FORVM, No. 117
Juli
1963

Stalin ist noch nicht tot

(Zweiter Teil des „Privatbriefes über Stalinismus“ in Heft 115-116)
voriger Teil: Privatbrief über Stalinismus

Stalin ließ den zwischen Hitler-Deutschland und den Westmächten ausbrechenden Krieg für einen ebensolchen imperialistischen Weltkrieg erklären, wie es der Erste Weltkrieg war. Das heißt: die damals richtigen strategischen Losungen Lenins („Der Feind steht im eigenen Land“, „Verwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg“, etc.) sollten unverändert für Länder gelten, die sich gegen den Hitlerfaschismus verteidigen sollten und wollten. Man braucht nur den ersten Band des Romanzyklus „Die Kommunisten“ von einem so parteitreuen Schriftsteller wie Aragon zu lesen, um die international verheerenden Folgen dieser Stalin’schen „Verallgemeinerung“ eines taktischen Schrittes zu erkennen.

Abrechnung: prinzipiell und radikal

Die verhängnisvollsten Konsequenzen gehen jedoch über noch so krasse Einzelfälle hinaus. Die große Autorität des Marxismus zur Zeit Lenins beruhte darauf, daß die dialektische Einheit von theoretischer Fundiertheit, Prinzipienfestigkeit und taktischer Elastizität allgemein empfunden wurde. Die neue „Methodologie“ Stalins führte dazu, daß weite und keineswegs immer dem Marxismus a limine feindlich gesinnte Kreise in den theoretischen Verkündigungen Stalins nunmehr nichts weiter sahen als oft sophistische, in vielen Fällen pseudotheoretische „Begründungen“ für rein taktische Maßnahmen von oft rasch vorübergehender Geltung. Stalin kam damit den theoretischen Wünschen vieler bürgerlicher Denker, wonach der Marxismus ebenso bloß eine politische „Ideologie“ sei wie jede andere, weit entgegen. Wenn heute tiefe und richtige Parolen Chruschtschews, wie Vermeidbarkeit des imperialistischen Krieges, Koexistenz etc., vielfach ähnliche Auslegungen erfahren, so wirkt sich hier die Stalin’sche Erbschaft aus. Eine prinzipiell-radikale Abrechnung mit ihrer Methodologie, und nicht bloß mit den als vereinzelt aufgefaßten Fehlern, ist also auch im dringlichsten praktischen Sinne eine Forderung des Tages.

Die hier aufgezählten Fälle sind natürlich solche extremen Charakters. Ihre Prinzipien wurden jedoch in der täglichen Praxis allgemein wirksam. Man darf dabei, neben den bis jetzt erwähnten Gründen, nicht außer acht lassen, daß ein beträchtlicher Teil der alten Partei-Intelligenz in Opposition zu Stalin stand (woraus natürlich nicht folgt, daß solche Oppositionen methodologisch und sachlich richtige Standpunkte vertraten). Stalin brauchte die genaue Durchführung seiner Entschlüsse durch den Apparat, womöglich auch die Zustimmung der breitesten Massen; auch deshalb vereinfachte er radikal seine theoretischen Enunziationen. Die Ausschaltung der Vermittlungen, die unmittelbare Verbindung der allgemeinsten Prinzipien mit den konkreten Anforderungen der Tagespraxis erschien dazu als sehr geeignetes Mittel. Auch hier wurde nicht die Theorie in Anwendung auf die Praxis konkretisiert, sondern, umgekehrt, die Prinzipien nach den — oft bloß vermeintlichen — Bedürfnissen der Praxis bis zur Vulgarisation vereinfacht.

Auch hier greife ich aus der Fülle der Tatsachen nur ein charakteristisches Beispiel heraus. In seiner letzten ökonomischen Arbeit „entdeckte“ Stalin, daß — was Marx, Engels und Lenin „entgangen“ war — jede ökonomische Formation ein „Grundgesetz“ habe, das sich in einem kurzen Satz zusammendrängen läßt. Es ist so einfach, daß es auch der bornierteste und ungebildetste Funktionär sofort versteht; ja mehr als das: er ist mit seiner Hilfe instand gesetzt, jede wissenschaftlich-ökonomische Arbeit, von der er sachlich nichts versteht, auf ihre „rechten“ oder „linken“ Abweichungen hin sofort abzuurteilen.

