FORVM, No. 448-450
Mai
1991

Slowakei — gibt es denn so was?

Unser Autor, dessen Austreibungsgeschichte im Dezember-Heft ordnungsgemäß von Adi Wimmer (im vorigen Heft) und Wilfried Daim (auf den vorigen Seiten) angegriffen wird, antwortet auch diesmal nicht, sondern erzählt uns von einem unbekannten Land, wo Unbekannte wohnen.

Würde man den kürzesten, der idealen Luftlinie folgenden Weg zwischen London und Bukarest, Rom und Moskau, Hamburg und Istanbul, Rom und Danzig, Venedig und Warschau, Paris und Odessa, Oslo und Athen, Berlin und Belgrad usw. wählen, so müsste man auf halbem Wege ein Land durchqueren, das, wie erstaunlich dies auch klingen mag, zu den am wenigsten bekannten Regionen Europas gehört: Die Slowakei. Schon einmal gehört? Schon gewußt, daß es dieses geographische und auch geopolitische Zentrum unseres alten Kontinents je gab und gibt, das man fälschlich als Tschechei bezeichnet? Gegen Westen, Norden und Osten vom Karpatenbogen umrandet und geschützt, nach Süden — durch den Donaustrom getrennt in die Pannonische Ebene übergehend, von mehr als fünf Millionen Einwohnern besiedelt, gehört das 49.000 km2 große oder kleine — die Maßstäbe sind eben relativ — Gebiet zu den von mehreren Zivilisationen geprägten Ländern Europas. Die Kelten waren da, die Germanen, die Römer sogar, die Slawen, Avaren, Magyaren, die Mongolen, die Ruthenen im Osten des Landes, die Walachen, die Juden, die deutschen und italienischen Kolonisten besiedelten oder zogen durch dieses geschichtlich dramatische Gebiet, um mehr oder weniger Spuren ihrer zivilisatorischen Tätigkeit und Kultur zu hinterlassen, die den Charakter und die Ethnik des slowakischen Volkes mitgeprägt hatten. Hier stießen — und endeten — oft widersprüchliche Interessen verschiedener Völkerschaften aneinander, jene vom Westen und jene vom Osten und jene vom Süden, und, in nicht so bedeutendem Ausmaß, auch jene vom Norden.

Hier, an der südöstlichsten Grenze des Landes, endeten die Expansionsgelüste der Germanen, mit einigen Ausnahmen auch die Eroberungszüge der asiatischen Reitervölker, der Avaren, der Hunnen, der Magyaren, der Mongolen, der von Süden anstürmenden Türken. Hier fanden schicksalsschwere Schlachten statt, die die Geschichte des ganzen Kontinents beeinflußten. Die Slowakei wurde zum Durchzugsgebiet der Erobererarmeen, zum Schlachtfeld, zum Kerngebiet wiederholter Aufstände der Kuruzzen, die Russen zogen hier durch, um den Aufstand der Magyaren gegen die Habsburger zu liquidieren, die Russen stießen im ersten Weltkrieg auf ostslowkisches Gebiet vor, ehe sie von der k.u.k. Armee zurückgedrängt wurden, die Russen zogen durch die Slowakei während der Verfolgung der nazistischen Wehrmacht, für die Deutschen war das Land Aufmarschgebiet, während des Polen- und später des Russlandfeldzuges zog ein Teil der Armee Napoleons während seines Rußlandabenteuers durch die Slowakei, auch während der Auseinandersetzung des Empereurs mit Österreich blieb das Gebiet der Slowakei nicht verschont, die Türken drangen wiederholt tief in slowakisches Gebiet ein, das sie zum Teil für längere Zeit besetzten.

Gibt es denn ein zweites, so oft durch Kriegsgeschehnisse, Invasionen und Aufstände geplagtes und verwüstetes Land in Europa? Kaum erholt, schon wieder neuen verheerenden Prüfungen ausgesetzt. Mit Ausnahme des kurzlebigen, kaum ein Jahrhundert dauernden großmährischen Königsreiches, nie frei, nie souverän, stets zu einem Objekt der Geschichte degradiert. Selbst vom Gründer des modernen slowakischen Nationalismus als geschichtslos charakterisiert. Die slowakischen Nationalisten finden dieses Charakteristikum geringschätzig und beleidigend, sie schreiben seine Urheberschaft dem Präsidenten der ersten tschechoslowakischen Republik Masaryk irrtümlich zu, in ihrer Beschränktheit kaum wissend, daß der Autor der „Geschichtslosigkeit“ Ľudovít Štúr, der Rebell gegen die Unterdrückung der Slowaken durch den überpotenten ungarischen Nationalismus in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, zu den wichtigsten geschichtlichen Persönlichkeiten der modernen slowakischen Geschichte gehört.

Geschichtslos war das Land ja nie, schon der Dramatik seines Schicksals wegen. Die Slowaken können mit keinen ruhmreichen Königen prahlen, sie führten keine Eroberungszüge, keine ruhmreichen Schlachten, schon die Bezeichnung „slowakische Nation“ ist neuzeitlichen Ursprungs, im Mittelalter unbekannt, in ihrer Urgeschichte nannten sie sich Slowienen, was damals wohl als Sammelbegriff der Slawen des pannonischen Raumes galt. Der Begriff Slowake wurde erst in der Zeit der Geburt des modernen Nationalismus verallgemeinert und — im beschränkten Maße — auch europaweit bekannt.

