MOZ, Nummer 45
Oktober
1989
Stadtportrait Steyr:

Stadt im Abseits?

Tausende Arbeiter hat der Großbetrieb Steyr-Daimler-Puch-AG in den letzten Jahren entlassen, die Region hatte eine der höchsten Arbeitslosenzahlen Österreichs. Zur Zeit sind sie im Sinken begriffen. Ein Silberstreif am Horizont?

Lange Tradition im Protest.
Belegschaft der Steyr-Werke bei einer Demonstration mit 15.000 Teilnehmern im Jahre 1986.
Bild: Wiesinger

In einem neueren Bericht der Österreichischen Raumkonferenz wird der Raum Steyr als ein „Industriegebiet mit mono- und großbetrieblicher Struktur und Industriekonzentration in der Stadt“ beschrieben. Manche Teile der Region, wie etwa Weyer, wurden als „entwicklungsschwaches Problemgebiet“ eingestuft: d.h. Abwanderung sowie hohe Pendlermobilität prägen das Bild. In Steyr selbst leben rund 40.000 Menschen, im Umland 20.000. In der gesamten Region gibt es etwas weniger als 2.000 Betriebe und zirka 26.000 Erwerbstätige. Die Wirtschaft der Region wird von Industrie und Gewerbe dominiert. Im Dienstleistungsbereich gibt es Tendenzen in Richtung Teilzeitarbeitsplätze von nur relativer Stabilität und Dauer. Die Wirtschaftsstruktur führt in der Stadt Steyr zu einem äußerst niedrigen Beschäftigtenanteil der Frauen. Jetzt, wo gerade die Wirtschaft Europas floriert, vermindern sich infolge des Booms auch die Arbeitslosen in Steyr. Es profitieren davon jedoch nur die männlichen Arbeitnehmer, die Zahl der Frauen, die arbeitslos sind, bleibt konstant. Hatte das Verhältnis Männer-Frauen bei den Arbeitslosen im Juli 1987 und 1988 1,2 : 1 gelautet, so ist es im Juli 1989 0,8 : 1. Auch die Zahl der schwer Vermittelbaren, vor allem in der Metallbranche, bleibt nach den neuesten Statistiken unverändert.

„Seit vier Jahr bin i arbeitslos und kriegen tuast nix, oiso net um a gscheits Göd. 13 Tausender hab i sogar kriagt als Hilfstschack bei die Steyr-Werke. Als Staplerfahrer mehr. Steyr war super, und an dem jetzt san die schuld, die gegen die Waffen und die Panzer waren“, erzählt Franz mit der manchen Steyrer Arbeitern eigenen Mentalität. Er ist einer derjenigen, die man fast täglich an der Wehrgrabenbrücke antrifft. Fast jeder dieser Langzeitarbeitslosen war irgendwann einmal „im Werk“. „I hab weng Chance mehr, i bin fast fuffzig Jahr. Bei BMW nehmens mi net. Da kriagst dann ka gescheite Hacken mehr, sondern nur mehr an Schas.“ Die ungünstige soziale Lage ist im wesentlichen zurückzuführen auf —

