FORVM, No. 230/231
März
1973

Sex und Sprache

E. B., einer der originellsten Köpfe in unserem Lande, hat ein Wörterbuch über „Sex im Volksmund“ verfaßt (vgl. Rezensionsteil dieses Heftes). Das Vorwort dazu drucken wir ab, da das Buch angesichts seines hohen Preises nur wenige Leser finden wird.

Ein Wörterbuch des Verbotenen

Manche unserer großen Lexikographen haben sich an die Flanke des Themas herangepirscht, vor allem Avé-Lallemand, Schmeller und Kluge, aber der Frontalangriff mußte warten, bis die Germanistik liberaler geworden war als zu Kluges Zeiten. Ich betrachte das Wörterbuch als Belegmaterial der These, daß sich im Vokabular, in der Syntax und in der Grammatik des Verbotenen ein sprachschöpferischer Prozeß erhalten hat, der uns im Schriftdeutschen verlorengegangen ist, und daß die Sprachlogik der sexuellen Unterwelt die einzige Therapie darstellt, die unserem senilen Hochdeutsch helfen kann, die Virilität des Mittelhochdeutschen wiederzufinden.

Für mich war das Buch jedenfalls mehr als eine philologische Studie: es war die Überwindung eines Traumas. Als Kind war ich einem von mir zutiefst verehrten Lehrer, Professor Erich von Hornbostel, nach Cambridge gefolgt, als er aus Gewissensgründen — nicht als Verfolgter, sondern freiwillig, aus Pflichtgefühl und um eine kollektive Schuld tilgen zu helfen — Berlin für immer verlassen hatte. So gab ich also als knapp Achtzehnjähriger meine Eltern, meine Freunde, die heimische Sicherheit der Muttersprache auf, um in einem fremden Lande eines neues Leben, ja strenggenommen das eigentliche Leben zu beginnen.

Als Professor Dr. Dr. Gladenbeck und Heinz Schmidt mich 27 Jahre später nach Deutschland zurückriefen, wiederholte sich der Prozeß des Umlernens und Neuanfangens; wie ich mich damals in England gefühlt hatte, so fühlte ich mich nun in Deutschland: als Fremder. Um nach acht Büchern in englischer Sprache und mehr als tausend Beiträgen für wissenschaftliche Zeitschriften in England und Amerika mein erstes Buch auf deutsch zu schreiben, mußte ich jetzt die Sprache meines Geburtslandes zum zweitenmal erlernen. Und da das Buch ein Lexikon [1] war, gab es kaum einen Aspekt der Sprache, mit dem ich mich nicht täglich von neuem auseinandersetzen mußte, vor allem aber mit dem Konflikt zwischen geschriebenem und gesprochenem Deutsch. Ein Vergleich mit der semantischen Revolution, die Großbritannien im vorigen Jahrzehnt erlebt hat, mag erklären, was ich meine.

Demokratie des Akzents

Dort hatte ich den Begriff semantocracy (Semantokratie) geprägt, um die Dynamik des britischen Gesellschaftssystems philologisch darzustellen. Wer während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in England mit einem gewissen Tonfall sprach, ein gewisses Vokabular beherrschte und eine bestimmte Art der Akzentuierung verwandte, der gehörte zur „Elite“. Es war unwichtig, ob er arm oder reich, adliger oder bürgerlicher Abstammung, klug oder dumm war — solange er in einer gewissen Weise sprach, gehörte er „dazu“. Man wußte beim ersten Gespräch, innerhalb der ersten paar Sekunden, ob der andere „einer von uns“ war oder nicht. Da die Beweglichkeit von Zunge und Kehlkopf sich mit den Reifejahren einzuschränken beginnt, kann man einen solchen Akzent natürlich nur in der Jugend erwerben. In Wahrheit drückte die Solidarität der sprachlichen Elite also nichts anderes als die Würdigung einer bestimmten Kinderstube und einer bestimmten Erziehung aus. In diesem Sinne stimmte sie völlig mit der These der orthodoxen Psychoanalytiker überein, daß die Grundfesten des Charakters in der Jugend gelegt werden und der Mensch deshalb nach seinen Studentenjahren nur noch begrenzt formbar ist.