Aber sie waren da. Seit der Völkerwanderung siedeln sie in dem durch den Karpatenbogen und die Donau abgegrenzten Gebiet. Sie trotzen den Unbilden der Zeiten, beharrten auf ihrem Existenzrecht, verteidigten ihr eigenständiges Dasein, bebauten das eher unwirtliche bergische Land, sensibilisierten ihre eigenständige Kultur, verteidigten sie gegen alle Versuche sie zu zerstören. Nicht nur das. Trotz brutalster Entnationalisierungsmethoden seitens der ungarischen chauvinistischen Politik waren sie sogar imstande, die ethnischen Minderheiten der deutschen und italienischen Enklaven aufzufangen, sie wohl auf freiwilliger Basis — durch geschichtliche Entwicklung — zu slowakisieren, die eigene Ethnie durch befruchtende Einflüsse der „Gäste“, wie man fremde, vorwiegend deutschstämmige Kolonisten bezeichnete, zu bereichern. So entstand im Laufe der Jahrhunderte ein breite Vielfalt der Kultur, vorwiegend Volkskultur, wie man sie im sonstigen übrigen Europa nur selten vorfinden kann. Die Dramatik der Geschichte und der durch ständige Verwüstungen verursachten Armut des Bauern- und Hirtenvolkes erlaubte keine Blüte der Hochkultur, kein Florenz und kein Prag; das bescheiden Wenige an Prunkbauten, ob religiöser oder weltlicher Art, dürfte eher als Kunst der Slowakei denn als slowakische Kunst zu bezeichnen sein. Die Galerie der bildenden Künste trug der Slowake am eigenen Körper, seine Konzertsäle waren die Täler, Wiesen und Wälder, seine Suche nach der Schönheit äußerte sich in der ästhetisch hochwertigen urbanen Gestaltung der Siedlungen, die vorwiegend aus Holzhäusern bestanden, aus dem in der Slowakei zugänglichsten Baumaterial gefertigt. Die reichen Bergbau- und Handelsstädte waren ja vorwiegend von deutschen Kolonisten gegründet und besiedelt.

Nun wäre es falsch zu glauben — behauptet wird es oft — daß die Slowakei ein Land der Hirten und Bergbauern sei. Die Bedeutung „Oberungarns“, wie die übrige Welt die Slowakei zu bezeichnen pflegte, lag nicht nur in der Wichtigkeit seiner geostrategischen Lage als Durchzugs- und Schlachtfeldland, als Barriere gegen West und Ost und Süd, die Slowakei spielte im europäischen Kontext eine wichtige, eigene Grenzen überschreitende Rolle als Rohstoffreservoir, reich an Holz, Buntmetallerzen. (Vor der Entdeckung Amerikas gehörte die Slowakei zu den wichtigsten Gold-, Silber- und Kupferproduzenten Europas, ein Jahrhundert lang besaßen die Fugger das Monopol der Buntmetallförderung und -erzeugung in der Mittelslowakei.) Später gehörten die Eisenerzvorkommen im slowakischen Erzgebirge zum Rückgrat der ungarischen Eisenindustrie. Dieser Reichtum führte zur Entstehung blühender Handelsstädte entlang der Durchzugsstraßen in nordsüdlicher und ostwestlicher Richtung.

Das slowakische Volk selbst, politisch, wirtschaftlich und kulturell unterdrückt, entrechtet und ausgebeutet, profitierte von den Schätzen des Landes am wenigsten. Oberungarn galt als Land der Rohstoffgewinnung, die Finalbearbeitung fand außerhalb des Landes statt. Die Beherrscher des Landes, die Magyaren, die die Slowakei ein ganzes Jahrtausend als rechtlose Peripherie betrachteten und auch behandelten, gingen in ihrer Anmaßung soweit, daß sie bis zum Ende ihrer Herrschaft in der Slowakei für das slowakische Volk nur eine pejorative Bezeichnung „tót“ kannten. (Das Wort ist türkischen Ursprungs und bedeutet: der Untergebene, der Rechtlose.) Im Umgang mit Slowaken begnügten sie sich nicht einmal damit, sie breiten die Pejorativität der Bezeichnung noch weiter aus, indem sie von „Butatóten“, dummen Rechtlosen sprachen. Die ungarische Geschichtsschreibung akzentuierte — und ab und zu tut sie es bis heute — die kulturelle, zivilisatorische Überlegenheit der Magyaren über die Slowaken, ohne Rücksicht darauf, daß sie als nomadisierendes Reitervolk ein bereits auf der damaligen Höhe der europäischen Zivilisation stehendes und blühendes Reich erobert und mit brutaler Gewalt zerstört und unterdrückt hatten. Die Überheblichkeit des ungarischen Nationalismus scheute vor keiner Verdrehung der Geschichte, nicht einmal davor zurück, daß sie das Großmährische Reich als nie existent, oder, was wohl noch absurder klingt, falls existent, dann in der Gegend des südslawischen Flusses Morawa angesiedelt sahen. Wohlvergessend, daß die Mehrzahl der Bezeichnungen der Objekte und Geräte, die für den Hausbau und in der Landwirtschaft gebräuchlich waren, bis heute slowakischen, im Handwerk deutschen Ursprungs sind.