Die wirtschaftliche Monostruktur

— und hat, wie in den meisten Krisenregionen, viel mit der historischen Entwicklung zu tun. Die ökonomische Vorrangstellung von Eisenverarbeitung und Eisenhandel läßt sich in Steyr bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Während der Industriellen Revolution sank die Zahl der eisenverarbeitenden Betriebe, sie wurden von der aufstrebenden „Österreichischen Waffenfabrik“, gegründet von Josef Werndl, verdrängt. Die Expansion des Betriebs löste einen enormen Zuzug nach Steyr aus. Infolge der wirtschaftlichen Aufs und Abs des einzigartigen Großbetriebs, der Steyr dominierte, wurde die Stadt damals bereits zur labilen Region. Die Steyrer Arbeiter galten in Krisenzeiten als besonders rabiat. Eine Meldung in der sozialdemokratischen Zeitung „Gleichheit“ im Jahre 1889, daß in einer Steyrer Schrauben- und Windenwerkstätte von vier Uhr morgens bis zehn Uhr abends gearbeitet werde, veranlaßte einige tausend Arbeiter zur Demonstration. Es wurden Steine geworfen, darauf kam die Polizei. Dem folgte ein drei Tage dauernder Exzeß, in dessen Verlauf alle Fenster des Rathauses und anderer öffentlicher Gebäude sowie rund 1.500 Gaslaternen zerschossen wurden. Erst Militäreinsatz und Schußwaffengebrauch beendeten den Aufruhr. In der Spätgründerzeit erlebte die Waffenfabrik einen Boom, der in eine ungeheure Hochkonjunktur während des Ersten Weltkriegs mündete. Insgesamt wurden in diesen Jahren drei Millionen Gewehre, 235.000 Pistolen, 40.000 Maschinengewehre, Militärfahrräder und auch Flugzeugmotoren erzeugt. Die Zahl der Beschäftigten betrug 1914 bereits 14.000 und stieg bis 1916 auf über 16.000; das Jahr 1918 war von Streiks und Auseinandersetzungen geprägt, nach dem Ende des Krieges waren etwa 8.000 Personen beschäftigt. 1919 gab es in der Stadt die ersten freien, gleichen, geheimen Wahlen, die zu einem sozialdemokratischen Bürgermeister führten. Ab diesem Zeitpunkt erreichten die Sozialdemokraten — mit Ausnahme der Jahre 1934-1945 — satte Mehrheiten von 60 Prozent und mehr (auch die KP war und ist relativ stark), was zum Image der „roten“ Stadt führte. In der Zwischenkriegszeit gingen aus der Waffenfabriksgesellschaft die Steyr-Werke hervor, die ab 1920 auch Autos produzierten. Vom legendären Typ 50/55 „Steyr Baby“, dem sogar Bert Brecht in einem Reklamegedicht huldigte, wurden 13.000 Stück hergestellt. Während der Umstellung auf Fließbandproduktion 1925 kam es zu einem Arbeitskonflikt, der zu Entlassungen und einer zweimonatigen Aussperrung führte. Dies zwang eine Anzahl von Familien zur Abwanderung. Bereits seit Anfang 1925 wanderten monatlich 20 bis 30 Familien nach Brasilien aus, während der Aussperrung folgten ihnen weitere 800 Steyrer. Die Folgen des „Schwarzen Freitags“ 1929 schlugen sich in Steyr in der Entlassung von 70 Prozent der Belegschaft, zirka 4.500 Beschäftigten, nieder. Damals lebte in Steyr etwa ein Fünftel der Einwohner von Linz, die Zahl der Arbeitslosen- und Notstandsunterstützungsbezieher übertraf jedoch jene der Landeshauptstadt. 55 Prozent der Bewohner standen in irgendeiner Form im Bezug von Fürsorgegeldern. Sogar das Gemeindelazarett war von Obdachlosen belegt. In internationalen Presseartikeln war vom „Armenhaus Europas“ und von der „sterbenden Stadt“ die Rede. Die damals üblichen Arbeitslosendemonstrationen entwickelten sich Anfang 1933 zu regelrechten Hungermärschen mit bis zu 2.000 Personen, die „in fadenscheinig zerschlissenen Kleidern und defekten Schuhen“ im Winter durch die Straßen zogen. Im Jahr 1934 wehrte sich der sozialdemokratische Schutzbund in Steyr besonders militant. Die Niederschlagung des Aufstandes brachte zur wirtschaftlichen nun auch noch die politische Krise. Eine Stadt verfiel in Depression aus der sie beim Anschluß begeistert erwachte, es konnte ja nur besser werden. Ganze Schutzbundkompanien fand man bei den Nationalsozialisten wieder, der sozialdemokratische Bürgermeister bis 1934 und sein Bezirksobmann gingen zur NSDAP. Wie erwartet, begannen die Steyr-Werke wieder zu florieren und expandierten in der Folge im Bereich Rüstung: Kugellager, Flugzeugmotoren, Militär- und Geländefahrzeuge wurden nunmehr erzeugt. Im „Heimatgau“ des Führers wurde die ganze Region voll in die Hochrüstung integriert. Steyr wurde wieder wichtig, bis die Fabriken von den Amerikanern und Engländern zerbombt wurden. Nach dem Krieg wurden die Werke wieder aufgebaut, die Produktpalette bleibt im wesentlichen wie in der Vergangenheit, und zwar bis zum heutigen Tag. Der Geschäftsverlauf folgt den nationalen und internationalen Konjunkturen. Zur Zeit des Ölschocks betrug der Beschäftigtenstand rund 10.000, bis 1986 sank er auf zirka 7.500. Im Zuge der neueren sog. „Verstaatlichtenkrise“ wurden bis dato weitere 3.000 Arbeitnehmer „abgebaut“, die Beschäftigtenzahl liegt bei 4.500.

