MOZ, Nummer 42
Juni
1989
Interview

Sozialdemokratisierung des Kommunismus?

Walter Silbermayr, derzeit Sekretär des Zentralkomitees der KPÖ, ist designierter Parteivorsitzender.

Christof Parnreiter sprach mit ihm über Perestroika und Marktwirtschaft, über die Entwicklung in Ungarn und das Image der KPÖ.

Walter Silbermayr
MOZ: Die sowjetische Umgestaltung begeistert von den Kommentatoren der bürgerlichen Presse bis zu den kommunistischen Parteien alle. Perestroika heißt doch aber auch: mehr wirtschaftliche Produktion, mehr Effizienz, mehr Betriebs- und auch mehr Marktwirtschaft. Hat die kommunistische Ökonomie, das Modell der Planwirtschaft, in der Aufgabe, die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, versagt?

Silbermayr: Es ist die Perestroika sicher auch das Eingestehen des Scheiterns eines Modells, das in bestimmten Zeiten funktionstüchtig gewesen ist das aber in der heutigen Zeit nicht mehr funktioniert.

MOZ: Die Produktionsverhältnisse werden also den geänderten Produktivkräften angepaßt?

Silbermayr: Ja, das ist eine der Kernfragen. Es hat sich schon seit längerer Zeit in Form von Krisen in den sozialistischen Ländern gezeigt, daß die Widersprüche von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zutage treten. Die Aufgabe besteht jetzt also darin, die Produktionsverhältnisse und den politischen Überbau mit den Produktivkräften in Übereinstimmung zu bringen. Konkret heißt das, von einer Wirtschaft, die im wesentlichen auf extensives Wachstum eingestellt war, auf intensives Wirtschaften überzugehen und den Menschen als Hauptproduktivkraft zu sehen.

MOZ: Kann man das insgesamt als ein Mehr an „Markt“ interpretieren?

Silbermayr: Es werden sicher alte Hüte zu Grabe getragen. Es geht um eine dialektische Verbindung von Markt und Plan. Mehr Markt und mehr Plan, das ist die Aufgabe. Es ist ab einer gewissen Komplexität einer Volkswirtschaft kontraproduktiv, alle Bereiche zu planen. Eine bedürfnisgerechte Wirtschaft braucht auch andere Signale als die der zentralen Planung. Andererseits: Planungsmechanismen gewährleisten, daß sich aus dem Mehr an Markt nicht ein Mehr an Kapitalismus entwickelt.

MOZ: Welcher Art wären die?

Silbermayr: Planungselemente, die indirekt wirken. Währungspolitik oder Kreditpolitik. Selbstregulierende Kreisläufe, die sich aber in ein Gesamtkonzept einfügen müssen, damit Erscheinungen, die zum Kapitalismus gehören, nicht auch für den Sozialismus kennzeichnend werden. Das ist eine Gefahr. Da gibt es eine schmale Gratwanderung.

MOZ: Die klassisch sozialdemokratische Position wäre, daß Marktwirtschaft und Sozialismus kompatibel sind, daß die sozial negativen Erscheinungen einer kapitalistischen Produktion aufgefangen werden könnten.

Silbermayr: Entscheidend ist, daß der Markt eingebunden sein muß in ein System der Wirtschaftsplanung. Es geht nicht um „Markt“ oder „Plan“, sondern um die Funktion, die der Markt zu erfüllen hat. Grundwerte des Sozialimus dürfen durch den Markt nicht ausgehebelt werden. Etwa darf die Arbeitskraft keine Ware werden. Es muß gesellschaftliche Vor- und Fürsorge geben, daß die Arbeitskraft nicht in Form von Arbeitslosigkeit ihren Warencharakter demonstriert bekommt. Es muß etwa bei Umstrukturierungen in der Wirtschaft den Anreiz geben, auf interessantere, vielseitigere Tätigkeit überzuwechseln, denn sonst würde einer ja nicht bereit sein, eine bestimmte Arbeit aufzugeben. Eine dialektische Verbindung von Effizienz und Humanität muß gelingen.

MOZ: Die Sowjetunion wäre dazu doch ökonomisch kaum in der Lage.