Die ungarischen chauvinistischen Politiker des vorigen Jahrhunderts haben dem slowakischen Volke nicht nur das Recht auf nationale Eigenständigkeit, sondern auch das der nationalen Minderheit aberkannt. Sie träumten von der Nation der 30 Millionen Magyaren und taten alles, um dieses Ziel durch brutale Magyarisierung zu erreichen. Sich im neunzehnten Jahrhundert zu slowakischem Volkstum zu bekennen war riskant, sogar gefährlich. Die ehemals slowakischen Namen der Städte, Dörfer und Regionen wurden magyarisiert, die Amtssprache war ausschließlich ungarisch, sogar die Beschriftung der Geschäfte und Werkstätten durfte nur in ungarischer Sprache ausgehängt werden, wer es auf slowakisch wagte, der riskierte die Entziehung der gewerblichen Lizenz. Keine slowakischen Schulen, keine kulturellen Institute, keine politische, kulturelle, wirtschaftliche Repräsentanz, keine nennenswerte Presse, kein unbehindertes Versammlungsrecht, kaum Möglichkeit der Bildung der slowakischen Intelligenz, wozu auch, da bei Bewerbung um ein öffentliches Amt jeglicher Art der Bewerber sich als Mitglied der magyarischen Nation zu deklarieren verpflichtet wurde.

Nur ein paar Geistliche, nur ein paar Dichter, nur ein paar Wissenschaftler wagten es, die immer sparsamer flackernde Flamme des slowakischen Volksbewußtseins mit rebellischem Patriotismus zu nähren. Rebellische, klagende, schöne hitsüchtig klingende Volkslieder — es gibt in der slowakischen Folklore zehntausende davon — und Literatur und des Pfarrers Predigt hielten das immer mehr bedrohte Nationalbewußtsein mit Müh und Not aufrecht. Die Welt wußte nichts von diesem Drama, wieso auch, nicht einmal der Begriff Slowakei ist in ihr Bewußtsein eingedrungen. Anstatt „Oberungarn“ wird die Slowakei in engelhafter Unkenntnis der Dinge im Westen Europas als Tschechei bezeichnet. Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es fast soweit, die Lernsprache in allen Schulen einschließlich der Volksschulen war ungarisch, die Amtssprache war ungarisch, die Umgangssprache im Mittelstand vorwiegend ungarisch, laut Statistik gab es nicht ganz 3.000 mutige Männer akademischer Bildung, die es gewagt haben, sich als Slowaken zu deklarieren, der Untergang einer europäischen Nation schien nahe zu sein. Hypothetisch betrachtet, wäre es nicht zum Zerfall des österreichischen Kaiser- und Königreiches gekommen, gäbe es heute, 63 Jahre nach der Trennung der Slowaken von Großungarn, wohl kein zusammenhängendes slowakisches Sprachgebiet mehr, die Slowaken wären zu einer schwindenden Minderheit abgesunken. Die Reste des slowakischen Volkstums würden zu den Kurden Europas. Dies ist mehr als nur eine Vermutung.

In Restungarn blieb eine starke slowakische Minderheit, ihre Zahl wurde auf über 300.000 geschätzt. Die ist binnen sechs Jahrzehnten fast total verschwunden. Heute leben in Ungarn nicht mehr als 10.000 Slowaken, die Mehrheit wurde magyarisıert.

Zum Vergleich: Der Süden der Slowakei ist von starken ungarischen Minderheiten besiedelt, es gibt gemischte Gebiete dort, aber auch Ortschaften, die fast rein ungarisch sind. Laut letzter Volkszählung leben in der Tschechoslowakei eine halbe Million Magyaren. Ihre Zahl steigt, ihre kulturellen Institutionen, die Volks- und Mittelschulen, die Fachschulen, die Zeitschriften, der Verlag, das Theater, die Folklore, Musik- und Laientheaterensembles sind vom Staat überproportional großzügig unterstützt und subventioniert, sogar jetzt, nach der sanften Revolution, wo die slowakischen Zeitschriften und kulturellen Einrichtungen ohne finanzielle Unterstützung seitens des Staates um ihr Überleben zu kämpfen haben, hält man die Subventionierung der ungarischen Bildungs- und Kulturorganisationen aufrecht, wohl wissend, daß sie im kommenden System der Marktwirtschaft keine Überlebenschance hätten. Die ungarische Minderheit ist im Parlament der Föderation und auch in dem der Slowakischen Republik genügend stark vertreten, um die Rechte ihrer ungarischen Wähler wahren zu können, die Meistzahl der Ortschaften in dem von Ungarn bewohnten Gebiet der Südslowakei ist nicht nur in mehrheitlich ungarischen Gemeinden von neugewählten ungarischen Bürgermeistern und Gemeinderäten geführt und verwaltet. Sicherlich verläuft nicht alles reibungslos, es gibt nationalistisch geschürte Spannungen, die bis zu separatistischen Tendenzen reichen, aber im großen und ganzen leben im slowakischen Süden die Slowaken und Magyaren friedlich korrekt nebeneinander und miteinander, es kam öfters vor, daß slowakische Wähler einem ungarischen Kandidaten auf den Bürgermeisterposten ihre Stimme gaben — und umgekehrt. Man kennt sich ja, man respektiert und toleriert die Probleme und die Haltung des anderen. Hätte man — dies rein hypothetisch — solche Toleranz im umgekehrten Sinn geübt, wäre es nicht unbedingt notwendig gewesen, das Staatsgebilde des habsburgischen Kaiser- und Königreiches zu zerschlagen.

