FORVM, No. 95
November
1961

Stalin und die Alliierten

Rußland geriet unter Umständen in den Zweiten Weltkrieg, die nicht automatisch voraussehen ließen, daß es mit irgendeinem sensationellen diplomatischen oder politischen Erfolg daraus hervorgehen würde. Es hatte versucht, sich aus dem Krieg fernzuhalten, indem es einen zynischen Handel mit denen schloß, die ihn entfacht hatten — einen Handel, der in der Tat seinen Ausbruch beschleunigte und so gut wie sicher machte, einen Handel, der die Teilung der Beute mit dem Angreifer vorsah als Belohnung für die Zustimmung, die man dem Angriff gab. Dieser Handel ging böse aus; die Hoffnungen, die damit verbunden waren, erfüllten sich nicht; der Angreifer wandte sich selber gegen seinen Möchtegernkomplizen; Rußland selber wurde das Opfer der Aggression.

Daß es sich auf diese Weise 1941 plötzlich auf der gleichen Seite wie die westlichen Alliierten fand, war also gewiß nicht das Werk ihrer politischen Führer. Sie hatten nicht gewollt, daß es so kam. Sie hatten ihr Bestes getan, um diese Situation zu vermeiden.

Wenn man sich das ins Gedächtnis zurückruft und dann feststellt, daß Rußland aus dieser militärischen Auseinandersetzung mit dem Besitz von halb Europa hervorging, von den Gewinnen im Fernen Osten ganz zu schweigen, und wenn man daran denkt, daß dieses alles mit Zustimmung, wenn nicht mit dem Segen der westlichen Alliierten geschah, dann ist es nicht überraschend, daß die Menschen im Westen später bohrend und beharrlich die simple Frage stellten: Warum?

Die Ziele der sowjetischen Politik, mindestens auf dem europäischen Schauplatz, scheinen mir einfach und klar gewesen zu sein. Sie waren fast die gleichen wie zur Zeit des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes. Stalin wollte den Streifen Land in Osteuropa, den Hitler ihm im Jahre 1939 hingeworfen hatte, behalten. Außerdem wollte er noch alle die Dinge haben, die er 1940 von Hitler gefordert hatte: militärische und politische Kontrolle Finnlands, Rumäniens, Bulgariens und der Türkei; Einfluß auf dem ganzen Balkan und so fort. Nur waren es jetzt die Alliierten, nicht Hitler, von denen er diese Dinge forderte.

Als die Deutschen am 22. Juni 1941 Rußland angriffen, tat ich gerade in Berlin Dienst. Wir hatten Anzeichen dafür, daß etwas in dieser Richtung im Gange war; aber wir konnten natürlich keine Gewißheit erhalten, ehe nicht die Nachricht eintraf, daß es tatsächlich geschehen war. Die Meldungen rissen mich in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf. Zu erregt, um weiterzuschlafen, ging ich noch vor dem Frühstück in die Botschaft. Ich erinnere mich, wie ich auf die Landkarte schaute und bemerkte, daß die deutschen Truppen genau am gleichen Fluß, dem Njemen, ihren Vormarsch begannen wie im Jahre 1812 — fast am gleichen Tage — die Armee Napoleons. Die Tragweite und die möglichen Folgen dieser Entwicklung wirbelten mir im Kopf herum, als ich mich niedersetzte, um ein kleines Memorandum an den Leiter der Rußlandabteilung im State Department zu schreiben.

Für die Gedanken, die ich damals zum Ausdruck brachte, möchte ich nicht das Verdienst prophetischer Weitsicht in Anspruch nehmen. Es waren, glaube ich, Gedanken, die jedem Amerikaner kommen mußten, der längere Jahre in Rußland und Osteuropa zugebracht hatte. Hier stünden wir nun, schrieb ich, und was so lange Gegenstand unserer Spekulation gewesen, sei nun eingetreten. Mir sei klar, daß wir keine andere Wahl hätten, als Rußland materielle Hilfe zu leisten, um es instand zu setzen, sein Territorium zu verteidigen und einen deutschen Blitzsieg im Osten zu verhindern; ich würde hier aber der Hoffnung Ausdruck geben, daß wir uns niemals den russischen Plänen in den Gebieten Osteuropas jenseits der russischen Grenzen anschlössen.

