FORVM, No. 335/336
November
1981

Stadt zu leben

Eine Sechzigjährige müht sich, auf einer Bundesstraße abends gegen 18.30 Uhr mit dem Fahrrad zu fahren. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht, warum sie keinen Führerschein hat. Ich weiß nicht, warum sie sich nicht telefonisch ein Taxi bestellt hat. Ich weiß nicht, warum kein Verwandter sie fährt. Ich weiß nicht, was sie jetzt noch aufs Fahrrad treibt.

Ich frage nur: ab wann das verzweifelt wackelnde Fahren dieser alten Frau von dem Autofahrer, der sie mit der Wucht von 80 Stundenkilometern überholt, als schrecklich empfunden werden mag.

Wer dies in seinem Kreis, seinem guten sozialpolitischen Gremium erzählt, in seinem Landesvorstand als unmerkliche Brutalisierung unseres Lebens schildert — wann wird der verstanden von denen, die gerade die Mittelzuweisung für eine Unfallspezialklinik beschließen?

Behinderungen, Einschränkungen, Verkrüppelungen da wahrnehmen, wo sie noch keine Symbole haben, wo sie noch nicht in die Fortschrittstransparente unseres Bewußtseins eingestanzt sind.

Oder das Kind, das gegen den Betonpfeiler pinkelt, weil es den Aufzug in den 14. Stock nicht rechtzeitig erreicht hat, der Gestank der fotogenen Steinszenen und Wohnlandschaften. Das Schuldbewußtsein des Kindes, das sich selbst als verantwortlich für sein Pinkelunglück hält. Die Schelte des Hausmeisters und die Ohrfeige der Mutter.

Wir können die Augen nicht davor verschließen, daß die gewalttätigen Jugendlichen in einer Welt aufwachsen, in der sie dauernd mit Gewalt, auch mit legitimierter, konfrontiert sind.

Wir alle erleben täglich Gewalt, sei es persönlich, sei es durch Beobachtung. Schon im täglichen Umgang. Im Straßenverkehr, in der Politik, in der Wirtschaft, im sportlichen und kulturellen Wettbewerb — meist gilt das Recht des Stärkeren, auch wenn das gewaltsame Element dabei öfter verborgen als offen zum Zug kommt.

Die Stadt ist das Zentrum der Integration, sie ist zugleich aber auch die Mitursache für das Auseinanderfallen der Gesellschaft. Was Vereinsamung in der Stadt genannt wird, ist die seelisch gefühlte Folge unzähliger Aussteiger-Phänomene. Die Gesellschaft gewinnt ihre Kraft zum Zusammenhalt in der Stadt, und sie verspielt diese Kraft in der Stadt.

Alte Menschen in Mietskasernen vereinsamen. Die Stadtpolitik der letzten Jahre bietet ihnen keine Bewegungsmöglichkeiten mehr. Die Verdrängung der kleinen Läden, die hochgeschossigen Gebäude mit Fahrstühlen, die Gewalt in den Treppenhäusern machen die Rentnerwohnung zur Fluchtburg in einer vermeintlich von Räubern umstellten Fremde.

Die Subvention eines Zigaretten- und Zeitungsladens könnte sich letztlich als billiger erweisen als die sozialen Kosten, die aus dieser stillen Angst und Einsamkeit entstehen.

Eine städtische Gesellschaft könnte auseinanderbrechen, ohne daß die Programmacher der Fernseh-Unterhaltungssendungen dies wahrnehmen würden.

Das Fernsehen öffnet die Welt, aber es blockiert die Erfahrungsfähigkeit. Wahrscheinlich ist die großstädtische wie die ländliche Bevölkerung in ihrem Verhalten von keiner anderen Großtechnologie neben dem Auto so bestimmt und verändert worden wie vom Fernsehen. Naturersatz, Gesprächsersatz, Erfahrungsersatz, Gefühlsersatz — alle diese Placebostoffe verändern das Verhalten, das Leben in den Städten total.

Es gibt die bewußte ökologische Gegenbewegung. Sie erreicht aber gerade die besonders betroffenen und kaum noch erfahrungsfähigen Alten und Kinder nicht.

Die neue Stadtpolitik muß auf einen Nenner gebracht werden. Ich schlage vor, »Städte ohne Gewalt« anzustreben. Städte ohne Gewalt sind keine fiktiven neuen Städte der Science-fiction oder der Gründuselei. Städte ohne Gewalt sollen unsere eigenen Städte sein: Bologna, Flensburg, Lille oder Linz.