Silbermayr: Die Aufgabe ist gestellt. Sie einzulösen wird sehr schwer sein. Die wirklichen Antworten stehen da auch noch aus.

MOZ: Verbirgt sich hinter dem Anspruch, Effizienz und Humanität zu verbinden, nicht bloß die Umschreibung für die „Sozialdemokratisierung des Kommunismus“, wie es ein bürgerlicher Kommentator nannte?

Silbermayr: Ohne Perestroika bestünde die Gefahr tatsächlich. Die Perestroika ist das bewußte Eingreifen in einen krisenhaften Prozeß, der sich schon entwickelt hat. Wenn die Widersprüche dieser krisenhaften Entwicklung der 80er Jahre nicht gelöst werden, dann werden die Grundlagen des Sozialismus untergraben. Und kann der Sozialismus die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht befriedigen, liegt es auf der Hand, daß andere politische Antworten gesucht werden, und die sind durchaus kapitalistische. Und dafür gibt es auch Anzeichen. In Ungarn etwa gibt es Elemente der Rückentwicklung einer sozialistischen Ökonomie zu einer kapitalistischen. Sollte aber die Entwicklung zurück zum Kapitalismus vollzogen werden, dann wird die Sozialdemokratisierung nur eine Zwischenstufe sein. Am Ende werden brutaler Thatcherismus und restaurativer Nationalismus stehen. Das hätte natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die politische Entwicklung in Österreich.

MOZ: Die wirtschaftlichen Eckdaten Ungarns spiegeln die eines peripherisierten Landes wider.

Silbermayr: Ja.

MOZ: Ist das nun die Folge der betriebenen Öffnung; ist dann nicht zu erwarten, daß der gesamte Raum der sozialistischen Ökonomien dieses Schicksal erleiden wird?

Silbermayr: Als Zwischenetappe kann sich ein sozialistisches Land durchaus an den westlichen Krediten bedienen, nur muß das verbunden sein mit einer Perspektive einer Modernisierung auf sozialistischer Grundlage, um die Voraussetzungen zu schaffen, nicht nur die Kredite zurückzuzahlen, sondern sich aus der Situation, in der man fremde Gelder benötigt, zu befreien. Das Problem in Ungarn ist offenbar, daß das Geld versickert ist, ohne Ergebnisse zu erzielen. Das Ausweglose ist nun eine Überschuldung, die mit dem, was das Land produzieren kann, nicht mehr abgedeckt werden kann.

MOZ: Kredite werden doch nicht zur Stärkung einer bedürfnisorientierten sozialistischen Binnenwirtschaft, sondern für eine Entwicklung, die den Konzernen und Banken dient, vergeben.

Silbermayr: Das liegt auf der Hand. Und es liegt auf der Hand, daß die Entscheidungen in Ungarn immer mehr von jenen mitbeeinflußt werden, die dieses Land über die Kredite sehr stark im Griff haben. Denn natürlich sind politische, zumindest aber wirtschaftspolitische Auflagen mit den Krediten verbunden. Nur ist Ungarn immer noch — und wird es auch sein — Mitglied des RGW-(Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)-Raumes und kann hier eine gewisse Rückendeckung erhalten. Es gibt also Voraussetzungen, aus dieser Abhängigkeit herauszukommen. Wenn Ungarn es selbst will.

MOZ: Und wie schätzt Du den Prozeß der Entscheidungsfindung ein?

Silbermayr: Offen. Daß derzeit die Orientierung Richtung Westen geht, ist offenkundig. Die Frage ist nur, ob sich nicht im Inneren des Landes Kräfte formieren, die die mühsam erreichten sozialistischen Errungenschaften nicht preisgeben wollen.

MOZ: Ausgehend von der Erkenntnis, daß bei Handelskontakten zwischen zwei Ökonomien das Tauschverhältnis immer zu Ungunsten der schwächeren Wirtschaft ausgeht, war es lange Strategie der Sowjetunion, sich gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft abzuschotten bzw. den Außenhandel in staatliche Hände zu nehmen, um die negativen Folgen auffangen zu können. Dieses Außenhandelsmonopol ist nun mit dem neuen Genossenschaftsgesetz gefallen. Besteht nicht die Gefahr, daß die Sowjetunion damit so stark in die internationale Arbeitsteilung eingebunden wird, daß ihre Peripherisierung weiter fortschreitet?

