FORVM, No. 259/260
Juli
1975

Sozial-industrieller Komplex statt Rüstung?

James O’Connor: Die Finanzkrise des Staates, Suhrkamp 1974, 395 Seiten, DM 12, öS 92,40

Die politische Ökonomie der USA erscheint dem Europäer häufig in einer Vielzahl verwirrender Facetten. Es ist das Verdienst James O’Connors, in dieses Bild erstmals ordnende Gesichtspunkte hineingebracht zu haben. In seiner Analyse wird die Ökonomie tatsächlich politisch, denn er beläßt sie nicht auf dem Niveau dürrer Zahlen über Kapitalakkumulation und Arbeitslosigkeit. Vielmehr unterscheidet er Interessengruppen, deren politische Ausdrucksformen und Kampfmittel, die Kämpfe und Koalitionen um die Erzeugung und Verteilung des Volkseinkommens: die Stadt mit widerstreitenden Interessen zwischen City und Suburbs, der Einzelstaat, der Bund mit Exekutive (umgeben mit informellen Lenkungsgremien) und Congress als politische Einheiten des Föderalismus; das Monopolkapital, das Wettbewerbskapital und der militärisch-industrielle Komplex als unterschiedliche Kapitalfraktionen; schließlich die relativ privilegierte organisierte Arbeiterschaft des Monopolkapitals und der Staatsangestellten, die schlechtbezahlte des Wettbewerbsektors, die Arbeitslosen und diskriminierten Minoritäten (Farbige und Frauen) als Fraktionen des Proletariats — dies alles bildet den analytischen Rahmen O’Connors.

Ausgangspunkt seiner Analyse ist die Frage nach der Rolle des Staatsbudgets im kapitalistischen Reproduktionsprozeß und dessen krisenhaftes rasches Anwachsen in den vergangenen 15 Jahren, das einen Zusammenbruch der Staatsfinanzen möglicherweise hervorrufen wird. Der Staat muß mehr Ansprüche befriedigen, als er kann — eine Entwicklung, die auch in Europa sehr aktuell ist. Die begrenzten finanziellen Möglichkeiten des Staates und dessen abhängiges Verhältnis zum Kapital rühren aus dem ehernen Prinzip, daß der kapitalistische Staat wohl über Steuern und Kredit an der Revenue partizipieren, nicht aber sich direkt an der Mehrwertproduktion beteiligen darf. (Auch die europäischen Staatsunternehmen führen ihre Profite nicht an die Staatskasse ab!) Mit zunehmendem Staatshaushalt verschärft sich der kapitalistische Klassencharakter der staatlichen Mittelaufbringung durch Schuld und Steuer. So sank der steuerfreie Betrag der Einkommenssteuer von 3.000 auf 600 Dollar im Zeitraum 1913 bis 1970 (S. 254).

Soviel zu den Einnahmen. Wie ist die Ausgabenflut verursacht? Besonders das Monopolkapital läßt sich seine Produktion staatlich subventionieren in Form von Industrieansiedlungspolitik, Erschließung von Verkehrswegen und Versorgungseinrichtungen (Strom, Wasser), Stadtsanierung, Sportanlagen, Ausbildung von Arbeitskräften und Betreibung von Forschung. Diese Subventionen beschreibt O’Connor mit dem Terminus „Sozialinvestition von Sozialkapital“. Solche Subventionen unter den Kapitalbegriff zu subsumieren ist vielleicht ein wenig zu generös. Man sollte in diesem Zusammenhang eher von „Produktivkräften des Kapitals“ sprechen. Die Anpassung der Löhne der Staatsangestellten an die steigenden Löhne des Monopolsektors erzeugt ebenfalls weitere Ausgabenverpflichtungen.

Abgesehen von den traditionell hohen Rüstungsausgaben ergeben sich schließlich schnell steigende Aufwendungen für die soziale Fürsorge. Dieses aus verschiedenen Gründen. Trotz anwachsenden Volkseinkommens nimmt die Zahl der Armen zu, einmal wegen der Proletarisierung der Bauern, dann wegen Verminderung der Arbeitskräfte im Monopolsektor, wegen niedriger Löhne im Konkurrenzsektor, der durch langsame Expansion und geringes Produktivitätswachstum geprägt ist; außerdem erhöht sich mit steigendem durchschnittlichem Lebensstandard auch die offizielle Armutsgrenze. Es zeichnet sich ein bemerkenswerter Einstellungswandel des Proletariats ab: Krisen und Arbeitslosigkeit werden nicht mehr fatalistisch als „natürlich“ akzeptiert, wie es Mattick noch vor 40 Jahren beobachtet hat. Sondern mit der Monopolisierung sind auch die sozialen Hintergründe der Produktion von Reichtum bewußt geworden (S. 197). Die Armen proklamieren nun das gänzlich unamerikanische „Recht auf materielles Überleben“ (S. 201), worauf der Staat mit Hilfsprogrammen antworten muß.