Marx, Engels und Lenin wußten, daß die ökonomischen Formationen komplizierte bewegte Systeme bilden, deren Wesen sich nur durch ein genaues Aufdecken aller wichtigen Bestimmungen, deren Wechselbeziehungen, Proportionen etc. umschreiben läßt. Stalins „Grundgesetze“ besagen Trivialitäten, erklären gar nichts, sie erfüllen aber bestimmte Kreise mit der Illusion, alles besser zu wissen. In die selbe Richtung der Vulgarisation durch das Ausschalten der Vermittlungen gehört die Feststellung Stalins in seinem Aufsatz über Sprachwissenschaft, wonach mit dem Verschwinden einer ökonomischen Formation auch ihre Ideologie verschwinden muß, etc. etc.

Stalins Bibel darf nicht bleiben

Die verschiedenen Momente der Stalin’schen Methode bilden eine systematische Einheit und gehen innerhalb dieser ineinander über. Der Subjektivismus in der Person Stalins ist Ihnen sicher schon bisher aufgefallen. Er bildet tatsächlich ein fundamentales Moment in diesem System. Er erhält seine reine Gestalt in der Stalin’schen Auffassung der Parteilichkeit. Auch hier handelt es sich um einen wichtigen Bestandteil der theoretischen Konzeption Lenins. Bereits in seinen Jugendwerken beschäftigt er sich mit diesem Problem und arbeitet dessen subjektive wie objektive Momente heraus. Das subjektive Moment ist klar und einfach: die entschiedene Stellungnahme im Klassenkampf. Wenn jedoch Lenin den Objektivismus der bürgerlichen Gelehrten kritisiert, so weist er auf eine gewisse Art des Determinismus hin, der sehr leicht in eine Apologetik der als notwendig aufgefaßten Tatsachen umschlagen kann. Indem die materialistische Parteilichkeit die Ereignisse tiefer und konkreter, von ihren wirklichen bewegenden Kräften ausgehend untersucht, ist sie konsequenter objektiv als der „Objektivist“, bringt die Objektivität tiefer und vollständiger zur Geltung. Bei Stalin fällt dieses zweite Moment ganz weg; es entsteht ein Verwerfen in Bausch und Bogen eines jeden Dranges nach Objektivität; dieser wird mit dem Stempel des „Objektivismus“ versehen und damit verächtlich gemacht. (Da Stalin ein kluger Mensch war, erschrak er zuweilen vor den Folgen des von ihm entfesselten Subjektivismus, so z.B. in der Ökonomie. Aber dauernd konnte und wollte er ihn nicht eliminieren; dazu war diese Einstellung viel zu tief in der von ihm eingeführten Methode verankert.)

Da Stalin die zitatenmäßige Kontinuität mit dem Werk Lenins um jeden Preis aufrechterhalten wollte, entstanden dabei nicht nur Vergewaltigungen der Tatsachen, sondern auch der Lenin’schen Texte. Das auffallendste Beispiel ist jener Artikel Lenins aus dem Jahre 1905, mit welchem er, unter den neuen Bedingungen der Legalität, Ordnung in der Parteipresse und im Parteiverlag schaffen wollte. Allmählich wurde aber unter Stalin dieser Artikel zur Bibel der „Parteilichkeit“ auf dem ganzen Gebiete der Kultur, vor allem auf dem der Literatur, mit der Absicht, den Schriftsteller in eine bloße Schraube der großen Maschinerie zu verwandeln. Und obwohl Lenins Frau und nächste Mitarbeiterin, N. Krupskaja, brieflich darauf hingewiesen hat, daß dieser Artikel Lenins sich überhaupt nicht auf schöne Literatur bezieht, sind noch heute Tendenzen vorhanden, die Bibel Bibel bleiben zu lassen.

Ähnlich erging es Hegel zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, als, aus agitatorischen Bedürfnissen des Kampfes gegen Hitler-Deutschland, er zum Ideologen des reaktionären Widerstandes gegen die französische Revolution verfälscht wurde. Es mag — ganz abgesehen von dem Widerspruch dieser Auffassung zu den Anschauungen von Marx, Engels und Lenin — als komischer Kontrast erwähnt werden, daß zur selben Zeit, aus ähnlichen agitatorischen Bedürfnissen, aus dem zaristischen General Suworow ein Revolutionär gemacht wurde. Daß Suworow Feldzüge gegen die französische Revolution leitete, während Hegel bis an sein Lebensende begeistert für sie eintrat, hat die Stalin’sche „Parteilichkeit“ nicht gestört; die Anerkennung der Tatsachen wäre ja „Objektivismus“ gewesen.