Was ich bei der Niederschrift dieser Sätze nicht wußte, war, daß es bereits zu spät war. Eine Woche vorher hatte Churchill, der über die deutschen Angriffspläne auf Rußland informiert war, an Roosevelt telegraphiert, daß die Briten im Falle eines deutschen Angriffs „... natürlich jede Ermutigung und jede erdenkliche Hilfe, die wir erübrigen können, den Russen zur Verfügung stellen werden, nach dem Prinzip, daß Hitler der Feind ist, den wir schlagen müssen“.

Roosevelt hatte geantwortet, daß er „jede Erklärung des Premierministers, die Rußland als Verbündeten willkommen heißt“, sofort öffentlich unterstützen würde.

In diesen Erklärungen waren keinerlei Vorbehalte bezüglich der sowjetischen Ambitionen über die sowjetischen Grenzen hinaus enthalten.

Ich zitiere diese Äußerungen, weil sie mir darauf hinzudeuten scheinen, daß die Art der alliierten Reaktion auf Stalins Kriegsziele schon weitgehend feststand, als der deutsche Angriff begann. Es waren nicht so sehr die Entschlüsse der alliierten Staatsmänner nach Rußlands Eintritt in den Krieg, die bestimmend waren, als die Geistes- und Gemütsverfassung, mit der sie den deutschen Angriff auf Rußland im ersten Augenblick begrüßten.

Churchills Irrtum

Churchills Auffassung war — behalten wir das im Auge — nicht die einzig denkbare. Man hätte auch ebensogut zu Stalin sagen können: „Hör her, alter Junge, unser Gedächtnis ist genau so gut wie deines. Wir wissen sehr wohl, welchen Handel du in diesem Krieg machen wolltest. Wir sind uns deiner Gefühle gegen uns, die dich bei deinem Pakt mit Hitler leiteten, vollkommen bewußt. Deine Bemühungen, mit Hitler zusammenzuarbeiten, sind nun vollkommen danebengegangen, und das geht nur dich etwas an. Wenn du daran interessiert bist, von uns materielle und militärische Hilfe zu erhalten, geben wir dir genau soviel, wie wir für angemessen halten, geben sie dir so lange, wie es unseren Zwecken entspricht. Gefühle und andere Albernheiten wollen wir derweilen lassen. Du hast uns deine Ziele in Europa enthüllt; und wenn wir dir helfen, die deutschen Eindringlinge zu vertreiben, dann kannst du noch lange nicht erwarten, daß wir deine ehrgeizigen Pläne unterstützen, die über die Grenzen jenes Territoriums hinausgehen, das dir bis 1938 zugesprochen wurde.“

Um zu verstehen, warum diese Gedanken nicht ausgesprochen wurden, muß man sich vor allem an die ungeheure Anspannung und Furcht erinnern, unter denen die alliierten Staatsmänner damals lebten, vor allem Churchill. England kämpfte allein gegen eine geradezu ungeheuerliche Übermacht. Der Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Rußland war für die Engländer der erste Lichtstrahl in diesem Krieg. Unser eigenes Land half zwar England in mancherlei Weise, war aber militärisch noch nicht am Kriege beteiligt. Wäre es der Fall gewesen, hätte England Rußland wahrscheinlich nicht so schrecklich gebraucht; und es lag wohl daran, daß unsere Kritik an Churchills Reaktion zu dieser Zeit so zurückhaltend war. So wie die Dinge damals standen, glaubten die westlichen Staatsmänner, daß der Ausgang des Krieges vollkommen von der Bereitschaft und Fähigkeit Rußlands abhinge, dem deutschen Angriff zu widerstehen. Eine Haltung des Westens, die nicht ausdrücklich eine politische Sympathie für Rußland bekundete, fürchteten sie, würde vielleicht das russische Volk entmutigen — Rußlands Widerstand würde geschwächt werden; es könnte zu einer Kapitulation oder schnellen Vernichtung der russischen Armee kommen, ähnlich, wie man es in Frankreich erlebt hatte. Jedes Wort der Herzlichkeit und Ermutigung, das dazu beitragen konnte, einer solchen Entwicklung zu begegnen oder sie auch nur zu verzögern, mußte darum ausgesprochen werden. Schließlich vermutete ich, daß Roosevelt Sorge hatte, ein Hilfsprogramm für Rußland auf breitester Basis im amerikanischen Kongreß durchzubringen, wenn nicht eine Atmosphäre politischen Vertrauens mit der Sowjetregierung hergestellt und erhalten werden konnte.