Genau wie diese Überzeugung aber langsam unter dem Einfluß von Reich, Fenichel und Fromm zu wanken begann, so änderte sich die britische Gesellschaft unter dem Einfluß der Beatles. Während der fünfziger Jahre schrieb ich eine wöchentliche Spalte in der englischen Musikzeitschrift Melody Maker. Um den englischen Imitationen der amerikanischen Rhythm-and-Blues, Rock-and-Roll und Skiffle Bands einen Namen zu geben, erfand ich das Wort beat music, das sich mittlerweile in vielen Sprachen eingebürgert hat. Ein paar jugendliche Amateurmusiker im Hafenviertel von Liverpool übernahmen den Begriff, fügten ihn mit dem Wort beetle (Käfer) zusammen und machten sich mit dem Wortspiel einen Namen, den die Welt nicht so bald vergessen wird. [2]

Als der Liverpool-Akzent der Beatles zum erstenmal auf Schallplatten erklang, schauderte es die einen, und die anderen lachten. Aber bald verging ihnen das Lachen, denn es war der Anfang vom Ende der britischen Semantokratie; nun begann die Revolution der Vulgärsprache, die das gesamte Gefüge einer auf public schools aufgebauten Elite innerhalb weniger Jahre zusammenbrechen ließ. Der Cockney-Akzent von Carnaby-Street, das Pseudo-Amerikanisch der disk jockeys, die Hippie-Sprache der Piratensender, das Kleinbürgerenglisch der Twiggy und ihrer Nachfolger durchbrachen das Monopol der herrschenden Klassensprache. Es wäre naiv zu erwarten, daß in einer bürgerlichen Gesellschaft wie der des gegenwärtigen England über Nacht eine perfekte ökonomische Demokratie aufkommen könne. Aber zum erstenmal in hundert Jahren herrscht heute auf den Britischen Inseln eine Demokratie des Akzents.

Esperanto des Wirtschaftswunders

Dies war der Hintergrund, vor dem ich die deutsche Sprache sah, als ich 1960 aus England kam, und dies war der Vergleichsmaßstab, mit dem ich die beiden Sprachen messen mußte. Im Gegensatz zu der semantischen Revolution der Briten fand ich in der Bundesrepublik noch immer eine Diktatur der herrschenden Klassensprache vor. Noch immer versucht die deutsche Umgangssprache, ihre Regional- und Klassenstruktur zu verleugnen. Aus Angst, daß man ihn für ungebildet halten könne, wenn er das Kolorit seines Geburtsortes, seiner Schule und seines Gewerbes durchschimmern ließe, versucht der Bundesbürger, sich in jener Eunuchensprache auszuweisen, die er „Hochdeutsch“ nennt. Was dabei herauskommt, ist das Esperanto des Wirtschaftswunders — eine Sprache, die die Gegensätze zwischen arm und reich fein säuberlich im Gemeinnenner des Klischees auflöst. Nicht nur der Respekt für das Individuelle geht dabei verloren, sondern auch jene Tradition der deutschen Umgangssprache, deren Stärke im Ausdruck des Sensorischen liegt. Denn hier, in der Volkssprache, findet man auch heute noch jene schöpferischen Redewendungen, die das Leben der Sinne erhellen.

Davon hätte ich aber bestimmt nichts gemerkt, wenn mein erstes deutsches Büro nicht zufällig in jenem Distrikt von Nachtklubs, Animier-Lokalen und Strip-Schuppen gelegen hätte, den der Volksmund den Nuttenmarkt getauft hatte. Was ich da um mich herum zu hören bekam, war so viel vitaler als das sterile Hochdeutsch der Büros und Universitäten, daß ich mich entschloß, die Gunstgewerblerinnen und ihre Anhänger zehn Jahre lang systematisch zu interviewen, um ihren Wortschatz zu sammeln, ehe er verlorenging. Nach sechs Jahren hatte ich rund 10.000 Zettel in meiner Kartei und begann nun, mich durch den Berg der 500 Dialektlexika, Vagabundenwörterbücher und Umgangssprachführer hindurchzufressen, der sich seit der Reformation aufgetürmt hat (Luther selbst schrieb das Vorwort zu einem dieser „Rotwelsch-Vokabularia“).

Wer sich einer solchen Tortur unterzieht, stößt bald auf erstaunliche Widersprüche zwischen den Wörtern, die er selber gesammelt hat, und denen, die er in den Werken akademischer Lexikographen findet. Spricht man Diebe, Händler, Kunden oder Gauner auf das Vokabular an, das in den Wörterbüchern der sogenannten Händler-, Diebes-, Kunden- oder Gaunersprache niedergelegt ist, so entdeckt man, daß fast all diese Wörter, wenn sie überhaupt je existiert haben, heute ausgestorben sind, während sich das tatsächliche Vokabular dieser Stände fast ausschließlich aus Wörtern zusammensetzt, die zwar im Duden stehen, aber von der Unterwelt in einem anderen Sinne benutzt werden.