Die Kurzsichtigkeit der Wiener und Budapester Politik, das Unvermögen, diesen Staat aus völkischer Sicht umzustrukturieren, auf der Basis Gleicher unter Gleichen, mußte naturgemäß zur totalen Trennung des Vielvölkerstaates führen. Aus slowakischer Sicht war die Gründung der Tschechoslowakischen Republik, die Trennung von der ungarischen Krone die einzige und letzte Chance zu überleben.

Die Trennung ging nicht ohne Spannungen vor sich. Die Magyaren verloren durch sie — nicht nur in der Slowakei — wichtige, von nichtungarischen Völkerschaften bewohnte Gebiete, die sie jahrhundertelang beherrscht, unterdrückt und ausgebeutet haben. Sie wollten sich damit lange Zeit nicht abfinden (bis heute nicht ganz). Im Jahre 1919 überfielen die Roten Garden Bela Kuns die Slowakei, drangen tief in das slowakische Gebiet, mit der Absicht, das Land zurückzugewinnen. Nach dem Münchner Abkommen, im Einvernehmen mit Hitler, annektierte Budapest für die Dauer des Krieges die von der ungarischen Minderheit bewohnten Gebiete der Südslowakei — auch solche, wo mehrheitlich Slowaken lebten. Die Magyaren trieben die dort lebenden Slowaken, die es ablehnten, sich als Mitglieder der ungarischen Nation zu bekennen, auf brutale Weise aus.

Nach dem zweiten Weltkrieg scheiterte der Versuch in der Südslowakei, die ungarische Minderheit gegen die in Ungarn lebenden Slowaken auszutauschen. Man benannte diese Aktion ungerechterweise als „Reslowakisierung“. Sie entsprach eher den Revanchegelüsten. Für kurze Zeit wurden die in der Slowakei verbliebenen Magyaren mehrerer Bürgerrechte verlustig, das Pendel schlug in die entgegengesetzte Richtung, die Slowaken unterlagen dem Rausch des Nationalismus, übten Vergeltung an dem „tausendjährigen Feind“, mehrere Jahre gab es keine ungarischen Schulen, die ungarischen Namen der Ortschaften wurden in ziemlich plumper Weise „slowakisiert“, man verhielt sich gegen die im slowakischen Süden gebliebenen Ungarn ganz so, wie seinerzeit die Magyaren gegenüber der slowakischen Nation.

Interessanterweise war es der Sieg der Kommunisten in beiden Ländern, der zur Befriedung der südslowakischen Grenze führte. Man übte sich, beiderseits, in „proletarischem Internationalismus“. Dies war eines der wenigen Positiva, die der Kommunismus beiden Nationen brachte. Der beiderseits chauvinistische Haß wich der Anerkennung der politischen Realität. Man anerkannte die Notwendigkeit, so gut es geht miteinander auszukommen.

Es gibt erste Versuche, die tausendjährige Geschichte der beiden Völker kritisch zu überprüfen, das geringschätzende „Tót“ ist der Anerkennung der Existenz des slowakischen Volkes gewichen, der nationale Extremismus ist auf beiden Seiten nur auf eine unrepräsentative Minderheit beschränkt, wir sind Nachbarn, wir sollen, ja müssen versuchen, unsere Beziehungen in zivilisierter Weise zu pflegen und auszubauen. Natürlich gibt es Spannungen und es wird auch weiterhin welche geben, aber sie sind durch einsichtige Politik und tolerantes Verhalten doch zu meistern. Man liebt sich nicht, warum sollte man es auch nach so unheilvollen historischen Erfahrungen, man traut einander auch nicht ganz, aber der beiderseitige blinde, durch extremen Nationalismus geschürte Haß ist dem beiderseitigen Respekt gewichen, der Toleranz, der humanitären Sensibilisierung. Heute würde wohl niemand unter Ungarn die herabschätzende Behauptung laut auszusprechen wagen, die „Tóts“ stammten von Schweinen ab, wie es im vorigen Jahrhundert noch im ungarischen Parlament zu hören war. Und die ebenfalls herabschätzende Gegenthese, die Urmagyaren hätten rohes Fleisch unter ihren Pferdesatteln „weichgeklopft“, wird in den slowakischen Schulen auch nicht mehr verbreitet ... Man agiert weniger emotionell, mehr sachlich ...

Die Slowakei im Jahre Zero, nach der Trennung von der ungarischen Krone: Alles, was man unternahm, unternehmen mußte, um das Volk zu erheben, um es zu einer modernen Nation aufzubauen, war neu, nie vorher Dagewesenes. Mit Ausnahme der von der Budapester Regierung im vorigen Jahrhundert verbotenen „Matica slovenská“, einer kulturellen Institution, die als Bollwerk gegen die brutale Magyarisierung gegründet wurde, und mit Ausnahme der immerhin erstaunlich hochgradigen Literatur gab es nichts. Keine Schulen, keine Theater, keine wissenschaftlichen Institute, keine Lehrer, keine Polizisten, keine Beamtenschaft, keine elementare Infrastruktur. Die Landwirtschaft war vernachlässigt, die Industrie, wie bescheiden auch, in der Krise.