Den Gipfelpunkt dieser Tendenz bildet „die in vielen Millionen Exemplaren verbreitete Parteigeschichte. Hier ist einfach die „Parteilichkeit“ des obersten Funktionärs jener Demiurg, der Tatsachen schafft oder verschwinden läßt, der Menschen und Taten nach Bedürfnis zum Sein und zur Geltung erhebt oder annulliert. Es ist eine Geschichte vom Kampf der Richtungen, welche aber von keinen Menschen vertreten oder getragen sind, von anonymen Oppositionen etc., eine Geschichte, in welcher, natürlich außer Lenin, bloß Stalin Existenz besitzt. (In der ersten Ausgabe fand sich freilich eine Ausnahme; Jeshow, „unser Marat“, der erste Vorbereiter der großen Prozesse kam gleichfalls vor; nach seinem Sturz wurde auch sein Name ausgelöscht.)

In alledem wird ein weiterer methodologischer Gedanke sichtbar. Für die Klassiker des Marxismus galt es als selbstverständlich, daß die Wissenschaft das Material und die Gesichtspunkte liefert, auf Grund welcher die politischen Entscheidungen gefällt werden. Propaganda und Agitation erhalten ihren Stoff aus der Wissenschaft, aus der wissenschaftlich durchgearbeiteten Praxis. Stalin kehrt dieses Verhältnis um. Für ihn ist, aus Gründen der „Parteilichkeit“, die Agitation das Primäre. Ihre Bedürfnisse bestimmen, wie ich dies schon früher an einigen Beispielen zeigte, was die Wissenschaft zu sagen habe und wie sie es sagen soll. Auch hier möge ein Beispiel dies beleuchten. Stalin stellt im berühmt gewordenen IV. Kapitel der Parteigeschichte das Wesen des dialektischen und des historischen Materialismus dar. Da es sich um ein populäres Buch für Massenleser handelt, würde es Stalin niemand übelnehmen, daß er die sehr weit verzweigten und komplizierten Auseinandersetzungen der Klassiker über dieses Thema auf einige, schematisch-lehrbuchhaft nebeneinander gereihte Definitionen reduziert. Jedoch das Schicksal der philosophischen Wissenschaften nach dem Erscheinen dieses Werks zeigt, daß es sich um eine bewußte Methodologie und Kulturpolitik handelt, und zwar in dem Sinn, den ich soeben aufgezeigt habe. Die Stalin’schen agitatorischen Vereinfachungen (oft Vulgarisationen) wurden nämlich sofort zur alleinigen, gebieterischen Richtschnur und zur unübersteigbaren Schranke der philosophischen Forschung. Wer es wagte, z.B. auf Lenins philosophische Aufzeichnungen gestützt, über die Bestimmungen des IV. Kapitels hinauszugehen oder sie einfach nur zu ergänzen, verfiel der ideologischen Verdammung, konnte seine Untersuchungen nicht veröffentlichen. Nicht umsonst stellte Ijitschow am XXII. Kongreß fest, daß Philosophie, Ökonomie und Historik in den letzten Jahrzehnten stagniert haben.

Literatur ist nicht Illustration

Diese Formen der Unterordnung beschränkten sich nicht auf das IV. Kapitel und nicht nur auf die Philosophie. Die ganze Wissenschaft und die ganze Literatur sollten ausschließlich den von oben, von Stalin formulierten Agitationsbedürfnissen dienen. Selbständiges Erfassen und Bearbeiten der Wirklichkeit durch die Literatur war zunehmend verpönt. Die „parteiliche“ Literatur soll ja nicht die objektive Wirklichkeit schöpferisch widerspiegeln, sondern die Parteibeschlüsse in literarischer Form illustrieren. Es gereicht der Kritikerin Jelena Ussijewitsch zu hoher Ehre, daß sie gegen diesen Zwang zur illustrierenden Literatur schon in den Dreißigerjahren auftrat. In seiner Rede am XXII. Kongreß hat der Dichter Twardowski diesen auch heute notwendigen Kampf weiter fortgesetzt. Es handelt sich dabei um eine Lebensfrage der Literatur. Sie kann nur dann zu einer echten Gestaltung kommen, wenn sie von wirklichen Problemen wirklicher Menschen ausgeht und die innere Dialektik der daraus entstehenden Entwicklung walten läßt. Das Gebot zur Illustration macht eine abstrakte, eine allgemeine Wahrheit (wenn sie eine Wahrheit ist?) zur Grundlage des Werks, die Menschen und ihre Schicksale müssen um jeden Preis dieser These angepaßt werden.

