FORVM, No. 226/227
Dezember
1972

Sowjetunion: bürgerlicher Staat ohne Bourgeoisie

Probleme der Übergangsgesellschaft

Was sind Übergangsgesellschaften, welche Entwicklungslinien lassen sich nachzeichnen, von welchen Widersprüchen werden sie.geformt und was sind ihre Perspektiven? Die Frage nach dem Charakter der Übergangsgesellschaften: Gesellschaftsformationen auf dem Weg zum Sozialismus sind theoretisch und praktisch von Bedeutung. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus steht solange auf der Tagesordnung der Geschichte, als es eine politische Arbeiterbewegung und eine revolutionäre marxistische Theorie gibt.

Im folgenden Text wird keine Analyse der spezifischen Formen des Überganges angeboten oder weitreichende Begriffklärung vorgenommen. Aus praktischen Gründen beschränkt sich dieser Aufsatz auf die Sowjetunion und versucht nur eine Gliederung verschiedener Ansätze. Die Relevanz gesellschaftlicher Verhältnisse in Kuba, China oder der DDR bleit vorerst ausgeklammert und der Diskussion vorbehalten.

Grundsätzlich gibt es drei Arbeitsthesen in der Kritik derSowjetgesellschaft, die in der marxistischen Theorie entwickelt wurden:

  1. „Staatskapitalismus“;
  2. „bürokratischer Kollektivismus“;
  3. „bürokratisch deformierter Arbeiterstaat“.

ad a) Die These vom Staatskapitalismus liegt in einer historischen und einer aktuellen Form vor. In den zwanziger Jahren haben die „ultralinken“ Theoretiker der KAPD (Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands), die holländischen Rätesozialisten Gorter und Pannekoek, in Italien Bordiga und in Deutschland Karl Korsch (ab 1926) diese These vertreten.

Der KAPD zufolge ist der kapitalistische Charakter des ersten Arbeiterstaates eine notwendige Stufe. Das trete in der „Neuen Ökonomischen Politik“ klar hervor:

Die russische Revolution war von vornherein ein Kompromiß zwischen zwei Revolutionen: der proletarischen des Industrieproletariats und der bürgerlichen des Bauerntums ... Die Ereignisse in Sowjetrußland beweisen praktisch, daß Rußland zunächst die Etappe des Kapitalismus durchschreiten muß ... Die Sowjetregierung steht also unmittelbar vor der historischen Aufgabe, dem zur Entfaltung drängenden Kapitalismus in Rußland mit allen Mitteln Bewegungsfreiheit und Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen. Mit der Anerkennung der Forderungen des Bauerntums nach freier Produktion und freiem Handel und den außenpolitischen Konzessionen hat die Sowjetregierung aufgehört, ... eine Regierung des Proletariats zu sein ... Das russische Proletariat hat damit bereits seinen Staat aus den Händen verloren ... Die Sowjetregierung, durch die wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands gezwungen, den Kapitalismus ins Land zu bringen, wird damit selbst zum Repräsentanten des Kapitalismus ...

Die Sowjetregierung muß zu einer Regierung über und gegen die Arbeiterklasse werden, nachdem sie offen auf die Seite des Bürgertums getreten ist ... Dieser Zustand wird nicht lange dauern; die Kommunistische Partei Rußlands wird sich spalten müssen ... Indem der dritte Weltkongreß die Führung der proletarischen Internationale dem russischen Staat und seinen Führern übergab, verriet er die proletarische Weltrevolution an das Bürgertum ... Die Dritte Internationale ist für die proletarische Weltrevolution verloren. Sie befindet sich ebenso wie die Zweite Internationale in den Händen des Bürgertums ... Daher wird die Dritte Internationale in Zukunft sich im Rahmen ihrer Stärke und Kraft immer dort bewähren, wo es sich um den Schutz des bürgerlichen Staates Rußland handelt; sie wird aber immer und überall dort versagen, wo es sich um die Förderung der proletarischen Weltrevolution handelt. Ihre Handlungen werden eine lange Reihe fortgesetzten Verrates an der proletarischen Weltrevolution sein.