Das BMW-Werk

1982 platzte die geplante Kooperation BMW-Steyr, darauf errichtete der bayrische Autoproduzent in Alleinregie ein Motorenwerk. Neben den diversen Geschenken von Bund, Land und Stadt, die allerdings nicht typisch für Steyr, sondern in ganz Europa üblich sind, war für den Standort Steyr vor allem die Möglichkeit ausschlaggebend gewesen auf die vorhandene Infrastruktur, besonders in Hinblick auf die Qualifikation, zurückgreifen zu können. „Wir haben sehr viele Facharbeiter, aber auch Techniker von Steyr aufgenommen. Ein qualifizierter Mann hat überhaupt keine Probleme, bei uns einen Job zu bekommen, auch die Bezahlung liegt über dem Standard. Ebenso haben wir eine andere Arbeitsplatzsicherheit“, weiß der freundlich wirkende Ingenieur aus dem BMW-Konstruktionsbüro.. BMW hat einen Teil des in Steyr existenten Potentials der Branche aufgesogen. „Wir nehmen allerdings keine Blindgänger oder Problemtypen. Auch das Alter und die Leistungsfähigkeit müssen stimmen.“ So pendelt durchaus auch eine merkbare Zahl von Beschäftigten aus Linz bei BMW ein, von den Technikern und Managern aus der Bundesrepublik ganz zu schweigen. Derzeit arbeiten etwas weniger als 2.000 Beschäftigte im Motorenwerk. In bestimmten Bereichen kooperieren die beiden Großbetriebe, d.h. BMW greift auf die Steyr-Daimler-Puch AG zurück. So werden die meisten Lehrlinge in der Steyr-Lehrwerkstätte ausgebildet, BMW bezahlt pro Lehrling einen gewissen Betrag. Diese Vorgangsweise erspart dem deutschen Konzern Investitionen. In der Regel werden die qualifiziertesten und geschicktesten Lehrlinge dann bei BMW aufgenommen. Dem Betrieb, der im internen BMW-Wettbewerb zu den leistungsfähigsten zählt und eines der modernsten Motorenwerke des Kontinents ist, wird in der Region total hofiert. Geplant ist auch eine verkehrsplanerische Vorleistung: die sogenannten Nordspange, die in Wirklichkeit eine BMW-Spange ist und aus dem Bundesbudget finanziert werden soll. Sie ist allerdings auch für die Stadtbevölkerung von Interesse, da ein Teil des Schwerverkehrs auf diese Weise nicht die Stadt passieren muß, sondern direkt zu BMW fahren kann. Der moderne Privatbetrieb GFM (Gesellschaft für Fertigungstechnik und Maschinenbau) ist der dritte Betrieb in der Branche und ebenfalls ein Beleg für die wirtschaftliche Monostruktur, die für Labilität sorgt. Es entsteht eine Krise, wenn diese einzelnen Betriebe ins Wanken geraten, was bei einer ausgewogeneren ökonomischen Struktur nicht der Fall wäre.

In der Zwischenkriegszeit herrschte infolge der Dauerkrise der Steyr-Werke schreckliches Elend.
In diesen Arbeiterbaracken lebten 1927 auf der Ennsleite in Steyr etwa 320 Familien bzw. 1.300 Personen.
Bild: Stockinger

Verkehrspolitik: Vergiß Steyr

Die großen Bahn- und Straßenverbindungen gehen an Steyr vorbei. Mit der Bahn braucht man von Linz aus eine Stunde, der Bus ist auch nicht viel schneller. Eine Bürgerinitiative versuchte, eine Anbindung von Steyr an die Westbahn zu erreichen, da die Lokalverbindung nur einspurig ist. Der Elektrogroßhändler „Löwe“ Hartlauer drohte zwar, persönlich mit seinem Körper die Strecke Linz-Wels protesthalber zu blockieren, die Forderung der Steyrer wurde dennoch vom Verkehrsminister abgewunken. Zur Autobahn führt eine Bundesstraße. Den Bau einer Schnellstraße fordert Steyr bereits lange, erfolglos, wie der Bürgermeister weiß. Die schlechte Verkehrslage bedeutet für Steyr einen enormen Standortnachteil sowohl auf betrieblicher Ebene als auch in Hinblick auf den Fremdenverkehr. Der Magistrat versuchte einige weitere Schritte auf Minimalebene: so wollte man unlängst eine bessere Beschriftung der Autobahnausfahrt in Richtung Steyr erreichen. Der Bescheid der zuständigen Behörden war negativ und vielleicht auch für die Einschätzung der Region von außen symptomatisch. In der Antwort heißt es: „Es darf darauf hingewiesen werden, daß es für ortsunkundige Verkehrsteilnehmer unerläßlich ist, sich vor Antritt der Fahrt an Hand einer Straßenkarte neuerer Ausgabe über die zu wählende Fahrtroute zu informieren ... Auf diese Weise wird es somit jedem Verkehrsteilnehmer möglich sein, die Stadt Steyr nach erfolgter Wahl der jeweiligen Anschlußstelle der A1 Westautobahn entsprechend den dort aufgestellten Vorwegweisern und Wegweisern zu finden, sofern der Wunsch besteht, die Stadt Steyr zu besuchen.“