All dies war natürlich kein Selbstzweck, sondern entsprang aus Stalins Position, aus seinem Bedürfnis des unbestrittenen Führertums. Wie früher muß ich auch jetzt sagen: nur eingehende Untersuchungen kompetenter Kenner des Stoffes werden darüber ein Urteil fällen, welche Rolle den objektiven Schwierigkeiten und welche Rolle den inadäquaten Reaktionen Stalins auf sie zufällt. Objektiv gibt es in den Dreißigerjahren zweifellos eine Verschärfung der Lage: im Inneren infolge der forçierten Industrialisierung und infolge der Kollektivisierung der Landwirtschaft, außenpolitisch infolge der Machtergreifung Hitlers und des drohenden Angriffs auf die Sowjetunion durch das faschistische Deutschland. Ob sich der Klassenkampf im Lande selbst, bei allen ökonomischen Schwierigkeiten, wirklich entscheidend verschärft hat, darüber können nur Forschungen von Kennern des Stoffes ein kompetentes Urteil fällen. Stalin hat jedenfalls rasch die Parole der agitatorisch-vereinfachten Verallgemeinerung gefunden: die unablässige Verschärfung des Klassenkampfes sei in der Diktatur des Proletariats notwendig — fast hätte ich gesagt, ist ihr „Grundgesetz“.

Diese These, die bereits der XX. Kongreß als falsch entlarvt hat, bringt die verhängnisvollsten Folgen der Methode Stalins ans Tageslicht. Sie will eine Atmosphäre des immerwährenden gegenseitigen Mißtrauens, einer gegen alle gerichteten Wachsamkeit hervorrufen, die Stimmung eines Belagerungszustandes in Permanenz. Ich kann hier die nebensächlichen Konsequenzen nur kurz und fragmentarisch berühren, z.B. eine ins Maßlose gesteigerte Furcht vor Feinden, vor Spionen und Diversanten, woraus ein überspanntes System des Geheimhaltens von allem entstand, was mit staatlichen Angelegenheiten irgend etwas zu tun hatte. So wurde z.B. aus der Statistik eine „streng geheime“ Wissenschaft, deren Ergebnisse nur den völlig Zuverlässigen zugänglich gemacht werden durften; die wissenschaftlichen Arbeiter der Ökonomie gehörten nur ausnahmsweise — und nie aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten — zu diesem engen Kreis der Auserwählten.

Keine Einzelfehler, sondern falsches System

Damit tritt ein neuer, ergänzender Zug dem Bilde der Stalin’schen Methode hinzu: alles, was in einer akut revolutionären Situation, in der es tatsächlich um Sein oder Nichtsein einer Gesellschaft geht, objektiv unvermeidlich ist, wurde von Stalin willkürlich zum Fundament des sowjetischen Alltags gemacht. Ich will hier nicht über die großen Prozesse sprechen. Dieses Thema wurde bisher am eingehendsten behandelt, und in seiner Rede am XXII. Kongreß hat Scheljepin sehr richtig die Konsequenzen für das sowjetische Rechtswesen und für die sozialistische Rechtswissenschaft analysiert. Ich möchte nur kurz auf bestimmte kulturelle Folgen dieser Lage aufmerksam machen. Schon das Eliminieren der Vermittlungen enthält in sich die Tendenz, alle Phänomene des Lebens als völlig monolithische zu behandeln. Durch die Permanenz des akut Revolutionären erhält sie eine weitere Steigerung. Jeder Mensch wird in der Totalität seiner Existenz, in allen Bestimmungen seiner Persönlichkeit und seines Lebenswerks jener Rolle restlos subsumiert, die er — wirklich oder angeblich — in einem so aufgefaßten Leben momentan spielt.

Um aus der „Logik“ der Prozesse ein Beispiel zu nehmen: weil Bucharin 1928 gegen den Stalin’schen Plan der Kollektivisierung auftrat, darum ist es sicher, daß er 1918 sich an einer Verschwörung gegen Lenins Leben beteiligte. Das ist die Methode Wyschinskis in den großen Prozessen. Diese Methode entwickelt sich jedoch auch zu der der Beurteilung von Geschichte, von Wissenschaft und Kunst. Auch hier ist es lehrreich, die Methode Lenins der Methode Stalins gegenüberzustellen. Lenin hat z.B. die Politik Plechanows 1905 und 1917 hart und scharf kritisiert. Zugleich aber — und dieses Zugleich bedeutet für Lenin keinen Widerspruch — besteht er darauf, daß das theoretische Lebenswerk Plechanows für die Ausbreitung und Vertiefung der marxistischen Kultur im Sozialismus ständig benützt werde, obwohl er auch auf rein theoretischem Gebiet manchen gewichtigen Einwand gegen Plechanow erhebt.