(Aus den Leitsätzen der Kommunistischen Arbeiter-Internationale 1922.)

Die Kritik Korschs 1927 richtet sich gegen die Politik Stalins, gegen den scheinbaren Widerspruch von „Staatsnotwendigkeiten“ und „proletarischen Klassennotwendigkeiten“; mit dem Zurückweichen der revolutionären Bewegung kommt unvermeidlich die Wiederaufnahme kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen. Die historische Bedeutung Stalins charakterisiert Korsch mittels des „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ von Marx: Stalin habe sich der „napoleonischen Idee“ hingegeben, „neben den wirklichen Klassen der Gesellschaft eine künstliche Kaste zu schaffen, für welche die Erhaltung seines Regimes zur Messer- und Gabelfrage wird“.

Bordiga, der den „ultralinken Flügel“ der KPI repräsentierte, entwarf eine Konzeption, welche das sowjetische System als besondere Form des staatsmonopolistischen Kapitalismus erklärt. Der von Lenin entwickelte Begriff des Staatskapitalismus setzt aber eine Bourgeoisie voraus. In der Sowjetunion hat die Oktoberrevolution die Bourgeoisie zerstört und den Produktionsapparat in die Hände des Arbeiterstaates gelegt; der Markt ist aufgehoben; im Gegensatz zum Kapitalismus bedarf es hier nicht des Marktes, um das Mehrprodukt zu realisieren. Die polnischen Marxisten Kuron und Modzelewski führen das in ihrem „Offenen Brief an die Mitglieder der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“ aus:

Im Gegensatz zum Kapitalismus braucht die Bürokratie das Mehrprodukt nicht auf dem Markt zu realisieren, auch nicht jenen Teil des Geamtproduktes, der dem ständigen Verschleiß an fixem Kapital entspricht. Sie ist die Besitzerin aller Unternehmen und der gesamten Produktion. Sie hat es daher nicht nötig, bei sich selbst zu kaufen. Wenn der Stahl vom Stahlwerk in die metallverarbeitende Fabrik wandert oder die Kohle von der Mine ins Stahlwerk, dann schlägt sich das in den Büchern als Kauf von Produktionsmitteln nieder. In Wirklichkeit handelt es sich um eine einfache Form des Transfers im Rahmen der gleichen Besitzverhältnisse und nicht um einen wirklichen Akt von Kauf und Verkauf.

(Kuron/Modzelewski: Monopolsozialismus. Offener Brief an die Mitglieder der Polnischen ‚Vereinigten Arbeiterpartei, Hoffmann & Campe, Hamburg 1969, S. 29, 42.)

Eine aktuelle Kritik an der Sowjetgesellschaft hat Ch. Bettelheim in den letzten Jahren betrieben (vgl. Literaturliste). Seine Analyse setzt am Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen an. In einer wesentlichen Weiterentwicklung der Kritik der politischen Ökonomie entfaltet er die Kategorie „ökonomisches Kalkül“. Der ökonomische Kalkül „bezieht sich entweder auf die Messung mehr oder weniger nützlicher Verausgabung von Arbeit oder auf den gesellschaftlichen Nutzen verschiedener Produktionen oder Tätigkeiten“. Bettelheim definiert die Produktionsverhältnisse durch entsprechende Eigentums-Besitz-Verhältnisse, denen wieder bestimmte Ideologien entsprechen. Die zentrale Problemstellung lautet: Wer ist „jenseits der Gestalt der ‚juristischen Personen‘ tatsächlich im Besitz der Produktionsmittel ..., wer kann tatsächlich darüber verfügen“?

Bettelheim meint, daß der Betrieb eine ‚real selbständige Produktionseinheit verkörpert (mit Einzelkapital gleichgesetzt) und nicht bzw. nur formal dem Plan unterworfen ist, der Plan hat „Verschleierungsform“.