Dies bedeutet nicht, daß die heutige Unterweltsprache weniger schöpferisch sei als die gestrige. Im Gegenteil: während das Rotwelsch unserer Väter sich zum größten Teil auf zigeunerische, jiddische, sorbische und andere dem Außenseiter unverständliche Wurzeln bezog und im übrigen das Schriftdeutsch nach einfachen Regeln umbog (Scheinling = Auge, Kralling = Hand, Gickerling = Fingernagel), geht die heutige Geheimsprache, besonders die der Zuhälter, in ihrer ironischen Form der Gesellschaftskritik viel tiefer. Und all dies, gerade weil sie normale Wörter der Umgangssprache benutzt. Wie sie diese Wörter benutzt, darin liegt der Witz.

Denn das Faszinierende an dem Verhältnis zwischen Schriftdeutsch, Umgangsdeutsch und Unterweltsdeutsch ist eben dies: die Umgangssprache, zumindest die der Gegenwart, verhält sich zum Schriftdeutschen in genau der gleichen Weise, wie die Unterweltsprache sich zur Umgangssprache verhält: sie arbeitet weniger mit Neuprägungen als mit Neudeutungen. In beiden Fällen unterscheidet sich das idiomatische Vokabular nicht wesentlich vom Hochdeutschen. Der Unterschied liegt vielmehr in der Sinngebung.

Nun ist es die These dieses Wörterbuchs, daß die schöpferischste Verformung des Hochdeutschen, die wir in der heutigen Umgangssprache finden, ihre Methodik und Denkform der modernen Unterweltsprache entlehnt hat: so, wie die heutige Unterweltsprache das Umgangsdeutsch umdeutet, so deutet das Umgangsdeutsch in seiner schöpferischen Form heute das Hochdeutsch um. Metaphern werden ihrer Metaphorik entkleidet und mit ironischer Scheinnaivität „wörtlich“ genommen. Vokabeln dagegen, die im Hochdeutschen einen eindeutigen Sinn haben, werden auf unbeabsichtigte Doppeldeutigkeit hin untersucht und dann in ihrem latenten zweiten Sinn benutzt. Das Sitzungszimmer ist dann nicht mehr der Raum, in dem der Aufsichtsrat tagt, sondern das Zimmer, in welchem man stets sitzt, also das Klosett. Der Ständer ist nicht mehr das Gestell, auf das man Hüte oder Mäntel hängt, sondern der Körperteil, der steht, also der Penis erectus.

Da fast alle Wörter mehr als eine einzige Deutungsmöglichkeit besitzen, haben sie in der Unterweltsprache und den ihr entlehnten Formen der Umgangssprache denn auch prompt mehr als eine Bedeutung. Wenn für ein einziges Wort in diesem Wörterbuch vier, fünf oder mehr Ausdeutungen angegeben werden, dann ist es also weder der Schludrigkeit des Autors noch einem Mangel an Klarheit und Entschlußfreudigkeit zuzuschreiben, sondern stellt ein strukturelles Charakteristikum dieser Art der Sprachverformung dar. Wichtig ist, daß diese oder jene Bedeutung eines gegebenen Wortes heute modern und morgen unmodern sein mag, daß gestrige Bedeutungen morgen aber wieder im Umlauf sein können. Wer das Tempo dieser Sprachentwicklung kennt, weiß, daß manche der neuesten Eintragungen bereits wieder aus dem Sprachgebrauch verschwunden sein werden, ehe dies Buch im Vertrieb sein kann.

Versucht man, die Tradition dieser Art von Volksmetaphorik historisch zu ergründen, so trifft man auf das paradoxe Phänomen, daß die Zeiten des Friedens und Wohlstands — und auch die gesellschaftlichen Schichten, die am meisten vom Frieden und Wohlstand profitieren konnten — die kärglichste Ausbeute sprachlicher Schöpfung lieferten, während jene Situationen, in denen die Gesellschaft den härtesten Zerreißproben ausgesetzt war, die reichste Ernte eingebracht haben: Krieg, Bürgerkrieg, Klassenkampf, Konflikt zwischen arm und reich, alt und jung, Mann und Frau, Polizei und Verbrechen.

Von all diesen Spannungsfeldern hat das zwischen den Geschlechtern den reichsten Ertrag an sprachlichen Erfindungen gezeugt. Um so erstaunlicher ist es, daß unser Volk bisher kein einziges Buch mit der Thematik des gegenwärtigen Werkes hervorgebracht hat. Daß es so lange gedauert hat, bis sich jemand dieser Aufgabe annahm, besagt vielleicht weniger über die Fähigkeit der Germanisten als über die Vorurteile unserer Kultur.