Ich habe den Stoff keineswegs erschöpft. Aber bereits diese flüchtigen und fragmentarischen Bemerkungen können Ihnen zeigen, daß es sich bei Stalin keineswegs — wie manche lange Zeit glauben machen wollten — um einzelne, gelegentliche Fehler handelt, sondern um ein sich allmählich ausbildendes falsches System von Anschauungen, um ein System, unter dessen schädlichen Wirkungen man desto empfindlicher leidet, je weniger das gegenwärtige gesellschaftliche Sein jenem gleichzusetzen ist, als dessen verzerrende und verzerrte Spiegelung das Stalin’sche System erscheint. Auch hier sind die entscheidenden Tatsachen allgemein bekannt. Ich zähle sie also nur ganz kurz auf: den Sozialismus in einem Lande haben die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg in eine historische Reminiszenz verwandelt, ebenso wie die ökonomische und kulturelle Zurückgebliebenheit der Sowjetunion; auch die Möglichkeit ihrer Einkreisung durch den Kapitalismus gehört der Vergangenheit an. Zu diesen Tatsachen tritt die erfolgreiche Befreiung der Kolonialvölker, die Umwälzung der Kriegsführung durch Raketen, nukleare Bomben. Aus allen diesen Gründen hat die Unvermeidlichkeit der imperialistischen Kriege ebenfalls aufgehört, eine Notwendigkeit zu sein. Es ist das große Verdienst des XX. und XXII. Kongresses, diese neue Lage erkannt und aus ihr die wichtigsten theoretischen und praktischen Folgerungen gezogen zu haben. Natürlich scheiden sich die Geister vor allem nach ihrer Stellungnahme zu Krieg oder Frieden. Um diese Frage spitzen sich auch die ideologischen Fragen am schärfsten zu. Ohne hier das politisch Wesentliche auch nur streifen zu können, muß ich hervorheben, daß auf kulturellem Gebiet die Betonung der Kriegsgefahr, das Unterschätzen des Gewichts jener Kräfte, die für die friedliche Koexistenz tätig sind, Folgen hat, die in den meisten Fällen mehr nach innen als nach außen gerichtet sind; das heißt, sie bezwecken weit unmittelbarer die Remanenz oder die Entstehung einer Kriegsatmosphäre als die wirkliche Vorbereitung oder Entfachung eines wirklichen Krieges. Hier ist das Weiterleben Stalin’scher Tendenzen in den Kreisen des offenen oder maskierten Sektierertums deutlich sichtbar. Wenige werden heute die allgemeine These Stalins von der zwangsläufigen Verschärfung der Klassenkämpfe mit denselben Worten aufrechterhalten. Es genügt ja zur Konservierung des Stalin’schen Status quo im Inneren, für den jeweils gegenwärtigen Augenblick eine solche Verschärfung festzustellen, um damit in der akuten Spannung die zentralistische Kontrolle aller kulturellen Äußerungen ebenfalls zu konservieren; der „Augenblick“ kann natürlich nach Belieben prolongiert werden.

Das Bündnis der Neostalinisten

Hier ist die Grundlage für das de facto bestehende Bündnis der extremen Richtungen in Kapitalismus und Sozialismus. Beide erstreben, letzten Endes, die unveränderte Aufbewahrung der Stalin’schen Methoden. Die bürgerlichen Ideologen, weil ein auf Stalin reduzierter Marxismus viel weniger Anziehungskraft besitzt als der echte, die angeblich sozialistischen Ideologen, weil das Regieren mit Stalin’schen Methoden weitaus bequemer ist als mit denen von Marx und Lenin. Darum gehören heute — unmittelbar betrachtet und paradoxerweise — Enver Hodsha und Salvadore Madariaga zusammen. Beide sind im Grunde genommen Kämpfer für die Integrität des Stalin’schen Systems.