Nicht alle diese Gründe waren vernünftig. Vor allem Churchills Bild von einem wachgerüttelten russischen Volk, das sich dem deutschen Eindringling heroisch entgegenwarf und nach der Sympathie und Kameradschaft der Alliierten in diesem gemeinsamen Kampf dürstete, war zum mindesten voreilig. Es war die Wiederholung des alten Irrtums, dem die Alliierten auch im Ersten Weltkrieg erlegen waren. Hunderttausende russischer Soldaten sollten freiwillig zu den Deutschen überlaufen und viele russische Dörfer sollten die Deutschen voller Hoffnung und Erleichterung empfangen, ehe das russische Volk im großen und ganzen begriff, daß der Feind, dem es an der Front ins Auge blickte, noch schrecklicher war als das Regime, das drohend hinter ihm stand. Selbst in den letzten Phasen des Krieges gab es Momente, in denen die russische Disziplin mindestens soviel von der Furcht im Rücken — vor der Kugel des Kommissars im Genick — wie von dem berechtigten Zorn auf die Gefahr von vorn abhing.

Immerhin waren die Gründe Churchills, Rußland als militärischen Verbündeten zu akzeptieren, natürlich und verständlich, wenn sie auch nicht mit dem übereinstimmten, was in Rußland wirklich vor sich ging. Das gleiche kann man nicht — ich wenigstens kann es nicht — von gewissen anderen Komponenten in der Beurteilung der Russen sagen, die während der Kriegsjahre in den alliierten Kanzleien im Schwange waren. Ich meine damit die unentschuldbare Ignoranz gegenüber der Natur des russischen Kommunismus, gegenüber der Geschichte seiner Diplomatie, den Vorgängen während der Säuberungsaktionen und dem, was in Polen und den baltischen Staaten vor sich gegangen war.

Ich meine damit auch Roosevelts offenkundige Überzeugung, daß Stalin wohl ein etwas schwieriger Geselle, im übrigen aber ein Mensch wie jeder andere sei; daß man in den vergangenen Jahren nur darum nicht mit ihm ausgekommen sei, weil es an der geeigneten Persönlichkeit gefehlt habe, die phantasiereich und vertrauensvoll genug gewesen sei, mit ihm richtig umzugehen; daß die arroganten Konservativen in den westlichen Hauptstädten ihn immer nur schroff abgewiesen hätten und daß seine ideologischen Vorurteile schmelzen würden und Rußlands Zusammenarbeit mit dem Westen leicht in die Wege geleitet werden könnte, wenn Stalin dem überzeugenden Charme einer Persönlichkeit wie Roosevelt ausgesetzt wäre. Für diese Annahme gab es keinerlei Grund. Sie war so kindisch, daß sie eines Staatsmannes von Roosevelts Format eigentlich unwürdig war.

Stalin wartete nicht lange, seinen neuen Partnern die Wünsche in bezug auf die Ausdehnung der russischen Herrschaft in Osteuropa und auf dem Balkan bekanntzugeben, die ihm Hitler teils erfüllt, teils verweigert hatte. Sie wurden dem britischen Außenminister Anthony Eden gegenüber offen ausgesprochen, als er Ende 1941 nach Moskau kam, nur sechs Monate nach Beginn des deutschen Angriffs. Es geschah bei dieser Gelegenheit noch ohne besondere Unnachgiebigkeit oder Schärfe.