Am Anfang aller dieser Dinge standen die Tschechen. Es waren meist tschechische Freiwillige, Soldaten und Offiziere der aus Deserteuren gebildeten Exilarmeen, Mitglieder der militanten Kampforganisation Sokol, die einen hohen Blutzoll im Kampf um die Austreibung der roten Horden Bela Kuns, also der endgültigen Befreiung der Slowakei, gezahlt haben. Es waren tschechische Professoren in den Mittelschulen und an der neugegründeten Universität, die bei den Anfängen der Bildung einer slowakischen Intelligenz maßgebend beteiligt waren. Es waren tschechische Techniker, Direktoren, Kaufleute, Gendarmen, Verwaltungsbeamte, Richter, Künstler, Schauspieler, die beim Aufbau der modernen Slowakei mithalfen. Natürlich hätte sich diese Entwicklung auch ohne deren Hilfe vollzogen, aber es hätte viel zu viel Zeit gekostet. Und die hatte das in fast allen Hinsichten rückständige Land nicht zur Verfügung.

Dies verlief nicht reibungslos. Die tschechischen Nationalisten haben die Slowaken herabschätzend angesehen und auch behandelt. Prag sah in der Slowakei eine Art von Kolonie, die Möglichkeit einer Erweiterung ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten, einen erweiterten Markt, ein erweitertes Staatsgebiet, und erweiterten Einfluß nicht nur im Inneren des Staates.

Viele Tschechen sträubten sich dagegen, die Slowaken als ein gleichwertiges, gleichberechtigtes Volk zu respektieren. Es gab auch unter den Politikern eine verbreitete Richtung, die den Slowaken sogar das Recht auf Eigenständigkeit aberkannten, die Slowaken seien eben keine Nation, sondern der anderssprachige Zweig des großtschechischen Stammes, ein geschichtsloses Land und Volk, das man mit Nachsicht und hochnäsiger Toleranz behandeln muß. Die Tschechen übernahmen dabei die Rolle des älteren, erfahrenen, mündigen Bruders. Es gab nicht sehr viel, was die beiden Völker historisch verband, die Tschechen waren dem starken Einfluß der Deutschen ausgesetzt, umschlungen vom deutschen Element mußten sie sich oft unter sehr schwierigen Bedingungen immer aufs Neue behaupten, um nicht unterzugehen.

Die Slowaken hatten unter der tausendjähriger Vorherrschaft der Magyaren gelebt. Es gab ja schon in den letzten vier Jahrhunderten enge Verbindungen zwischen Tschechen und Slowaken, zweier um ihre Nationalität bangender und kämpfender Völker, aber fast ausschließlich auf kultureller Ebene. Diese war nicht stark genug, um zu Änderungen der tristen Verhältnisse, unter denen beide Völker, die Slowaken mehr als die Tschechen, litten, zu gemeinsamem Vorgehen und einem Zusammenschluß zu führen. Böhmen und Mähren waren industriell und ökonomisch das höchst entwickelte Gebiet der Monarchie, die Slowakei in den letzten zwei Jahrhunderten das rückständigste. Die religiöse Bigotterie des slowakischen Katholizismus mußte gesetzmäßig mit der religiösen Lauheit und Indifferenz der zum Katholizismus mit Gewalt zurückbekehrten Tschechen kollidieren. Sehr bald kam es zu Spannungen jeglicher Art. Die Slowaken fühlten sich von Prag bevormundet, ihr Traum von Eigenstaatlichkeit wurde durch diese Bevormundung als unvollkommen, ja unerfüllt empfunden. Ihr Schwanken zwischen nationaler Überheblichkeit und dem Minderwertigkeitsgefühl einer kleinen, von der Welt kaum beachteten Nation mußte zur Entfremdung beider Völkerteile führen. Die Tschechen warfen den Slowaken Undankbarkeit vor, die Slowaken den Tschechen Wortbruch und herabschätzende Behandlung. Der Ruf nach kultureller, wirtschaftlicher und politischer Autonomie der Slowakei, in einem in Pittsburg von Masaryk unterzeichneten Vertrag zwischen der tschechischen und der slowakischen im Exil lebenden Repräsentanz, blieb von Prag unerhört. Die Slowaken waren laut Prag noch nicht „reif“, ihre eigenen Dinge aus eigener Kraft zu gestalten und zu verwalten.