Auf der anderen Seite bedeutet die Koexistenz notwendig eine Steigerung auch der kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Kapitalismus und Sozialismus, somit die Forderung an die sozialistische Kultur, aus der lebendigen Konkurrenz mit der kapitalistischen siegreich hervorzugehen. Das Sektierertum tut alles, nicht nur um die Bedingungen eines erfolgreichen Wettbewerbs zu schwächen, sondern auch, um die wahre Lage zu verschleiern. Diese ist nämlich weitaus ungünstiger als in den Zwanzigerjahren, als die Stalin’schen Methoden noch nicht ausgebildet und systematisch auf alle kulturellen Erzeugnisse angewendet waren. Der westdeutsche Kritiker Walter Jens schildert die deutsche Literatur dieser Zeit so: „Am Ende wird niemand zweifeln, daß nicht zuletzt der Blick auf die Sowjetunion die Kunst der Zwanzigerjahre geprägt hat.“ Und über die Wirkung der siegreichen Stalin’schen Methode spricht er sich so aus: „Die Intelligenz wurde nun für immer heimatlos.“

Es ist die große Aufgabe der sozialistischen Kultur, der Intelligenz und über sie hinaus den Massen eine geistige Heimat zu zeigen. In der politisch wie wirtschaftlich so schweren Zeit der Zwanzigerjahre ist das weitgehend gelungen. Daß diese Tendenzen später auf dem internationalen Kraftfeld der Kultur sehr abgeschwächt wurden, ist eine Folge der Stalin’schen Periode. Aber diese Kräfte können wieder erwachen, wenn die ungünstigen Bedingungen und ihre Entfaltung abgebaut werden. Ein Film wie Tschuchrajs „Ballade vom Soldaten“ zeigt deutlich, daß das Stalin’sche Regime die produktiven Energien nur unterdrücken, nicht aber ersticken konnte.

Paradies für Unbegabte

Freilich will ich mit dieser Feststellung die Schwierigkeiten der Übergangszeit nicht unterschätzen. Da die Kulturapparate der sozialistischen Länder heute noch weitgehend von den dogmatischen Anhängern Stalins, die sich bestenfalls äußerlich dem Neuen anpassen, besetzt sind; da bedeutende Teile des Kadernachwuchses im Stalin’schen Geist erzogen und geformt wurden; da dieses System ein Paradies für Unbegabte und sich mühelos Anpassende ist; da viele, sogar unter den Begabten, dem langen Druck nicht standhalten konnten, ohne Schäden an Fähigkeit und Charakter zu erleiden, etc.: deshalb wird der Übergang zu einem Wissenschaft und Kunst wirklich fördernden Kulturzustand voraussichtlich widerspruchsvoll, schwer, an Rückfällen reich sein.

Der XXI. Kongreß hat unter anderem wichtige Bestandsaufnahmen über den gegenwärtigen Zustand gebracht. Ich habe einige solcher Stimmen bereits angeführt. Das aktuell Bedeutsamste ist jedoch nicht, was unmittelbar auf kulturellem Gebiet geschieht, sondern jene ökonomischen und politischen Maßnahmen, die eine allgemeine Demokratisierung kommunistischen Sinnes ins gesellschaftliche Sein einführen. Hier herrscht eine weitaus unmittelbar drängendere Notwendigkeit der Reformen vor als auf dem Feld der Kultur. Bei allen ihren Fehlern war die Stalin’sche Industrialisierung imstande, die technischen Möglichkeiten für den erfolgreichen Krieg gegen Hitler-Deutschland herbeizuschaffen. Die neue Weltlage stellt jedoch die Sowjetunion auf ökonomischem Gebiete vor ganz neue Aufgaben: sie muß eine Wirtschaft schaffen, die auf der ganzen Oberfläche des Lebens den entwickeltsten Kapitalismus, den der Vereinigten Staaten, übertrifft, die das Lebensniveau der sowjetischen Bevölkerung auf ein höheres als das dort erreichte erhebt, zugleich aber imstande ist, sowohl den anderen sozialistischen Staaten wie den sich befreienden, ökonomisch zurückgebliebenen Völkern eine allseitige, systematische und permanente wirtschaftliche Hilfe zu leisten. Dazu sind neue, weniger bürokratisch zentralisierte, demokratischere Methoden notwendig als die, die sich bis jetzt ausbilden konnten. Der XXII. Kongreß hat hier ein großzügiges und vielseitiges Reformwerk eingeleitet. Ich verweise nur auf seinen höchst interessanten und wichtigen Beschluß, daß bei den Wahlen der Parteiinstanzen 25 Prozent der alten Führung nicht wiedergewählt werden darf. Nur die systematische demokratische Erneuerung des ganzen Lebens kann die gesunde Grundlage für die kulturelle Renaissance im Sozialismus abgeben.