In Analogie zur chinesischen Kritik an der Sowjetgesellschaft verwendet Bettelheim den Begriff „Staatsbourgeoisie“, deren „Hauptfunktion die der Akkumulation ist, die sie ausübt als Agent des gesellschaftlichen Kapitals“. Die „Staatsbourgeoisie“ ist an kapitalistische Verhältnisse gebunden, weil sie „den Warenbezeichnungen und dem monetären Kalkül eine weite Ausdehnung zusichert“. Das Geld hat die Funktion eines allgemeinen Äquivalents und nicht die Aufgabe eines Zählinstrumentes, wie andere Theoretiker behaupten. Zusammengefaßt lauten die Formulierungen Bettelheims auf eine Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion. Zum Unterschied von seinen Vorläufern weist er auf eine Reihe von neuen theoretischen Probiemen hin, verzichtet aber auf eine konkrete Analyse der sozialistischen Staaten.

ad b) Die Thesen vom „bürokratischen Kollektivismus“ wurden 1939 von Bruno Rizzi in seiner Auseinandersetzung mit Trotzki verwendet. Er postuliert ein neues Eigentumssystem, das historisch die Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus kennzeichnet. Die Produktionsmittel sind aus der privaten Verfügung befreit, gehören einer Bürokratenklasse in ihrer Gesamtheit, nicht den einzelnen Mitgliedern dieser Klasse. Die Ausbeuter eignen sich den Mehrwert nicht direkt an, sie tun es indirekt, der Staat übernimmt den Gesamtmehrwert und verfügt darüber. Die Kategorien der kapitalistischen Verhältnisse Mehrwert, Profit usw. haben dann keine Geltung mehr. „Der bürokratische Kollektivismus sei die letzte Form der Beherrschung des Menschen durch den Menschen und stehe der klassenlosen Gesellschaft so nahe, daß sich die Bürokratie, die letzte Ausbeuterklasse der Menschheit weigerte, sich als besitzende Klasse zu bekennen“ (I. Deutscher).

Das Konzept vom „bürokratischen Kollektivismus“ läßt die Entstehung und die Widersprüche der Sowjetgesellschaft unberücksichtigt und hat nur einen Weg, die Bürokratie zu entwaffnen: die Rückkehr zum Konkurrenzkapitalismus.

Eine aktuelle Version des „bürokratischen Kollektivismus“, die zumindest seine Voraussetzung akzeptiert, aber historisch und konkret die Analyse der Sowjetunion vornimmt, ist die Arbeit von A. Carlo (siehe dessen Beitrag in diesem NF).

ad c) Die These vom „degenerierten Arbeiterstaat“ wurde zuerst von Trotzki in der „Verratenen Revolution“ ausgeführt. Entscheidender Faktor für die Entartung des ersten Arbeiterstaates und die Etablierung einer Bürokratie ist das Ausbleiben der internationalen proletarischen Revolution, die Niederlage der kommunistischen Bewegung in den frühen zwanziger Jahren. Die materielle und soziale Basis der proletarischen Revolution blieb auf Rußland beschränkt, dessen Rückständigkeit die Behauptung der Staatsmacht durch das schwache Proletariat und den Aufbau sozialistischer Produktionsverhältnisse in Frage stellte. Das Programm der Bolschewiki hatte das „Absterben des Staates“ vorausgesagt und angesichts der wachsenden Bürokratie politische Maßnahmen zu deren Bekämpfung vorgesehen. Solange die Gesellschaft nicht reich genug ist, muß sie maximale Arbeitsleistung und minimalen Konsum aufrechterhalten. Unrecht und Ungleichheit bestehen weiter. Antreiber und Garant dieser Verhältnisse ist die Bürokratie.

Das bürgerliche Recht auf dem Gebiet der Verteilung der Konsumtionsmittel setzt natürlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn das Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande ist, zur Innehaltung der Rechtsnormen zu zwingen. Es ergibt sich also, daß nicht nur unter dem Kommunismus das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit bestehen bleibt, sondern auch der bürgerliche Staat und Revolution.

(5. Kap., Abschn. 4.)