Vor allem deutete noch nichts darauf hin, daß man auf eine Kaltstellung der polnischen Exilregierung aus war, die seit Kriegsbeginn in London amtierte. Im Gegenteil, fast unmittelbar nach dem deutschen Angriff hatte Stalin, offenbar besorgt darum, in diesem Moment keine mögliche Unterstützung gegen die rasch vorrückenden Deutschen unnötig aufs Spiel zu setzen, die Exilregierung anerkannt, geregelte diplomatische Beziehungen mit ihr aufgenommen und ein weitreichendes politisches Abkommen mit ihr geschlossen, das sie eindeutig als legale Regierung Polens nach dem Kriege anerkannte. Das Abkommen sah die Freilassung Hunderttausender von polnischen Staatsbürgern vor, die sich in Rußland in Gefängnissen befanden oder anderweitig festgehalten wurden, ferner die Aufstellung einer polnischen Armee auf sowjetischem Territorium, die an der Seite der Sowjets gegen die Deutschen kämpfen sollte.

Das Abkommen sagte allerdings nichts über das Problem der polnisch-sowjetischen Grenze aus. Dem Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung, General W. Sikorski, der kurz vor Eden in Moskau war, hatte Stalin angedeutet, daß Rußland erwarte, bei Kriegsende den größten Teil des Gebietes zurückzuerhalten, das ihm durch den Nichtangriffspakt mit Hitler 1939 zugefallen war.

Sikorski war der Erörterung dieses Themas ausgewichen, und man hatte nichts vereinbart; immerhin ließ die Tatsache, daß Stalin bereit war, die Angelegenheit mit Sikorski zu diskutieren und zu einer Art Kompromiß in dieser Sache zu kommen, auf die Bereitwilligkeit der sowjetischen Seite schließen, nach dem Kriege ein wirklich unabhängiges Polen in seinen alten Grenzen im Prinzip zu akzeptieren.

Als Eden im Dezember 1941 die gleichen sowjetischen Wünsche bezüglich der polnischen Grenze vorgetragen wurden, bat er um Bedenkzeit, um sich mit der amerikanischen Regierung und den britischen Dominions beraten zu können. Er wies den Vorschlag von Grenzänderungen jedoch nicht zurück, und Stalin muß das als klares Zeichen aufgefaßt haben, daß man seinen territorialen Ansprüchen schließlich doch irgendwie entsprechen würde.

Anfänglich scheinen London und Washington schockiert gewesen zu sein, daß man ihnen zumutete, Stalin die Früchte seines früheren Tauschgeschäftes mit den Deutschen zu garantieren. Aber dieser Widerstand dauerte nicht lange. Bereits im März 1942 war Churchill zu der Auffassung gelangt, daß man Stalin wenigstens hinsichtlich Ostpolen einigermaßen zufriedenstellen müsse. Er konnte sich allerdings noch nicht dazu bereit erklären, auch bezüglich der baltischen Staaten Konzessionen zu machen, die Stalin ebenfalls für sich beanspruchte.

Roosevelts Gleichgültigkeit

In Washington war Staatssekretär Cordell Hull entschieden gegen jede Art von Zugeständnis; und Roosevelt unterstützte ihn anfänglich. Roosevelts Einstellung entsprach der üblichen Haltung der Amerikaner in Kriegszeiten: wir treffen keine Entscheidungen in territorialen Fragen, solange gekämpft wird; wir konzentrieren uns ganz auf die völlige Niederwerfung des Feindes und überlassen politische Angelegenheiten der Friedenskonferenz. Aber man hat nicht den Eindruck — ich habe ihn wenigstens nicht —, daß Roosevelt irgendwelche wesentlichen Einwände gegen die Überlassung dieser Gebiete an Rußland gehabt oder daß ihn diese Frage überhaupt sehr interessiert hätte.

Man hat den Eindruck, daß es ihm ganz unwichtig schien, ob diese Gebiete nun polnisch oder russisch waren. Seine Sorge galt eher dem Umstand, daß sich unter seiner Wählerschaft eine nicht unbeträchtliche Gruppe polnischen und baltischen Ursprungs befand, ferner eine große Anzahl von Wählern, die mit den Polen sympathisierte, und er wollte auf jeden Fall vermeiden, daß diese Streitfrage ein Faktor der Innenpolitik wurde, der seine Stellung als oberster Führer des Landes im Kriege beeinträchtigte. So widersetzte er sich für den Augenblick einer Erörterung dieser Angelegenheit.

In der ersten Hälfte des Jahres 1942 verknäulte sich die Frage der künftigen Grenzen in Osteuropa immer mehr mit der Frage der Bildung einer zweiten Front. Stalins Forderung einer zweiten Front in Frankreich zur Verminderung des deutschen militärischen Drucks auf Rußland wurde immer heftiger und nachdrücklicher.