Was am Anfang als echte Hilfe von slowakischer Seite betrachtet und auch anerkannt wurde, zeigte sich mit der Zeit als Bremse der slowakischen nationalen Bestrebungen. Zehntausende Tschechen — Fachleute, Intellektuelle, Lehrer — hatten in der Slowakei neue Existenzen aufgebaut, ja eine neue Heimat gefunden. Aber das dynamische Wachstum eben der von den Tschechen geförderten slowakischen Intelligenz machte diese Hilfeleistung nach und nach vermeidbarer. Es gab, bereits nach zehn Jahren des gemeinsamen Weges, slowakische Professoren, Hochschullehrer, Techniker, Justizbeamte, Künstler, Akademiker aller intellektuellen Richtungen. In der Zeit der großen wirtschaftlichen Weltdepression standen sie mit ihren Diplomen vor der Frage, wo und wie sie mit ihrem Fachwissen auch unterkommen könnten. Die bereits in vielen Ämtern und Berufen etablierten Tschechen standen dem Ausbau der Existenz der slowakischen Akademiker und Fachleute im Wege. Was sollten aber diese Tschechen, die sich in der Slowakei bereits beheimatet fühlten, tun? Wo sollten sie hin? Zurück in die Tschechei, wo sie zur Existenzlosigkeit verurteilt waren? Und die neue, in so vielen Bereichen überhaupt erste slowakische fachmännisch ausgebildete Intelligenz? Was sollte die mit ihren Diplomen und Dekreten und ihrem Wissen anfangen, da alle Posten, die sie anstrebten, bereits für lange Zeit belegt waren? Seitens der Slowaken wuchs der nationale Radikalismus, nicht immer, aber doch auch berechtigt. Es war noch nicht der Ruf nach „Los von Prag“, man strebte danach, die Verwaltung und Entwicklung des Landes in eigene Hände zu bekommen.

Mit der dynamischen Steigerung des intellektuellen Potentials wuchs auch das oft übertriebene Selbstbewußtsein der Slowaken. Sie kommen auch ohne die Kuratel des älteren Bruders aus, sie sind als Nation modern und existenzfähig geworden. Der Dank für das Engagement der Brudernation blieb aus, wich dem Gefühl von einer — wiederum nicht immer gerechterweise — ablehnend betrachteten Bevormundung.

Die Krise, die zum Bruch führte, kam von außen. Nach der Prager Kapitulation vor dem Münchner Diktat, nach der Annexion der Sudetengebiete durch Hitler, kam es zu der sogenannten Arbitrage, die die Angliederung der von der ungarischen Minderheit bewohnten Gebiete der Südslowakei an Ungarn zur Folge hatte. Die Slowaken sahen in dieser Amputierung einen Verrat der Tschechen. Das von Hitler, der Böhmen und Mähren schlucken wollte, mit Wohlwollen betrachtete und unterstützte „Los von Prag“ wurde brisant. In der Tat, die slowakischen nationalistischen Extremisten hatten sich in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen mehrmals an Hitler gewandt, in ihrer politischen Beschränktheit und Unerfahrenheit kaum ahnend, daß sie dadurch einen aktiven Beitrag zum Ausbruch der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs leisteten. Hitler hat ihren „Hilferuf“ nur allzugerne erhört, er hat unter anderem die Annexion der Tschechei mit dem Ruf der Slowaken nach Eigenständigkeit begründet. Er könne, sagte er, an den Grenzen seines Großdeutschen Reiches keine Unruheherde dulden.

Die Euphorie der Slowaken über die Erfüllung des Traumes von einem souveränen slowakischen Staat war fast komplett. Sie fand unter Verkennung oder Nichtbeachtung der Umstände statt, unter welchen es geschah. Die Slowakei, der Slowakische Staat, wurde in ein faschistisches Staatgebilde umstrukturiert, mit allen Attrıbuten, die dieses Charakteristikum umranken. Eine katholisch-faschistische Partei, ein Führer, ein vom Parlament verabschiedeter, nach dem Muster der Nürnberger Rassengesetze kompilierter Judenkodex, der die Vernichtung des Judentums in der Slowakei zur Folge hatte, die aktive Teilnahme der slowakischen Verbände an Hitlers Polenfeldzug, später an dem Überfall auf die Sowjetunion, die Verfolgung der Liberalen, Andersdenkenden, der Zigeuner, der ukrainischen Minderheit im Osten des Landes, das Bekenntnis zum hitlerschen Nationalsozialismus, die Bildung paramilitärischer Parteiverbände nach dem Muster der SS, dies alles gehörte zum faschistischen Gedankengut und zur faschistischen Praxis. Der slowakische Staat lieferte sich durch seine aktive Teilnahme am Hitlerkrieg und durch die zahlreichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Gefahr aus, zu den Verlierern des Krieges gezählt zu werden. Daß dies zuletzt doch nicht geschah, ist nicht nur den politischen Ränkespielen der Siegermächte zu verdanken, sondern vor allen Dingen der Sowjetunion.

Stalin sah in der Erneuerung der Tschechoslowakei die Möglichkeit, seinen Einflußbereich bis zur deutsch-tschechischen Grenze zu erweitern. Dazu brauchte er die gemeinsame Grenze mit Böhmen und Mähren, der das slowakische Gebiet im Wege stand. Stalin hat, wohl aus diesem Grunde, alle separatistischen Bestrebungen der slowakischen Antifaschisten strikt abgelehnt. Da er keine Möglichkeit zur Annektierung der Slowkei sah — unter slowakischen Antifaschisten gab es diesbezüglich Wünsche und Pläne — wählte er eben diesen Umweg, um Westeuropa an die Pelle zu rücken. Dies sogar im Einklang mit den Vorstellungen der westlichen Alliierten, die die Wiederherstellung der vor Hitler existierenden Grenzen in Europa zu ihrem Ziel proklamierten.