Der Widerstand gegen eine prinzipiell-radikale Kritik der Stalin’schen Periode ist auch heute noch sehr stark. In ihm vereinigen sich die mannigfaltigsten Motive. Gutgläubige und Wohlwollende befürchten zum Beispiel einen Prestigeverlust des Kommunismus bei schonungslosem Aufdecken der Fehlerhaftigkeit des Stalin’schen Systems. Sie übersehen, daß gerade darin die unwiderstehliche Macht des Kommunismus zur Geltung kommt: welthistorisch fällige Bewegungen können durch noch so ungünstige Maßnahmen nicht dauernd aufgehalten werden. Ihre Entfaltung, ihr Wirkungsradius kann eingeengt werden, nicht aber ihre Entwicklung und Festigung zu guter Letzt. Dazu ist noch zu bemerken: kein unbefangenes Denken wird das Positive an der Wirksamkeit Stalins übersehen; ich selbst habe hier auf seinen verdienten Sieg in den Diskussionen der Zwanzigerjahre hingewiesen, und man könnte sicher noch manches andere erwähnen. Aber die „Forderung des Tages“ ist die Befreiung des Sozialismus von den Fesseln der Stalin’schen Methoden. Ist Stalin einmal zur Geschichte, zur Vergangenheit geworden, ist er nicht mehr das aktuelle Haupthemmnis einer Zukunftsentwicklung, so wird man ihn ohne große Schwierigkeiten historisch richtig einschätzen können. Ich selbst habe verschiedentlich eine geschichtlich gerechte Beurteilung angeregt; diese darf aber die heute so wichtige Reformarbeit nicht bremsen.

Erstarrte Theorie

Es handelt sich um die Entfesselung jener Kräfte, die in der richtigen Methode von Marx, Engels und Lenin enthalten sind. Chruschtschew hat in seiner Bukarester Rede den Gegensatz von echt Lenin’scher Methode und dogmatisch-anlaßgebundenen Aussagen im Geiste Stalins mit dem treffenden Bild deutlich gemacht, daß Lenin heute jene Leute bei den Ohren nehmen würde, die mit Zitaten aus seinen Schriften und Reden die gegenwärtige Unvermeidlichkeit der Kriege verkünden würden. Aber das Zurückgreifen auf die unverfälschte Methode der Klassiker des Marxismus ist vor allem ein Griff in die Gegenwart, in die Zukunft. Die letzte originelle marxistische ökonomische Untersuchung, Lenins „Imperialismus“, ist 1916 erschienen; die letzte originelle marxistische Untersuchung auf philosophischem Gebiet, Lenins Hegel-Analyse, ist in den Jahren 1914/15 entstanden und wurde in den Dreißigerjahren veröffentlicht. Aber die Welt ist nicht stehengeblieben, weil unsere Theorie erstarrt ist. Der Rückgriff auf die Methode der Klassiker des Marxismus ist eben dazu da, die Gegenwart, so wie sie wirklich ist, marxistisch zu erfassen, um aus der richtig erkannten Wirklichkeit und nicht aus einer schematischen Zitatologie die Richtschnur für Verhalten und Handeln, für Schaffen und Forschen zu gewinnen.

Natürlich ist dieser Prozeß — auch abgesehen von den Hemmungen durch die Instanzen — kein einfacher. Es gehört zum Wesen der wissenschaftlichen Forschung (und der künstlerischen Gestaltung), daß sie in den meisten Fällen erst durch vielfache Irrungen sich zur maximalen Annäherung an die Wirklichkeit heranarbeiten kann. Da in der Stalin’schen Periode die Zentralinstanz unfehlbar sein mußte, mußten die von den kleinen Stalins bewerkstelligten Anwendungen ebenfalls „vollkommen“ sein. Daß diese „Vollkommenheit“ und „Endgültigkeit“ eine äußerst ephemere war, daß sie nicht selten nach kurzer Zeit als Abweichung verworfen wurde, ist ebenfalls eine Signatur dieser Zeit. Auch hier gibt es über die Stimmung der russischen Intelligenz am Anfang der Dreißigerjahre ein Dokument der Witzfolklore. Damals erschien jedes Jahr ein Band der Literatur-Enzyklopädie, natürlich stets streng im Sinne der „Vollkommenheit“ redigiert. Jedoch bis die Drucklegung vollendet war, wurden aus den dogmatisch fixierten Wahrheiten fast ausschließlich ebenso dogmatisch festgestellte Fehler. Der Volksmund nannte deshalb dieses Werk nur „Enzyklopädie der Abweichungen“. Ein Verzicht auf die bürokratisch dekretierte „Endgültigkeit“, ein öffentliches Austragen der realen Differenzen in Wissenschaft und Kunst würde innerlich einen ungeahnten Aufschwung für den Marxismus bedeuten und nach außen — sehr gegen die Auffassung der Stalin’schen Kulturbürokratie — die Autorität der wirklich fähigen marxistischen Gelehrten und Künstler nur heben.