Das Konzept Städte ohne Gewalt zielt auf

  • alternative Architekturformen,
  • verkehrsberuhigte Lebensräume,
  • Ächtung von Bodenspekulation,
  • Veränderung der kommunalpolitischen Strukturen,
  • Veränderung der sozialpolitischen Versorgungsphilosophie,
  • Stärkung der Selbst- und Mitbestimmung nicht nur durch formale Geschäftsordnungsreformen, sondern auch durch inhaltliche Lebens- und Umgangsformen: ökologische Sorgfalt im Umgang mit Wasser, Energie und Abfall stärkt die Eigenleistung, die Selbständigkeit, die Mitwirkungsmöglichkeit. Unökologische Versorgungs- und Entsorgungskonzepte lähmen diese Beteiligungskraft.

Städte ohne Gewalt setzen voraus, daß die Auflösungszwänge der Gesellschaft durch kleine Netze und Nischen abgewehrt werden. Gesprächs- und Begegnungsmöglichkeiten sind wichtiger als Verkabelung der Gehirne und Verdrahtung der Sehnsüchte.

Städte ohne Gewalt sind kein neues kommunalpolitisches Ziel, keine zusätzliche Aufgabe der Kommunalpolitiker. Stadt ohne Gewalt das ist das Konzept einer Verknüpfung von Kommunalpolitik und sozialer Bewegung, ist ein Akzeptieren der Alternativbewegung in der Stadt und für die Stadt.

Stadt ohne Gewalt ist zugleich aber auch ein Konzept, bei dem die Alternativbewegung die Ungleichzeitigkeit der kommunalpolitischen Zwänge akzeptieren lernen muß. Angstmythen des vorigen Jahrhunderts stehen gegen das Neue, die Stadtverwaltung kann sich nicht durch einen Sprung in die Alternative aus den Sicherheitsbedürfnissen vieler Bürger befreien. Sie muß verknüpfen, was verknüpfbar ist.

Träger eines solchen Konzepts könnte eine wach gewordene Sozialdemokratie und eine ernst gewordene Alternativbewegung werden. Sie sollten nicht billig verschmelzen, sondern zwei Rollen übernehmen, um gemeinsam die Bedrohung des städtischen Lebens der Menschen zu bekämpfen.

Stadt ohne Gewalt wäre ein Konzept, das Strahlkraft auf die Stadthöllen der Dritten Welt haben könnte. Alternative Stadtkultur sollte auf einem großen Weltkongreß der Großstädte — unabhängig von der staatlichen Ebene — als Herausforderung und Chance dargestellt werden.

Für die Probleme von Mexico City oder Kalkutta genügt kein einfaches Konzept, aber eine Utopie, eine Vision, die sich abkehrt von Science-fiction-Träumen, das könnte ein Beitrag sein. Ein solcher von den Städten selbst getragener Kongreß könnte das Forum bilden für eine neue Charta, die die von Athen ablöst: Die Charta der friedlichen Stadt.

Die Stadt hielt sich stets für die Trägerin des Fortschritts. Aus dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung, aus der Erziehung des Menschengeschlechts ist ja die technisch-scientistische Utopie geworden, in der die Menschen nur noch gesichtslose Versatz-Figuren technischer Entwürfe wurden.

Die Behauptung, wir seien fortschrittsfeindlich, trifft nicht. Wir haben die Aufklätung immer als eine geistige Bewegung angesehen, in der der Wille voranzukommen im Gleichgewicht stand mit der Bereitschaft, Rücksicht zu nehmen, zurückzusehen, unser Menschenbild, unsere menschlichen Dimensionen zu akzeptieren. Erst der rücksichtslose Fortschritt der Science-fiction-Städte hat den Menschen zur Puppe im Testauto, zur verhaltensgerechten Statistikfigur gemacht. Die Gesichtslosigkeit solcher Städte schafft die Geschichtslosigkeit ihrer Bewohner.

Die zentralistischen großtechnologischen Systeme — Verkehr, Versorgung und Fernsehen — ebnen die historischen Städte ein. Die Alternativbewegung, die Suche nach dem verlorenen Menschenmaß in der Stadt gibt ihr wieder Gesicht und Eigenheit. Je stärker sie diese großtechnologischen Systeme aus dem Zentrum des Interesses an den Rand verbannt, umso respektvoller, rücksichtsvoller kann der Stadtbürger mit dem Fortschritt umgehen.

Eine Stadt mit einem voll entfalteten Fahrradwegesystem und neuen Fahrrad-Infrastrukturen ist fortschrittlicher als eine Stadt mit Stadtautobahnen. Einfach deshalb, weil der Fahrradfahrer um seiner Sicherheit und um seiner Freiheit willen gezwungen ist, Rücksicht zu nehmen, Respekt vor seinen Mitbürgern zu haben.

Vorgetragen am Österreichischen Naturschutztag, Wien, 24. Oktober 1981

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