Das Monopolkapital besitzt eine weitreichende Konzeption, der Finanzkrise Herr zu werden: den sozial-industriellen Komplex. Ökonomisch bedeutet er Ausdehnung der Produktion und Steigerung der Produktivität, um die wachsenden Staatsausgaben zu finanzieren, neue Anlagesphären für die Monopole, neue Arbeitsplätze für die Armen. Politisch bedeutet er Entmachtung von Gruppen der lokalen Bourgeoisie, welche Kommunen und Congress beherrschen und bornierte Sonderinteressen inklusive der wucherischen Ausbeutung der Slums vertreten, und politische Zentralisierung unter Leitung „klassenbewußter“ Monopolvertreter in der Exekutive. Eine Koalition von reformistischen Sozialbewegungen bis hin zu den „Militanten“ mit dem Monopolkapital zeichnet sich ab (S. 267).

Soziologisch betrachtet, ergreift der sozial-industrielle Komplex die kommunalen Einrichtungen der Stadt, wie Wohnungsbau, Verkehr, Erziehung, Gesundheitswesen, Fürsorge bis hin zu Irrenhäusern, Gefängnissen und der Verwaltung ganzer Städte, was bereits heute an einigen Punkten verwirklicht ist (S. 73). Das Leninsche Wort von der Durchdringung der Gesellschaft durch die Monopole wird verwirklicht. Die reaktionären Klein- und Mittelkapitalisten und lokalen Honoratioren — ebenso wie die in widerstreitende Fraktionen gespaltene Arbeiterklasse — verhindern eine zeitgemäße Nutzung der sozialen Produktivkräfte der Stadt. Das Monopolkapital verkörpert die Vernunft der Epoche. Als Beispiel sei die geplante Ablösung der kleinkapitalistischen Bauproduktion durch Planung ganzer Städte und industrielle Verfahren erwähnt (S. 73). In der BRD scheint die Baugesellschaft Neue Heimat ein Kristallisationspunkt des sozial-industriellen Komplexes zu werden.

Aber der sozial-industrielle Komplex ist noch nicht Wirklichkeit, und O’Connor untersucht im Schlußkapitel ausführlich dessen Chancen. Sie stehen nicht gut. Die lokale Bourgeoisie ist nicht leicht zu entmachten, ebensowenig wie die Monopolarbeiter einem Lohnabbau zugunsten der Armen zustimmen würden. Schließlich kann man die grundsätzliche Frage stellen, ob das Monopolkapital mit diesem Konzept nicht auch womöglich seiner eigenen Ideologie von „produktiven“ Produktionsfaktoren zum Opfer fällt. Denn die entscheidende Frage ist, ob mit der Verwaltung sozialer Beziehungen auch tatsächlich Mehrwert und nicht bloß Profit erzeugt werden kann. Ist das der Fall, so können Arme ihren Lebensstandard verbessern und der Staat die Kasse auffüllen, ohne das Einkommen Dritter zu schmälern.

Aber nach Marx ist die Mehrwertproduktion stets an die Produktion als Waren verkaufbarer Güter gebunden. Der ideologische Gehalt, der in der Planung des sozial-industriellen Komplexes liegt, läßt sich daran ablesen, daß die Monopole umfangreiche Staatshilfe für ihre Dienste verlangen (S. 73) und vom Bildungswesen als Kapitalanlage schwärmen, das doch höchstens in Hinsicht auf Mehrwertproduktion einigen Produzenten der Branche Unterrichtstechnologie zugute kommt. Auch bedeutet die Zerschlagung des Wettbewerbssektors einen Verlust an Arbeitsplätzen, und offen bleibt, wo die Armen außerhalb der Sozialverwaltung des urbanen Monopolkapitals Arbeitsplätze finden können. (Ein Monopolvertreter phantasiert naiv von Verpflichtungen „in der Unterweisung unserer benachteiligten Mitbürger, wie man seinen Lebensunterhalt verdienen kann“ [S. 73] — als ginge das so einfach ohne Arbeitsplätze!)

Der sozial-industrielle Komplex ist also ein durchaus widersprüchliches Konzept. Dessen Analyse ist der interessanteste Teil von O’Connors Buch. Die Schwächen liegen in Kleinigkeiten, wie schlechter Übersetzung, fehlendem Index und manchmal mangelnder Souveränität des Autors in der Nationalökonomie wie seiner schwammigen Verwendung des Produktivitätsbegriffs (S. 78), den er aus der bürgerlichen Faktorentheorie übernommen hat, so daß es auch kein Wunder ist, wenn er dem human capital-Begriff unkritisch gegenübersteht (S. 144). Hier zeigt sich überhaupt eine voreilige Identifizierung des Großkapitals mit technischem Fortschritt und hohem Ausbildungsstand (S. 198), als ob das Monopolkapital keine Massenarbeiter am Montageband anwenden würde — eine verfehlte Hoffnung der Industriesoziologie der fünfziger Jahre.

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