Als sich schließlich herausstellte, daß die Bildung einer zweiten Front zu einem frühen Zeitpunkt unmöglich war, und sich die Alliierten auf dem europäischen Kriegstheater weiterhin Monat für Monat mit der Rolle des Zuschauers begnügen mußten, während die russischen Armeen nahezu den ganzen Anprall von Hitlers riesiger Kriegsmaschine auszuhalten hatten, entstand bei den alliierten Staatsmännern — ich fürchte, ganz unvermeidlich und natürlich — ein tiefsitzendes Gefühl der Schuld und Unzulänglichkeit.

Wenn sie zu diesem Zeitpunkt auch noch zögerten, irgendwelche festen Versprechungen in dieser Richtung zu machen, so waren sie noch entschiedener dagegen, Stalin in diesem Augenblick so etwas Herbes und Entmutigendes wie ein deutliches „Nein“ entgegenzuhalten. Sie fürchteten schlimme Auswirkungen auf seine Bereitschaft, den Krieg fortzusetzen.

So kam es, daß die Alliierten immer mehr in eine Position gerieten, die einer Zustimmung zu Stalins territorialen Forderungen in Europa gleichkam. Sie gaben nicht nur ihre Zustimmung, sondern waren sogar die Inspiratoren dieser Entwicklung. Auf der Konferenz in Teheran, im November 1943, wurde Stalin von Churchill und Roosevelt ein Plan offeriert, der schließlich auch angenommen wurde: nämlich Polen einige hundert Meilen westwärts zu verlegen, die russischen Forderungen im Osten auf diese Weise zu befriedigen und Deutschland durch die Abtretung größerer Gebietsteile bis zur Oder an Polen die Rechnung zahlen zu lassen, auch wenn die Vertreibung einiger Millionen Deutscher aus diesen Gebieten dabei in Kauf genommen werden mußte.

Ich kann nur schwer begreifen — und konnte es schon damals nicht —, daß jemand so blind sein konnte, nicht zu erkennen, daß ein Polen mit so künstlichen Grenzen — Grenzen, die eine so erschütternde Umsiedlung der Bevölkerung notwendig: machten — in seiner Sicherheit unvermeidbar von den Russen abhängen würde. Polen in solche Grenzen hineinzuzwingen hieß, es mit Gewalt zu einem russischen Protektorat zu machen, ob seine Regierung nun kommunistisch war oder nicht.

Sieht man von Polen ab, folgte die Erfüllung von Stalins Aspirationen auf dem europäischen Schauplatz fast automatisch aus dem Verlauf der militärischen Operationen. Die westlichen Regierungen haben, soviel ich weiß, die Einverleibung der baltischen Staaten in die Sowjetunion nie offiziell sanktioniert; und wie die Dinge liefen, hatte Stalin es auch gar nicht nötig, auf einer Sanktionierung zu bestehen, da er am Ende die militärische Kontrolle über diese Gebiete besaß und nur sich selber zu befragen hatte, wie er darüber verfügen sollte. Ebenso verhielt es sich mit den Balkanländern, mit Ausnahme der Türkei.

Die mißverstandenen Deutschen

Abgesehen von der polnischen Frage war es der Verlauf der militärischen Operationen und nicht die eitle Bemühung der westlichen Regierungen, Stalin durch das Lippenbekenntnis hoher Ideale zu binden, was ihm Osteuropa in die Hände spielte. Und der einzige Weg, der den westlichen Regierungen offengestanden wäre, dieses zu verhindern, wäre entweder die Beendigung des Krieges auf einer andern Grundlage als derjenigen der bedingungslosen Kapitulation gewesen (denn bedingungslose Kapitulation hieß mit anderen Worten, daß man den Krieg bis zum Zusammentreffen der alliierten und russischen Armeen durchkämpfen mußte), oder die Errichtung einer erfolgreichen zweiten Front in Europa zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt, durch die sichergestellt war, daß sich die sowjetische und alliierte Armee weiter östlich trafen, als es schließlich der Fall war.