Wir haben das Vokabular des Sexus tabuiert und uns damit der eigentlichen Potenz unserer Sprache begeben. Die Sterilität des heutigen Schriftdeutsch beruht auf der Entmannung unserer Umgangssprache. Unsere Dichter schreiben wie Eunuchen, die junge Avantgarde nicht minder als die Papas. Selbst die Sexliteratur in den Illustrierten, die „Aufklärungswerke“ der Versandhäuser und die Romane der Erotikaverleger sind in einer Kastratensprache verfaßt, die den Leser zweifeln läßt, ob diese Autoren je mit einer Frau im Bett gewesen sind.

Was ich in meinem Buch darzustellen versuche, ist also etwas anderes als das, was Küpper oder Wolf mit ihren philologisch vorbildlichen Werken angestrebt haben. Dies ist weder ein Wörterbuch der deutschen Umgangssprache noch ein Wörterbuch des Rotwelschen, sondern eine Auswahl von Wörtern und Redewendungen, die das Überleben und Fortwirken einer bestimmten schöpferischen Volkstradition unter Beweis stellen will. Der Unterschied liegt nicht nur in der Thematik, sondern auch in der Methode. Küpper beschränkt sich ausdrücklich auf Vokabeln, die im Umlauf sind, während ich ältere Redewendungen einschließe, die mein Argument belegen. Wolf schließt ältere Wörter ein und beschränkt sich bei der Gegenwartssprache auf Vokabeln, die bereits im Druck erschienen sind. Meine eigene Entscheidung liegt halbwegs zwischen diesen beiden Arbeitsmethoden.

Ich glaube, daß man sich bei der Gegenwartssprache auf die Wörter beschränken sollte, die man selber gehört hat. Nur wenn es sich um den Wortschatz der Vergangenheit handelt, sollte man Gedrucktes zitieren. Ich glaube auch, daß es heute zwecklos, vielleicht sogar irreführend ist, das Datum eines jeden Begriffes festlegen zu wollen, indem man das erste Auftauchen des Wortes in einem gedruckten Werk angibt. Manchmal vergehen Jahre, ja Jahrzehnte, bis ein Umgangswort zum erstenmal gedruckt wird. Oft ist es dann bereits veraltet. Der Laie glaubt aber meist, daß die Daten, die in den Wörterbüchern der Umgangssprache, der Dialekte und der Unterweltsprache auftauchen, den Zeitpunkt der tatsächlichen Benutzung, also des Sprechens, darstellen. Da mein Wörterbuch sich vor allem an den Nichtphilologen wendet, bin ich bei meinen Datierungen so vorsichtig wie möglich vorgegangen und habe bei Wörtern, die heute im Umlauf sind, darauf verzichtet, Ursprungsdaten zu geben, weil dies ja bestenfalls doch nur Schätzdaten sein können. Auch halte ich es für gefährlich, den regionalen Umlauf eines jeden Wortes anzugeben. Anmerkungen wie „berlinisch“, „süddeutsch“, „bayrisch“ oder „wienerisch“ mögen in der Vorkriegszeit noch gewisse, wenn auch damals schon begrenzte Verläßlichkeit gehabt haben. Aber heute, im Zeitalter der zweiten Völkerwanderung, wo kaum ein Deutscher noch in dem Ort wohnt, in welchem er geboren ist, haben sich Redewendungen mit solcher Geschwindigkeit über das ganze Bundesgebiet verbreitet, daß man nicht mehr von ortsgebundenen Vokabeln sprechen kann.

Man denke zum Beispiel an die Invasion der Wiener Zuhälter und Prostituierten in das Gebiet um St. Pauli, die in den Jahren 1964-1966 die Umgangssprache der Reeperbahn so grundsätzlich verändert hat, daß man heute nicht nur zahllose Wiener Ausdrücke im Hamburger Raum hört, sondern auch in Wien nach der Rückkehr der Mädchen und ihrer Beschützer Hunderte von hamburgischen Prostituiertenausdrücken feststellen konnte. Heute ist die deutsche Zuhältersprache eine Art Esperanto geworden, das jeder im Milieu versteht — von Flensburg bis Basel, von Aachen bis Klagenfurt. Ein Wort wie Maidlelecker, gestern noch in der Bedeutung „Schürzenjäger“ aufs alemannische Sprachgebiet begrenzt, ist heute in der Bedeutung „Cunnilinctor“ sogar in die DDR eingedrungen.

