und die lösen überhaupt nichts. [...] Ich bin aber dafür, daß man das Entweichen und die freie Bewegung deutlich einschränken kann.

Eine Gesamtänderung der Verfassung witterte Norbert Gerstberger, Richter am Jugendgerichtshof, fragte nach Plänen für eine Volksabstimmung und erklärte, »ich würde dann ungern diese Verfassung weiter vertreten, auf die ich einen Eid abgelegt habe«.

Den besonderen Zynismus in Matzkas Denken zeigt seine grauenhafte Fehlleistung: wo er mit dem Gedanken spielt, daß er »100 Plätze« »habe«, und sagt: »Wurscht«, schon »wenn dann der 21. kommt, dieser 21. spielt nicht mehr mit«. Real unterschlägt man die vergessenen 80 Plätze, wenn PKK-Mitglieder in die Türkei, Deserteure in die Türkei und nach Serbien abgeschoben werden, gegen jedes Refoulment-Verbot mithin, in den nahezu sicheren Tod.

Aber schon die Abschiebung von Ausländerinnen, die seit längerem in Österreich leben, womöglich hier verheiratet oder gar hier geboren sind, ist auch insgesamt völkerrechtswidrig, weil der Bruch eines Vergleiches, den die Republik Österreich vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte 1985 — im Falle eines damals seit 10 Jahren in Österreich befindlichen und mit Frau und Kind hier lebenden Ausländers — geschlossen hat. Bestandteil dieses Vergleichs ist ein Runderlaß des Innenministeriums, Zl. 79030/10-11/14/85 vom 14. 11. 1985, worin es u. a. [2] heißt:

Bei der beabsichtigten Erlassung von Aufenthaltsverboten gegen Fremde, insbesondere Gastarbeiter und deren Familienangehörige, ist bei der Abwägung der gegebenen öffentlichen Interessen gegenüber den privaten Interessen des Betroffenen ein großzügiger Maßstab anzulegen. Es ist hiebei zu berücksichtigen, daß Artikel 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, BGBl. Nr. 210/1958 u. a. auch den Anspruch jedermanns auf Achtung seines Privat- und Familienlebens statuiert, wenn auch in Abs. 2 dieses Artikels Ausnahmen im Öffentlichen Interesse durchaus vorgesehen sind.

Ein solcher »großzügiger Maßstab« wird seit einiger Zeit in Österreich nicht mehr angelegt, sondern im Namen eines ominösen öffentlichen Interesses das private Interesse am Schutz des Familienlebens von Ausländern als »geringfügig« vernachlässigt, selbst wenn zuvor der Verfassungsgerichtshof einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt hatte, weil gerade kein zwingendes öffentliches Interesse an der Abschiebung vorliege. Anzumerken ist, daß die Europäische Kommission für Menschenrechte dem Vergleich zugestimmt hatte, weil dieser

nicht nur eine Lösung des Einzelfalls beinhaltet, sondern auch allgemein dafür Sorge trägt, daß die innerstaatliche Praxis in Übereinstimmung mit Art 8 EMRK gebracht wird.

Die jetzt wieder eingerissene Mißachtung der somit gegenüber dem Europarat eingegangenen Verpflichtung wirft auch hinsichtlich der EU Fragen der Vertragstreue und Vertragsfähigkeit der Republik Österreich auf; diese werden von der Regierung zu beantworten sein: Beschwerden sind & werden noch eingebracht.

[1Rechtsgrundlagen der Integration von Fremden, AnwB 1994/1, 6 ff

[2Vollständig bei Wilfried Ludwig Weh, Aufenthaltsverbot und »Familienleben«, ZfV 1986/3, 303 ff (305)