Arbeitslose am Wehrgraben.
Bei den Arbeitslosenzahlen werden in Österreich seit Jahren in Steyr die höchsten Werte ermittelt.

Die unsichtbare Krise und unsichere Prognosen

Ohne genauere Kenntnis der Situation wird man zur Zeit nicht erkennen, daß Steyr wirtschaftliche Probleme hat. Die Stadt ist mit Autos verstopft, der Handel floriert, der Stadtplatz ist voller Konsumenten. „Super geht’s in letzter Zeit, es kommen sogar viele aus’m Linzer Raum zu uns shoppen, aber auch da in Steyr geht’s gut. Kunden von BMW und Steyr kriegen von uns sogar Rabatt“, sagt die Verkäuferin aus der eleganten Boutique Casa Moda. Seit der Landesausstellung vor zwei Jahren hat auch der Tourismus etwas zugenommen. Die Teilerfolge des Fußballklubs „Vorwärts Steyr“ bringen die Stadt ins Fernsehen, ins Gespräch und tausende Oberösterreicher aus der ferneren Umgebung in die Stadt. Man muß schon etwas weiter weg vom Zentrum, etwa in den Wehrgraben, wo viele ausländische Arbeiter und Randständige leben, oder in den Neubaustadtteil Resthof gehen, um die Problemsituation mitzukriegen. Immer wieder kommt es dort zu Delogierungen. Das Muster ist meist das gleiche: neue Wohnung, Kreditaufnahme, Möbelkauf etc., Entlassung aus dem Betrieb, zu hohe Verschuldung, Zahlungsunfähigkeit. Der Geschäftsführer des jüngst eröffneten Forschungs- und Ausbildungszentrums für Arbeit und Technik (FAZAT) kennt die tatsächliche Lage: „Natürlich hat die Region eine Struktur, die notwendigerweise verbessert werden muß. Aus diesem Grund wurde diese Einrichtung ja gegründet. Es ist ein regionales Technologie- und Innovationszentrum, das Dienstleistungen in Forschung, Entwicklung, Ausbildung und Beratung anbietet und die diesbezüglichen Defizite zu überwinden trachtet.“ Finanziert von den Bundesministerien, der Stadt Steyr und dem Land Oberösterreich, mit Mitarbeitern aus dem Bereich Universität und Forschung, wird es von den Sozialpartnern unterstützt und vom gesamten Parteienspektrum des Gemeinderats in seiner Entscheidungsstruktur getragen. „Die Region ist ja im Prinzip sehr leistungsfähig, zum Teil gibt es sehr moderne Produkte. Man denke nur an den MI-Diesel-Motor von Steyr, ein exquisites Erzeugnis, was Verbrauch, Umweltbelastung und Lärm anbelangt und dem nur mehr wenig zur Serienreife fehlt. Oder die absolut modeme CAD-CAM-Abteilung des Technologie-Zentrums von Steyr-Daimler-Puch. Oder die Papierfabrik Bauernfeind im Ennstal. Oder ...“ Ohne Zweifel geht die Prognose in der Region kaum in Richtung zu befürchtende Katastrophe, sondern es ist viel eher anzunehmen, daß die gegenwärtige gesellschaftliche Tendenz in Steyr massiver zur Ausprägung kommt als anderswo: statt zur 7/8-Gesellschaft steht sehr viel eher und schneller die 3/4-Gesellschaft in Aussicht als anderswo. Oder zeigt der Hinweis des grünen Gemeinderats Pragerstorfer die mögliche Alternative an: „Wenn man das will, muß ja Steyr nicht 38.000 oder 40.000 Einwohner haben. Ich kann mir durchaus eine Stadt vorstellen ohne Krampf, ohne Tourismus, aber mit hoher ökonomischer Sicherheit und vor allem hoher Lebensqualität und mit 25.000 Einwohnern.“

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