Diesem ganzen Komplex lag die Festlegung der westlichen Alliierten auf das Prinzip der bedingungslosen Kapitulation zugrunde. Es ist, glaube ich, müßig, Churchill oder Roosevelt die ausschließliche Verantwortung für diese Festlegung zuschreiben zu wollen. Soweit ich sehe, spielte sie in der Rechnung beider Regierungen eine Rolle. England hatte sich immerhin schon 1941 dazu verpflichtet, keinen Frieden ohne Rußland abzuschließen, und jeder, der überhaupt etwas von militärischen Koalitionen versteht, weiß auch, daß es für eine solche Koalition nichts Prekäreres gibt als die Zustimmung zu einer so delikaten Sache, wie ein Separatfrieden sie ist.

Wäre eine andere Lösung denkbar gewesen? Es ist richtig, daß es ohne Nutzen und Verstand gewesen wäre, einen Kompromiß mit Hitler zu suchen. Doch es gab in Deutschland nicht nur Hitler. Da war auch die nichtkommunistische deutsche Widerstandsbewegung. Sie setzte sich aus Männern zusammen, die sehr mutig und sehr einsam waren und die uns in ihren Empfindungen und Idealen erheblich näher standen als Hitler oder Stalin, so nahe, daß der Unterschied zwischen ihnen und uns bis zur Bedeutungslosigkeit verblaßte. Diesen Leuten gelang es unter großen persönlichen und politischen Gefahren, während des Krieges mit den Alliierten Kontakt aufzunehmen. Sie erhielten von alliierter Seite keine Ermutigung. Sie mußten ihren tragischen Versuch, Hitler am 20. Juli 1944 zu stürzen, nicht nur ohne jede alliierte Unterstützung unternehmen, sondern auch der Tatsache ins Auge sehen, daß ihnen die Alliierten weder im Augenblick noch in Zukunft Hilfe angedeihen lassen würden.

Roosevelt und Churchill hatten für die deutsche Widerstandsbewegung nichts übrig. Es ist sehr deprimierend, wie wenig sie die wahre Natur des Nationalsozialismus, seine kleinbürgerliche Grundlage, erkannten; wie überzeugt beide waren, immer noch gegen die preußischen Junker zu kämpfen und wie bedenklich falsch sie diese konservative Schicht überhaupt einschätzten; wie wenig sie sahen, daß es gerade die Söhne und Töchter dieser Leute waren, die im Bewußtsein der Schande, die Hitler über ihr Land gebracht hatte, zu Quellen des Mutes und des Idealismus inmitten einer verwüsteten Umwelt wurden.

Die nationalsozialistische Bewegung war in vieler Beziehung eine furchtbare Angelegenheit: eine der entsetzlichsten Manifestationen der modernen Geschichte, die uns zeigt, zu welcher Verblendung Menschen sich hinreißen lassen und welcher abgrundtiefen Bosheit sie fähig sind, wenn sie hemmungslos in ihren Methoden sind und ihre Seelen einer „totalen Lösung“ verkaufen. Aber diese Bewegung war nicht nur ein Akt Gottes, ein Naturereignis, ein böses Mirakel. Sie war eine menschliche Tragödie, an der ein großer Teil der Deutschen ebenso litt wie die anderen.

Wären die westlichen Staatsmänner imstande gewesen, Deutschland gerechter und leidenschaftsloser zu beurteilen, hätten sie sich von ihren Vorurteilen aus dem Ersten Weltkrieg freigemacht, die Regierenden von den Regierten unterschieden, die wahren Ursachen des Krieges erforscht und das Maß von Verantwortung erkannt, das den westlichen Demokratien selber am Aufstieg des Nazismus zufiel; hätten sie sich schließlich erinnert, daß nur auf Stärke und Hoffnung des deutschen Volkes (ebenso wie auf die der anderen) nach dem Kriege eine menschenwürdige Zukunft Europas aufgebaut werden konnte — wären sie imstande gewesen, das alles zu begreifen, dann hätten sie die Beziehungen Rußlands zu Deutschland im Kriege besser verstanden und ein ausgewogeneres Verhältnis zu diesen beiden konfliktreichen und problematischen Mächten gefunden, das die bittersten politischen Folgen des Krieges vielleicht vermieden oder abgeschwächt hätte.

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