Die Spracharmut der Schriftsteller und politisch Linken

Wenn ein Mann endlich so schreibt, wie er spricht — Ansätze hiervon bei Brinkmann, Chotjewitz, Fichte —, dann ersticken die wenigen Brocken der Volkssprache doch bald wieder im Geckentum einer modisch verfremdeten Prosa, einem Salat von Queneau-Gemüse und roman nouveau à l’huile. Dabei wäre es durchaus ungerecht, den Deutschen vorzuwerfen, sie seien puritanischer als andere Völker. Im Gegenteil, hier steht es schlimmer mit den Engländern und Amerikanern. Aber wir leiden an einer eigentümlichen Verflechtung zweier Überzeugungen, die einander widersprechen: einerseits der Überzeugung, daß die literarische Verwendung der Volkssprache „naturalistisch“ und somit altmodisch sei; andererseits des schulmeisterlichen Glaubens der älteren Generation, daß die Schreibsprache der Dichter und Philosophen ipso facto wertvoller sei als die Sprechsprache der „Ungebildeten“.

Dieser Glaube geht auf einen Grundirrtum des bürgerlichen Denkens zurück: auf die Illusion, daß „Bildung“ eine Art Flaschenzug sei, mit dem sich jeder über das Niveau der „Masse“ heraufkurbeln könne, um damit automatisch eine Sonderstellung als besserer Mensch einzunehmen. Das klappt nicht. Der „bessere Mensch“ muß unter anderem auch Talent und Kreativität besitzen. Dies sind aber keine Privilegien der Gebildeten. Talent läßt sich weder durch Erziehung noch durch Fleiß erwerben; Kreativität läßt sich nicht durch Bildung ersetzen. Im Gegenteil, jene Einkerkerung in die Denkklischees des bürgerlichen Lebens, die wir Bildung nennen, vernichtet nur allzuoft die Ansätze natürlicher Intelligenz. Wer einer sogenannten höheren Erziehung entgangen ist, kann deshalb oft von Glück sprechen. Jedenfalls hört man von Schiebern und Zuhältern, von Nutten und Call-Girls oft originellere Redewendungen als von manchen Professoren. Die Beweglichkeit der Umgangssprache, ihre Unabhängigkeit von Regeln und Modellen ermöglicht Gedankensprünge und Abkürzungen des Denkweges, die denen für immer verschlossen bleiben, deren Gedanken in den Kanälen der Schriftsprache fließen. Kaum je in der Geschichte der deutschen Sprache hat das Schriftdeutsch, die Tagessprache, uns mehr am unabhängigen Denken gehindert als heute. Kaum je dagegen war die Nachtsprache so aktiv, so schöpferisch wie in unserer Zeit. Es ist deshalb nicht als Provokation gemeint, wenn ich die Hoffnung äußere, daß dieses Wörterbuch des „unsittlichen“ Vokabulars unseres Volkes das Denkvermögen der Intellektuellen, die Schreibsprache der Dichter und vor allem den Dialog derjenigen beflügeln möge, die die Kunst der Konversation nicht als Überbleibsel des 18. Jahrhunderts, als Spielzeug einer von produktiver Arbeit freigestellten Minderheit betrachten, sondern als beste und bleibende Unterhaltung des Menschen. Möge diese Kunst auch das Leben künftig sozialistischer Kulturen lebenswert machen.

Ich spreche vom Sozialismus, weil niemand diese Mahnung ernster nehmen sollte als die ApO, deren barbarisches Vokabular — vide den Terminus ApO — ihr größter Feind im Kampf um die Zukunft ist. Niemand spricht heute schlechteres Deutsch als diejenigen, die unsere Gesellschaft verbessern wollen. Wer so wenig Respekt für die Sprache des Volkes zeigt, kann nicht hoffen, es zu erobern. Wer die ärgsten Manieriertheiten der bürgerlich-akademischen Sprache so kritiklos übernimmt, hängt noch immer am Schürzenzipfel des Bürgertums. Wer so unfähig ist, seine Gedanken in der Sprache des Volkes auszudrücken, verspielt sich die Sympathie des Volkes, das er gewinnen will.

[1Ernest Borneman, Lexikon der Liebe, München 1968 (die beiden ersten von sechs vorgesehenen Bänden).

[2„Beat“ (ausgesprochen: „biet“), hatte ursprünglich die Bedeutung „Rhythmus“ und wurde von mir ausschließlich in diesem Sinne benützt. Die Bedeutung „beat generation“ (ausgesprochen: „bet“), die „geschlagene Generation“, kam später. Das Wort „the beats“, die Geschlagenen (ausgesprochen: „bet“) oder auch die Beatifizierten, Glückseligen (ausgesprochen: „bie-eits“), wurde bewußt von den Vorläufern der Hippies in dieser Doppelbedeutung geprägt und benutzt.

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