Silbermayr: Eine stärkere Einbindung der sozialistischen Ökonomien wird sicher eine Stärkung jener Länder bedeuten, die mit den derzeitigen Austauschverhältnissen nicht einverstanden sein können. Eine ökonomische und politische Stärkung dieser Volkswirtschaften wird notwendig sein, um nicht unter die Räder zu kommen. Gleichzeitig ist die Einbindung in die Weltwirtschaft eine Herausforderung, Strukturen im eigenen Land so zu verändern, daß man konkurrenzfähig ist, ohne die eigene Gesellschaftsordnung aufgeben zu müssen. Das ist das Kühne, daß hier ein Konzept entwickelt wird, das ungeheure Risken in sich birgt.

MOZ: Mir scheint es gar zu kühn ...

Silbermayr: Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß sich eine sozialistische Ökonomie in die Weltwirtschaft integrieren kann, ohne ihre sozialistische Basis aufgeben zu müssen. Der Optimismus, daß die Perestroika nicht zur Peripherisierung führt, besteht darin, daß die Perestroika eine offensive Antwort auf Peripherisierungstendenzen in manchen sozialistischen Staaten ist. Sie ist mit einigen Risken verbunden, es gibt aber keine Alternative dazu.

MOZ: Der damalige US-Präsident Roosevelt entwickelte in den 40er Jahren seinen Plan der sogenannten „one world“, der besagte, daß — gelänge es, die sowjetische Ökonomie in die kapitalistische Weltwirtschaft zu integrieren (und damit unterzuordnen) — eine politische Transformation der UdSSR gar nicht mehr nötig sei. Erleben wir heute nicht genau die Realisierung dieses Vorschlags?

Silbermayr: Dieser Plan war ja ein Zeichen der Durchsetzung von realistischeren Kräften im Kapitalismus unter den Erfahrungen der Anti-Hitler-Koalition. Es gibt also historische Erfahrungen, daß es über Systemgrenzen hinweg gemeinsame Anliegen gibt. Daß damals dann von dieser Konzeption abgegangen wurde, liegt sicher in der Verantwortung reaktionär-konservativer Kräfte im Westen. Sie müssen jetzt wiederum vom Konzept des „Kalten Krieges“ abgehen, weil es sich auch gegen ihre eigenen Interessen richtet. Hätte sich das Konzept der „einen Welt“ damals durchgesetzt, stünde die Welt heute wahrscheinlich besser da.

MOZ: Beinhaltet dieser Plan aber nicht die Preisgabe einer sozialistischen Ökonomie im Tausch gegen eine stabile politische Entwicklung?

Silbermayr: Ziel ist nicht ihre Preisgabe, sondern ihre Einbindung in weltwirtschaftliche Zusammenhänge und gleichzeitig die Herbeiführung von politischen Voraussetzungen, daß es zu einer Freiheit der Systemwahl kommen kann, wie Gorbatschow es nennt. Und vor dieser Wahl brauchen wir Kommunisten uns nicht zu fürchten. In der „3. Welt“ ist die Situation relativ eindeutig; in der freien Entwicklung der Völker wird der Sozialismus attraktiv sein. In den hochentwickelten Ländern ist der Marxismus derzeit geschwächt, aber existent. In den 90er Jahren werden, so wie am Ende der 60er Jahre, marxistische Antworten wieder größere gesellschaftliche Wirksamkeit erlangen.

MOZ: Ist das, was Du „Entspannung“ nennst, nicht eine „Pax Imperialistica“, die eine Koexistenz mit der Sowjetunion erlaubt, wenn diese dafür ihre antiimperialistische Unterstützung auf- und die „3. Welt“ freigibt für kapitalistische Interessen?

Silbermayr: Das Konzept der freien Wahl beinhaltet die Erkenntnis, daß revolutionäre Bedingungen aus der inneren Situation eines Landes entstehen, daß also weder die Revolution noch die Konterrevolution exportiert werden dürfen. Bedingungen, die die freie Wahl erlauben, herzustellen, wird dem revolutionären Prozeß in der „3. Welt“ nützen. Das ist unter Umständen eine größere Unterstützung als Waffenlieferungen, um US-unterstützte Konterrevolutionäre abzuschrecken.