Und es gab noch einen anderen Grund, weshalb die Slowakei, als treue, ja bis zum Finale treueste Verbündete Hitlers glimpflich davonkam, nämlich die Haltung der Slowaken selbst. Diese hatten nach der emotionsgeladenen Euphorie über die Gründung des ersten slowakischen Staates in der Geschichte (das Großmährische Reich konnte ja nur sehr bedingt als solcher gelten) bald erkannt, daß dies der Weg zum Untergang sein könnte. Die Ernüchterung erfaßte die selbe Mehrzahl der Bevölkerung, die den Slowakischen Staat wenige Jahre zuvor mit Halleluja begrüßt hatte. Die antifaschistischen Bewegungen — es waren mehrere — in der Slowakei fingen sehr bald, nur wenige Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion, an, auch militärisch aktiv zu werden. Es wurden bereits im Jahre 1942 die ersten Partisanengruppen gegründet, sonderbarerweise in der Westslowakei. Die Partisanenbewegung, die rasch ansteigende Popularität der KP, die Unzufriedenheit der Armee mit der Politik der Regierung, dies alles führte zum Ausbruch eines spontanen Volksaufstandes, zu dessen Organisatoren die Kommunisten, die Partisanen und die Armeeführung gehörten. Zwei Monate leistete die aufständische Armee den Deutschen erbitterten Widerstand. Es war ein spontaner Aufstand gegen den slowakischen Klerikofaschismus (alle Macht im Lande lag in den Händen der katholischen Kirche und ihrer Repräsentanten, der Staatspräsident war der Pfarrer Tiso, im Staatsrat und im Parlament hatten Geistliche das Sagen), gegen die deutschen Okkupanten (die es im Lande erst nach dem Ausbruch des Aufstandes gab) und für die Erneuerung der Tschechoslowakischen Republik. Durch diesen Aufstand hat das slowakische Volk seine politische Reife, moralische Erneuerung und demokratische Besinnung mehr als demonstriert, es hat für diese Werte gekämpft. Man muß bedenken: die Slowakei wurde durch den Krieg unmittelbar nicht in Mitleidenschaft gezogen, hatte wirtschaftlich vom Krieg profitiert; die Wirtschaft florierte, es gab kaum ein anderes Land im Hitlerischen Machtbereich, wo sich der Krieg eher positiv auf den Lebensstandard auswirkte, es gab einen regen Außenhandel, auch die wirtschaftliche und sogar die kulturelle Infrastruktur hatten Fortschritte gemacht. Die slowakischen Separatisten von heute berufen sich in ihrem Ruf nach einem souveränen Slowakischen Staat auf eben diese Konjunktur, außer acht lassend, daß es eine Kriegskonjunktur war und daß die Slowakei unter anderen Umständen für ihren Kriegswohlstand aus politischen und militärisch-strategischen Gründen teuer zu zahlen gehabt hätte.

Der Aufstand, der auch von den Alliierten als Aufstand für die Tschechoslowakei bewertet wurde, hat zu einer sonderbaren Haltung der Sieger gegenüber dem slowakischen faschistischen Staat — der mit Hitler eng verbunden war — geführt. Der Fall Slowakei wurde aus den Nachkriegskonferenzen der Siegermächte ausgeklammert. Es gab diesen Staat, der, immerhin, diplomatische Beziehungen mit vielen Staaten der Welt, unter anderem mit der Sowjetunion gepflogen hatte, nicht, es gab nur die von Hitler okkupierte Tschechoslowakei. Dies führte zu dem Paradoxon, daß am Tisch der Sieger auch Vertreter des slowakischen Volkes ihren Platz fanden, als Mitglieder der Delegation der erneuerten CSR.

Die Slowaken, durch den Aufstand selbstbewußter geworden, erwarteten von dem erneuerten Staat einen Prestigeausgleich mit den Tschechen, sie verlangten Garantien, daß sie den Status eines gleichberechtigten Teils der gemeinsamen Republik garantiert bekamen. Statt dessen hat der kommunistische Führer Gottwald — Böhmen war zu dieser Zeit noch von den Deutschen besetzt — dem slowakischen Volk eine „Magna Charta“ versprochen.

Sie war also wieder da, die Überheblichkeit der Tschechen gegenüber dem jüngeren, für unmündig gehaltenen Bruder. Nicht Gleichberechtigung, sondern „Magna Charta“ — was im Klartext hieß: Regiert wird in Prag und aus Prag; die der Prager Staats- und Parteiführung untergebene Regierung sollte vom Wohlwollen der zentralistischen Regierung abhängig werden. Sie wurde es auch, trotz verschiedener politischer Zustände in den beiden Teilen des Staates.

Während in Böhmen und Mähren die Kommunisten als stärkste politische Partei aus den Wahlen hervorgingen, hatte die KP in der Slowakei eine erschütternde Niederlage erlitten, der Block der Demokraten fast eine Zweidrittelmehrheit der Wählerstimmen für sich gewonnen, eine klare Absage an den Kommunismus.