Im Jahre 1798, bei einer Diskussion über Verfassungsänderungen in Württemberg schrieb der junge Hegel: „Wenn eine Veränderung geschehen soll, so muß etwas verändert werden.“ Das trifft auf die gegenwärtige Situation genau zu; so kann man die wirklichen Lager voneinander unterscheiden. Denn seit dem XXII. Kongreß ist es bereits unmöglich geworden, der Kritik der Stalin’schen Zeit ganz aus dem Wege zu gehen. Sie ist allgemein geworden. Aber die einen sagen: das und das ist unrichtig gewesen, Wissenschaft und Kunst befinden sich aber bereits in neuem Aufschwung. Die anderen sagen: wir haben mit der Kritik der Vergangenheit begonnen, jetzt gilt es, auf Grund dieser fortlaufenden Kritik die ideellen und organisatorischen Grundlagen für einen künftigen Aufschwung erst zu schaffen. Es ist klar: die einen wollen so verändern, daß alles beim alten bleibe, bloß soll das Alte eine neue Aufschrift erhalten. Natürlich ist im zweiten Fall nicht gemeint, daß ein Reformwerk vollendet werden müsse, dessen Resultate erst nachher, nach seiner Vollendung, sichtbar werden können. Nein. Eine ehrliche Reformbewegung kann schon inmitten des Kampfes um die Grundlagen neue Ergebnisse in Wissenschaft und Kunst zeitigen. Es handelt sich aber um einen langwierigen, widerspruchsvollen Prozeß.

Lieber Herr Carocci, ich fühle, mein Brief ist unerträglich lang geworden, obwohl ich nur einen kleinen Teil von dem aussprach, was Ihre Fragen in mir angeregt haben. Entschuldigen Sie also sowohl die Länge wie das Fragmentarische.

Mit herzlichen Grüßen
Georg Lukács

Schön, aber kompliziert

Mein Hauptfehler war, daß ich die Sitten der Auslandspresse vergaß, wofür ich hart bestraft bin ... An diesem Beispiel habe ich mich noch einmal davon überzeugt, was mir mein schändlicher Leichtsinn eingebrockt hat ... Ich möchte nochmals erklären: ich habe einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen. Eine schwere Schuld habe ich mir aufgeladen ... Das wird mir eine Lehre für das ganze Leben sein. Ich möchte dem Schriftstellerkollektiv versichern, daß ich meinen Fehler restlos begreife und daß ich mich bemühen werde, ihn durch meine künftige Arbeit gutzumachen.

Jewgenij Jewtuschenko

Hier auf dem Plenum wurde ich ermahnt, die strengen und ernsten Worte Nikita Chruschtschews nicht in den Wind zu schlagen. Ich werde sie niemals vergessen. Ich werde weder diese ernsten Worte vergessen, noch auch die Ratschläge, die mir Nikita Chruschtschew erteilt hat. Er sagte: Arbeiten Sie! Diese Worte sind für mich ein Programm. Ich werde arbeiten, ich arbeite auch jetzt, denke über vieles nach und habe auf Grund dessen, was im Kreml und auf dem Plenum gesagt wurde, viel begriffen.

Andrej Wosnessenskij

Auf dem Plenum wurde strenge Kritik geübt an dem unrichtigen Verhalten und dem Leichtsinn von Jewgenij Jewtuschenko, Andrej Wosnessenskij und mir. Ich halte diese Kritik für gerecht. Vorigen Herbst gab ich in Moskau, im Schriftstellerverband, einem Korrespondenten der Arbeiteragentur (Polen) ein Interview ... Rechtfertigen kann ich meinen Leichtsinn nicht. Ich schäme mich, wenn ich daran denke ... Ich werde niemals die bei der Zusammenkunft im Kreml an mich gerichteten strengen, zugleich aber gütigen Worte Nikita Chruschtschews und seinen Rat vergessen: Arbeiten Sie! ... Mir wurde die Richtung meiner künftigen Arbeit klar, deren Ziel es ist, dem Volke, den Idealen des Kommunismus zu dienen. Ich schreibe Prosa. Nach Maßgabe meiner Kräfte und in aller Ehrlichkeit versuche ich, von dem Leben zu erzählen, das uns umgibt, einem komplizierten, aber schönen Leben.

Wassilij Aksionow

(Texte nach den Heften 6 und 7/63 der Moskauer Zeitschrift „Sowjetliteratur“)

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