Christof Parnreiter
MOZ: Gorbatschow hat bei seiner berühmten Rede vor der UNO die allgemeinen Fragen der Menschheit — wie das Wettrüsten oder den Umweltkollaps — ins Zentrum gerückt. Lautet die neue Devise: Menschheitsfragen statt Klassenkampf?

Silbermayr: Das ist schwierig. Die Verbindung von Menschheits- und Klassenfragen darf nicht dazu führen, daß die Klassenfrage hintangestellt wird. Das wird allerdings, zum Teil auch in der Sowjetunion, so ausgelegt. Was eine Sozialdemokratisierung wäre. In der Dialektik von Klassen- und Menschheitsfragen haben letztere in einer gewissen Hinsicht Priorität. Aber: Die Lösung der Klassenfrage ist auch ein Beitrag zur Lösung der Menschheitsfrage. In dem Ausmaß, in dem die Rüstungskonzerne im Inneren bekämpft werden, trägt das zur Lösung der Friedensfrage bei. Umgekehrt: Wird im Zuge der Abrüstung der Aktionsradius von Rüstungskonzernen beschränkt, beschränkt sich auch der Einfluß dieses besonders aggressiven Teils des Kapitals, und damit wird ein Beitrag zum Klassenkampf geleistet.

MOZ: Welche Aufgaben stellen sich für eine Partei wie die KPÖ, die gleichzeitig klassenkämpferisch wie attraktiv sein will? Worin soll das Mit-der-Zeit-Gehen der KPÖ bestehen?

Silbermayr: Es muß eine Einheit zwischen Programmatik und Image oder Inhalt und Form geben. Es kann nicht sein, daß wir ein progressives Programm mit einer gesellschaftsverändernden Perspektive haben und das Erscheinungsbild der Partei dazu im Widerspruch steht. In manchem ist das Erscheinungsbild, für das wir auch, allerdings nicht alleine, verantwortlich sind, etwas etabliert. Wir brauchen das Image einer offenen, demokratischen Partei auf marxistischer Grundlage. Drittens ist wichtig: das Image einer österreichischen Partei — nicht volkstümelnd, aber eine Partei, die im wesentlichen aus der Geschichte dieses Landes hervorgeht und aus den Widersprüchen dieses Landes ihre Legitimität bezieht.

Die Form linker politischer Kultur ist eine der schwierigsten Fragen, über die auch sehr gestritten wird. Das geht bis zu den Fragen der Lebensweise der Kommunisten und der Linken überhaupt. Ich glaube, bestimmte schematische Ablehnungen des Konsums sind nicht richtig. Kleidung zum Beispiel soll gesund, bequem und auch schön sein.

MOZ: Also der Flugblattverteiler gestylt in Benetton-Jeans?

Silbermayr: Nun, Benetton ist nicht unbedingt schön. Ich glaube, gerade Linke müßten eine Individualität entwickeln können, um sich nicht der Uniformierung durch die Modeindustrie unterordnen zu müssen. Die Frage der kulturellen Hegemonie ist eine, in der die Linken in der nächsten Zeit einiges zusetzen müssen. Wir dürfen das nicht den Rechten überlassen.

MOZ: Mir scheint, daß die KPÖ bei der von Dir angesprochenen Öffnung nur nachvollzieht, was sie von Moskau vorgesetzt bekommt; daß das kein originär-neuer Denkprozeß bei den österreichischen KommunistInnen ist.

Silbermayr: Es gibt ja nicht überall in der Partei eine grundsätzliche Zustimmung zur Perestroika. Zwar wird sie überwiegend als notwendig angesehen, aber wir sind auch nicht mit allen Schritten einverstanden. Es gibt eine Reihe von sehr skeptischen Genossen, und das ist auch legitim.

MOZ: Der kritischere Blick der KPÖ auf die sozialistischen Vorbilder — ist das ein Übergangsphänomen oder dürfte das dauern?

Silbermayr: Die Position, alles zu verteidigen, die wird’s nicht mehr geben. Volle Eigenständigkeit auf marxistischer Grundlage beinhaltet auch ein eigenes Sozialismusbild.

MOZ: Danke für das Gespräch.
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