Der Februar 1948 wird bis heute — durch ungenaue Kenntnisse — als kommunistischer Putsch bewertet. Er war es nicht, formell haben die Kommunisten den verfassungsmäßigen Weg zur Allmacht nicht verletzt, die Machtübernahme erfolgte auf ruhigem Wege, sanktioniert vom Staatspräsidenten, der Gottwald im Amt des Ministerpräsidenten bestätigte. Die slowakische politische Repräsentanz wurde bei den grundlegenden strukturellen Änderungen des Staates zu einer sozialistischen Statistenrolle verurteilt, in einer vom kommunistischen Totalitarismus beherrschten Republik. Die slowakische politische — nach dem Jahre 1948 nur noch kommunistische — Repräsentanz wurde zu einem Haufen von Befehlsempfängern und geist- wie gedankenlosen Jasagern degradiert. Soweit sie nicht in das Bild der klassenbewußten Revoluionäre paßte, wurde sie politisch liquidiert, in politischen Monsterprozessen zu hohen Haftstrafen verurteilt, durch unqualifizierte Dummköpfe und sogar Psychopathen — beide Worte wurden mit Bedacht gewählt — ersetzt. Die Slowakei lebte wieder von fremder Herrschaft Gnaden. Der totalitäre Terror wurde zuerst in der Slowakei ausprobiert, die ersten politischen Prozesse fanden in Bratislava statt, desgleichen die durch sie begangenen Justizmorde. Die Folge war Angst. Auf die haben sich die neuen Herren beider Länder verlassen, durch sie wurden ihre Machtpositionen gefestigt und ausgebreitet. Die Folgen dieser düsteren Jahre der Insanity werden beide Völker noch lange zu spüren haben, das moralische Desaster war total.

Immerhin waren es die Slowaken, die Intellektuellen, meist Kommunisten, die sich als erste der gesetzlosen Gewalt widersetzt haben. Zuerst zaghaft und halbherzig, später immer offener und dreister. Um die Wochenzeitschrift des Schriftstellerverbandes, „Kultúrny zivot“, bildete sich eine Gruppe von risikofreudigen Publizisten und Schriftstellern, die mit immer akzentuierterer Kritik die morschen Verhältnisse im Lande anprangerten. Sie pochten an die verkalkten Strukturen des dogmatischen Totalitarismus, verlangten die völlige Demokratisierung des politischen und öffentlichen Lebens, prangerten die Willkür der Parteiführung an und belebten die alten Parolen von der Gleichberechtigung beider Völker. Sie wollten mehr als Autonomie, sie trachteten nach einer Umwandlung des Staates in eine föderative Republik.

Unter den Intellektuellen entstand ein Streit um die Priorität der Umstrukturierung. Was war wichtiger, die Demokratisierung, die auch die Frage der Föderalisierung gesetzmäßig beinhaltet hätte, oder die Föderalisierung unter Duldung der kommunistischen totalitären Allmacht? Immerhin, dieser „zweite slowakische Aufstand“ wurde zum Vorkämpfer des Prager Frühlings, dessen Frühling auch die volle, durch die Verfassung garantierte Föderalisierung beinhaltete. Das Ende des Traumes kam jäh, während einer Augustnacht, durch Niederwalzung der Souveränität des Staates mit Sowjetpanzern. Die Föderation beider gleichberechtigter Völker blieb auf dem Papier erhalten, wurde aber nicht praktiziert, das ist in totalitären Machtverhältnissen, in denen der Gesetzgeber zugleich straflos zum Gesetzesbrecher werden kann, nicht möglich.

Sonderbarer-, ja sogar erstaunlicherweise hat die Föderalisierung des Staates die Slowaken in ihren politischen Bestrebungen zufriedengestellt und pazifiziert. Sie hatten ja den Staatspräsidenten, den Kollaborateur mit der sowjetischen Okkupationsmacht Gustav Husak. Die Flamme der Rebellion wurde diesmal in Prag geschürt. Passiver Widerstand der Bevölkerung, aktiver der zahlreichen Dissidenten und die Charta 77 fanden in der Slowakei nur geringfügigen Widerhall. So kam es, daß die sanfte Revolution die Slowaken unvorbereitet fand, sie wurden, wie schon öfters, zum Objekt der das Land überrollenden Geschichte. Entschieden wurde in Prag. Erst als entschieden wurde, hinkte Bratislava nach. Und dies ziehmlich konzeptionslos.

Hier sind die Wurzeln der neuesten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Völkern zu suchen. Die Parole „Los von Prag“ wurde von einer unrepräsentativen, aber sehr laut agierenden Minderheit von Populisten und politischen Strebern wieder entstaubt. Die Verhandlungen um einen neuen Geist und eine neue Form der Föderation verlaufen äußerst schwierig und teilweise riskant. Die schweigende Mehrheit in der Tschechei und auch in der Slowakei ist gegen die Trennung, nur balanciert sie zwischen zwei Ängsten — die alte ist noch nicht überwunden, die neue, über die nahe Zukunft mit ihren unvermeidbaren Härten, ist allgegenwärtig und wirkt sich paralysierend auf das öffentliche Engagement und die bürgerliche Initiative aus. Der unbedingt benötigten Stabilität der neuen Demokratie ist dieses Verhalten kaum dienlich. Das Nachhinken der Slowaken, ob in der gemeinsamen föderativen Staatsordnung, ob „los von Prag“ droht unter bestimmten Umständen von längerer Dauer zu sein.

Immerhin hat die Welt das bis dahin unbekannte Land doch noch entdeckt. Die Auftritte der politischen Marktschreier in Bratislava gingen — per Fernsehen — durch die Welt.

P.S. Unlängst habe ich im Kurier die Würdigung eines oppositionellen „tschechischen“ Priesters, des heutigen Bischof Korec gelesen. Korec ist Slowake.

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