Das bestimmt den doppelten Charakter des Arbeiterstaates. In Richtung auf den Sozialismus wirkt er durch die Aufrechterhaltung des vergesellschafteten Eigentums an den Produktionsmitteln, gleichzeitig verteilt der bürokratische Arbeiterstaat seine Reichtümer nach den bürgerlichen Normen Leistung und soziale Position.

Zusammenfassend beschreibt Trotzki die sowjetische Gesellschaft:

Die UdSSR ist eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der

  1. die Produktivkräfte noch längst nicht ausreichen, um dem staatlichen Eigentum sozialistischen Charakter zu verleihen;
  2. das aus Not geborene Streben nach ursprünglicher Akkumulation allenthalben durch die Poren der Planwirtschaft dringt;
  3. die bürgerlich bleibenden Verteilungsnormen einer neuen Differenzierung der Gesellschaft zugrunde liegen;
  4. der Wirtschaftsaufschwung die Lage der Werktätigen langsam bessert ünd die rasche Herausschälung einer privilegierten Schicht fördert;
  5. die Bürokratie unter Ausnutzung der sozialen Gegensätze zu einer unkontrollierten und dem Sozialismus fremden Kaste wurde;
  6. die von der herrschenden Partei verratene soziale Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen und dem Bewußtsein der Werktätigen noch fortlebt;
  7. die Weiterentwicklung der angehäuften Gegensätze sowohl zum Sozialismus hin als auch zum Kapitalismus zurückführen kann;
  8. auf dem Wege zum Kapitalismus eine Konterrevolution den Widerstand der Arbeiter brechen müßte;
  9. auf dem Wege zum Sozialismus die Arbeiter die Bürokratie stürzen müßten ...

Alles deutet darauf hin, daß es im weiteren Verlauf der Entwicklung unvermeidlich zu einem Zusammenstoß der kulturell gewachsenen Kräfte des Volkes mit der bürokratischen Oligarchie kommen muß ... Die Sowjetbürokratie wird ihre Positionen nicht kampflos aufgeben. Die Entwicklung führt eindeutig auf den Weg der Revolution.

(Verratene Revolution, S. 278.)

Literatur

  • I. Deutscher, Die unvollendete Revolution, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1970, DM 2,85.
  • I. Deutscher, Trotzki, 3 Bände, Kohlhammer Taschenbuch, Stuttgart 1972, DM 29,40.
  • L. Trotzki, Die verratene Revolution, 1972 (Raubdruck).
  • Ch. Bettelheim, Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen, Wagenbach, DM 6,50.
  • Ch. Bettelheim u. a., Kritik der Sowjetökonomie, Wagenbach, DM 5,50.
  • A. Carlo, Politische und ökonomische Struktur der UdSSR, Wagenbach, DM 6,50.

SU im NF

  • Ernest Mandel: Zur Krise des Sowjetkommunismus, NF Jan. 1972.
  • L. Lombardo Radice: Brauchen die sozialistischen Staaten eine 2. Revolution, NF Feb.
  • 1972.
  • Leszek Kolakowski: Ist der bürokratische Sozialismus noch reformierbar?, NF Oktober/November 1971.
  • Roger Geraudy: Breschnjews Commune, Notizen zum 24. Parteitag der KPdSU, NF April/Mai 1971.
  • K. S. Karol: Kapitalistisch parfümierte Sowjetunion, NF Januar/Februar 1971.
  • Ders.: Die Sowjetunion wird immer kapitalistischer, NF Dezember 1970.
  • Milovan Djilas: Prognose: Militärdiktatur, NF Mai 1969.
  • Georg Lukács: Alle Dogmatiker sind Defaitisten, NF Mai 1968.
  • Ders.: Die Sowjetunion ist nicht typisch, NF April/Mai 1967.
  • Ders.: Zur Debatte zwischen China und der Sowjetunion, Forum November 1963, Dezember 1963.
  • Ders.: Privatbrief über Stalinismus, Forum Juli/August 1963, September 1963.
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